Helfried Stockhofe

Kuckucksgeschwister


Скачать книгу

deswegen eingelegt hat. Ich lausche, doch außer den Autos, einigen aufgeregten Stimmen und dem Schlagen der Kirchturmuhr ist nichts zu hören. Ein paar Mauersegler noch, die sich in ihrem Trupp aufgeregt zukreischen. „Ich würde gerne weiterlesen!“, sagt sie mit fester Stimme. Alle rumpeln zurück auf ihre Plätze.

      In der Schwebe alles in der Schwebe Wir Zuhörer*innen spüren nicht mehr die Schwere unserer schwitzenden Körper Mein Schweiß ist egal Wird sie sterben Kann doch nicht sein bei diesem Buchtitel Die Lippen rosenrot Zähne makellos viele Kronen Das Mädchen mit neuer Spange Trompeten mit Spange Zähne schneeweiß und Lippen rosenrot Wer ist der Bär und wer der Zwerg Gibt es den Zwerg oder den Bär daheim Schneeweißchen sie und das Trompetenmädchen das Rosenrot Jetzt blass knapp am Tod vorbei Blasen geht nicht wegen der Spange und der Schwäche Hat sie der Zwerg krank gemacht Das Schneeweißchen wird sie retten Jede Schriftstellerin rettet ihr krankes Geschwistermädchen Nur Frauen im Buch und im Saal Frauenbuch Sie schauen mir in den Nacken schweißnasser Haaransatz Sie zückt ihr Taschentuch das Mädchen fiebert immer noch Wir alle fiebern Atemnot Ruhig bleiben zurücklehnen ausstrecken Nackte Beine ausgestreckt noch in den Schuhen drin Graublaue Schuhe wie die Augen mit mittelhohen Stöckeln auch makellos nicht übertrieben eher anständig Sportliche Waden Knie mit Gesichtern nicht spitz Rock wird runtergeschoben Was für eine Farbe soll das sein Frau mit Unterleib abgeschnitten von der Schulbank Die weiße Bluse mit perlmuttglänzenden Knöpfen ältlicher Look doch Brüste nicht spitz wie damals in den Fünfzigern und Sechzigern auch eher unauffällig Kinn auch nicht spitz Nase auch nicht und ein rundliches Gesicht wie bei ihrem Mädchen das wohl überleben wird vielleicht mit einer Lähmung hoffentlich nur der Beine Zeigt sie deshalb die nackten Beine?

      Das hat sie gut gemacht! Der zweite Teil war sehr emotional. Sie hielt ihn kurz und es blieb spannend. Fast erschöpft applaudieren ihr die lesebegeisterten Kleinstadtfrauen. Die Autorin bedankt sich und hat noch geschickte Werbeworte parat, denn sie will ihre Bücher loswerden. Die Bibliotheksfrau bedankt sich auch, sogar im Namen des Bürgermeisters, bei der Schriftstellerin und den Zuhörerinnen und dem Zuhörer – wobei sie demonstrativ auf mich schaut und natürlich ein allgemeines Grinsen auslöst. Scheinbar ist es lustig, dass ich der einzige Mann bin. Dann beginnt der Run auf die Bücher, die auf einem extra Tisch gestapelt sind. Dahinter schaut lächelnd eine Auszubildende von der größten Buchhandlung der Stadt hervor. Sie kassiert und übergibt das Buch. Die Frauen stellen sich damit nun tatsächlich in eine Schlange vor die Autorin und lassen sich ihre Bücher signieren. Meist mit einem netten Satz dazu, mit einer persönlichen Widmung. Ich kaufe mir auch ein Buch von der Auszubildenden und gerate in die Schlange hinein. Da ich überhaupt nicht weiß, warum mir die Autorin schöne Worte ins Buch schreiben sollte, überlege ich auszubrechen, doch ich will als einziger Mann nicht auch noch weiter auffallen. Vorne angekommen schaue ich die Gute nur freundlich lächelnd an. Natürlich ist sie älter als es mir das Plakat in meiner Führerscheinstelle weismachen wollte, was nicht bedeutet, dass sie weniger attraktiv wäre, eher im Gegenteil. Sie nimmt kurz ihre rote Brille ab, öffnet ihre rosenroten Lippen und haucht ein „Schön“ in die Luft, „Schön, dass Sie den Weg in die Lesung gefunden haben!“ Ich merke, dass auch ich mir etwas Rot zulege, weil ich nichts zu erwidern weiß. Ist das eine Bemerkung, die sie an den einzigen Mann richtet, an den einzigen Signierungsverweigerer, an den Zeitungsschreiber oder ist es etwas ganz anderes? Ich bilde mir ein, als klänge es so, als würde sie mich kennen. Und ihr Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber verdammt, warum habe ich mich angestellt? Ich krame, weil mir nichts anderes einfällt, aus meiner Jackentasche ein Visitenkärtchen hervor und sage: „Damit Sie wissen, in welcher Zeitung der Artikel erscheint.“ Sie nickt und lächelt, ich wünsche „noch einen schönen Tag“ und denke nicht dran, dass von dem Tag nicht mehr viel übrig ist. Ich hätte einen schönen Abend wünschen sollen.

      2

       Eigentlich hatte Vera ein Einzelzimmer vorbestellt, doch man gab ihr ein Doppelzimmer zum selben Preis. Die Lesereisen waren ihr vertraglich vorgeschrieben und sie hatte schon genügend Erfahrung damit, aber sie konnte sich nur schwer an das Alleinsein in fremder Umgebung gewöhnen. Ein Doppelbett erinnerte sie zudem schmerzlich daran, dass sie zum Single mutiert war, seitdem sie ihr Partner verlassen hatte. Daheim war das zweite Bett auch leer und, genau wie hier im Hotel, sorgfältig aufgebettet, so als wollte man allzeit bereit sein für einen Überraschungsgast, der versehentlich ins Zimmer stolpert oder den man sich unterwegs aufgelesen hat. Natürlich bereute sie es, zusammen mit ihrem Partner ein Doppelbett gekauft zu haben. Werfen die anderen Verlassenen ihr Doppelbett auf den Müll? Zersägen ist nur ein schaler Witz, der dennoch regelmäßig als heißer Tipp empfohlen wird. Verzichten die Verlassenen, die Witwen, Geschiedenen, Getrenntlebenden oder Getrenntschlafenden auf die zweite Bettdecke, legen sie sich breit in die Mitte oder schön brav auf die gewohnte Seite und schauen sehnsüchtig oder wütend hinüber auf das leere Laken? Streichen sie sanft drüber oder hauen sie vor Wut eine Delle hinein? Für Vera stellte sich hier im Hotel diese Frage nicht: Die zweite Aufbettung ließ sie unberührt.

      Sie hätte auch nach der Lesung heimfahren können, denn der Termin war an diesem Samstag schon um 18 Uhr beendet gewesen, doch was sollte sie daheim? Seit Wochen hatte sie keine Zeile mehr zu Papier gebracht, respektive in den Computer. Auch ihre Schwester empfahl ihr, den Sonntag und den Montag als Urlaubstage zu genießen, sich mal abzulenken, die kleine Stadt oder die grandiose Natur kennen zu lernen. Vielleicht brächte ihr die Provinz auch ganz besondere Inspirationen. Vermutlich hatte sie in Gedanken dazu gefügt „… oder einen Mann“. Vera schmunzelte. Im ganzen Lesesaal hatte sie nur einen einzigen Mann entdeckt. Und der war nicht freiwillig gekommen. Doch er saß in der ersten Reihe und sie hatte ihn immer wieder im Blick. Besonders freundlich erschien er ihr nicht. Das war schade, denn sie fand ihn äußerlich eigentlich ganz passabel, vielleicht ein wenig zu altmodisch gekleidet. Sie schloss daraus, dem Geschlechtsrollenklischee diesmal nicht abgeneigt, dass er auch alleinlebend seine Tage verbringen würde, denn eine Frau hätte ihn vermutlich für die Lesung einer Autorin, die fast nur weibliche Zuhörerinnen anzieht, etwas moderner ausgestattet. Doch womöglich war es auch umgekehrt: Die Ehefrau empfahl ihm die Kleidung gerade wegen der vielen Frauen, die im Saal auf ihn schauen würden. Man weiß ja nie – und frau auch nicht.

      Das Hotel hatte eine ausgezeichnete Küche. Vera saß trotz vieler Gäste allein am Tisch, an einem Zweiertisch, dem kleinsten Tisch im Restaurant. „Katzentisch“ nennt man ihn, wenn er bei Mehrfamilienessen der Absonderung der Kinder dient und dies den Kleinen als Privileg verkauft wird. Immerhin hatte ihr Tisch dieselbe Höhe wie die anderen Tische. Und es gab mehrere dieser Katzentische. Auch in einer eher ländlichen Gegend schien es den Trend zum Singleleben zu geben. Und wenn schon dem Single beim Essen ein Kontakt zugedacht wurde, dann kein Gruppenkontakt, allenfalls ein Kontakt zu einem zweiten Single. Es war auffallend, dass alle Paare in diesem Gastraum an Vierertischen saßen und alle Zweiertische einem einzelnen Gast vorbehalten blieben. Drei Katzentische hatte sie im Blick und an allen dreien saßen Männer. Sie war zumindest in diesem Raum die einzige Singlefrau. Ein wenig bekam sie Mitleid mit den männlichen Leidensgenossen, die an einem Samstagabend alleine zum Essen in ein Restaurant gehen mussten. Sie machten ihr nicht den Eindruck, als ob sie das genießen würden. Vielleicht waren es aber auch Männer, die hier im Hotel wohnten und, wie sie, übers Wochenende irgendwelchen beruflichen Verpflichtungen nachkamen. Nach dem Essen würden sie ihre Ehefrauen daheim anrufen und betonen, wie schwer es ihnen fiele, schon wieder woanders nächtigen zu müssen.

      Sie telefonierte nach dem Essen mit ihrer Schwester Fritzi, die sich trotz der lärmenden Kinder im Hintergrund Zeit nahm. Ausführlich sprachen sie über die Lesung. Es war Vera immer peinlich, wenn sie in ihrem neuesten Buch jeweils an derselben Textstelle außer Fassung geriet. Da half es auch nicht, dass die Schwester dies als besonders authentisch pries und ihr riet, das immer beizubehalten. Fritzi fragte nach der Zusammensetzung im Publikum und machte sich lustig darüber, dass sich Vera hauptsächlich an den einzigen Mann erinnerte. Natürlich wollte sie auch wissen, wie sie untergebracht sei und was sie an den nächsten Tagen vorhätte. Sie solle es nicht zu toll treiben, riet sie ihr spaßeshalber. Vera kannte ihre Schwester und wusste, dass sie es immer gut meinte. Manchmal dachte sie: Die hat gut reden, mit einem Mann und drei Kindern! Für die Schwestern war die Familienplanung abgeschlossen, bei der einen, der jüngeren, weil drei Kinder ihr genug erschienen, bei der anderen aus Altersgründen: Vera war 15 Jahre älter als ihre Schwester