von diesem Alptraum befreien konnte. Sie richtete sich auf und sprang aus dem Bett. Erleichtert schnaufte sie durch: Es war wirklich nur ein Traum gewesen! Dennoch schaute sie sich auf dem Weg zu ihrem Auto vorsichtig um, ob ihr der Pharmavertreter vielleicht folgen würde. Dann fuhr sie erleichtert hinaus zu dem kleinen See, den ihr das schmale Büchlein als Ausflugstipp empfohlen hatte. Sie genoss die Ruhe und die romantische, liebliche Umgebung des touristisch noch recht unerschlossenen Kleinods. Als sie sich jedoch dem Café näherte, wurde ihr bewusst, dass die Einheimischen wochenends nicht nur gerne ins Restaurant gingen, sondern dass sie sich zu Scharen auch in den Cafés trafen. Viele waren bis zum dazugehörigen Parkplatz gefahren und hatten sich auf die Terrasse gesetzt, um den See aus angenehmer Distanz zu bewundern und den wirklich guten Kuchen zu essen, der dort angeboten wurde. Sie bekam den letzten freien Tisch, doch sie blieb nicht lange allein. Von einem der Nachbartische kam ein Mann zu ihr hin. Er trug in der einen Hand eine Aktentasche, in der anderen einen Teller, auf dem neben dem Kuchen auch eine Tasse Cappuccino hin- und herrutschte.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte er grinsend. Es war der Pharmavertreter, der sogleich, ohne eine Antwort abzuwarten, Platz nahm. „Schön, dass wir uns wiedersehen!“, sagte er. „Und noch dazu in einer so herrlichen Umgebung.“ Ihr muss wohl der Mund offengestanden haben, denn er bot nun doch einen Rückzieher an: „Oder störe ich Sie? Das will ich natürlich nicht! Die Leute an meinem Tisch waren mir nicht besonders sympathisch“, erläuterte er. „Was nicht heißt, dass ich mich im umgekehrten Fall nicht zu Ihnen hergesetzt hätte. Ach, was red ich? Ich red wieder zu viel. Ich weiß. Entschuldigung!“ Er machte aber keine Anstalten wieder aufzustehen. „Nicht, dass Sie glauben, ich würde Sie verfolgen, ich bin immer hier im Café, wenn ich hier in der Gegend bin und das bin ich oft, wie Sie sicher kombiniert haben.“
Sie nötigte sich ein kleines Lächeln ab und blieb nur im Ton höflich: „Ja bitte, nehmen Sie Platz. Es darf sich jeder hinsetzen, wo er will. Meinetwegen.“
„Störe ich Sie wirklich nicht? Ich bin manchmal aufdringlich, sagen die andern. Ist halt mein Beruf, wissen Sie.“ Dabei zeigte er auf seine Aktentasche. „Immer dabei. Muss noch was nachschauen.“
„Ich will Sie nicht aufhalten“, sagte Vera kühl.
„Ach, was! Ich bin doch froh, auch mal Gesellschaft zu haben. Ganz privat. Nicht ständig von Termin zu Termin zu hetzen und meine Sachen anzupreisen. Was machen Sie eigentlich?“
„Ich genieße ein paar Stunden die Ruhe hier.“
„Ach, Sie kommen wohl aus einer größeren Stadt. Da ist es freilich sehr schön bei uns. Ich stamme von hier, wissen Sie. Und außerdem: Das alles gehört zu meinem Einzugsgebiet.“ Dabei machte er eine ausladende Bewegung mit beiden Armen. Die erschien selbst ihm ein wenig peinlich. Er räusperte sich. „Nein, ich meinte, was Sie beruflich machen. Oder bin ich da zu neugierig? Auch so eine Berufskrankheit. Ich verwickle die Ärzte, die ich aufsuche, immer in ein privates Gespräch. Nach ihrem Beruf frage ich die Ärzte natürlich nicht.“ Der Pharmavertreter lachte. „Den weiß ich ja.“ Er machte eine Pause, um eine Antwort abzuwarten.
Sie zögerte etwas, weil sie wusste, wohin ehrliche Antworten führen können. Sie hatte keine Lust, sich mit dem Menschen über ihre Bücher oder ihre Fernseharbeit zu unterhalten. „Nun, jetzt bin ich privat hier und da rede ich nicht gerne über meinen Beruf.“
„Ach so. Muss wohl etwas Besonderes sein. Wahrscheinlich eine Psychiaterin, wenn ich sie mir so anschaue. Ich rieche Ärzte zehn Meilen gegen den Wind. Dann wollen Sie natürlich nicht von mir bequatscht werden. Keine Angst, ich bin ab jetzt auch nur noch privat hier.“ Und wieder legte er ein Grinsen auf, nippte einmal an seinem Cappuccino und stach sich ein Stück seines Kuchens ab. „Ganz privat“, bekräftigte er.
Sie drehte ihr Gesicht Richtung See und konnte es sich nicht verkneifen, mit den Augen zu rollen. Sie rutschte auch ihren Stuhl noch ein Stück in diese Richtung, lehnte sich zurück, legte ihren Kopf nach hinten und schloss die Augen. Er verstummte endlich und widmete sich weiter seiner Käsesahnetorte. Leise murmelte er: „Tut mir leid, wollte nicht stören.“ Sie erwiderte nichts.
Am Abend rief ihre Mutter an und fragte nach der Lesung des Vortags. Für ihre privaten Begegnungen interessierte sie sich scheinbar nicht. Sie ließ sich genau den Ablauf der Nachmittagslesung erzählen, war auch neugierig, ob jemand von der Presse da gewesen wäre. Eine gute Presse sei wichtig, meinte sie. Ja, das wussten beide.
3
Samstagsvorlesung: Die Frau auf der Trompete
Für die jeden ersten Samstagnachmittag des Monats von unserer engagierten Stadtbibliothekarin Frau Lieselotte Brunner ins Leben gerufenen Reihe von Buchlesungen konnte diesmal eine überaus prominente Schriftstellerin gewonnen werden: Frau Vera Weiß-Riebendorf stellte ihr Buch „Die Frau auf der Trompete“ vor. Die mit vielen Auszeichnungen dekorierte Autorin von Romanen, die man gemeinhin der Frauenliteratur zuordnet, füllt ansonsten große Theatersäle und dass sie den Weg in die Provinz und in unsere kleine Stadtbücherei fand, ist sicher der Bekanntschaft von Frau Brunner mit der Verlegerin der Schriftstellerin zu danken. Der Lesesaal war deswegen auch gut besucht mit erwartungsvollen literaturbegeisterten Frauen unseres Städtchens und der Umgebung. Und vorneweg gesagt: Keine blieb enttäuscht zurück!
Die Autorin las einzelne Abschnitte ihres spannenden neuen Romans mit sehr angenehmer Stimme und verstand es, immer die richtigen Akzente zu setzen. Sie trat ohne jegliche Starallüren auf und begeisterte durch ihre sympathische Ausstrahlung und vor allem durch ihr großes emotionales Engagement, das auch die Zuhörerschaft mitriss. Es konnte wieder einmal belegt werden, dass nicht nur in der Lyrik die Art des Lesen eines Textes den Inhalt erklärt oder vertieft, sondern dass dies auch für die Belletristik gelten kann. Man darf sich auch fragen, ob die Protagonistin des Romans nicht sogar autobiographische Züge trägt und sie deshalb besonders intensiv vorgestellt und wahrgenommen werden konnte. Die wechselnden Erzählperspektiven ergaben eine fesselnde Melange aus Distanz und Nähe und der auktoriale Erzähler – oder hier die Erzählerin, denn gendergerechte Formulierungen scheinen der Autorin wichtig zu sein - verriet einiges aus dem Innenleben der Romanfiguren, das dem Zuhörer – und diesmal bleibe ich bei der männlichen Formulierung – einen fast zu intimen Vergleich mit der Autorin gestattete. Das Gesamtbild der Lesung, von der äußeren Erscheinung der Vortragenden über den Stil der Lesung bis hin zu den ausgewählten Handlungsinhalten ihres Buchs, war also sehr authentisch und traf voll den Geschmack des Publikums - nicht nur des weiblichen, darf ich als einziger Mann hinzufügen. Der euphorische Beifall für Frau Weiß-Riebendorf war dafür ein guter Beleg und ein herzlicher Dank an die Autorin.
Ob es sich bei der Frau auf der Trompete tatsächlich um Literatur nur für Frauen handelt, kann der Berichterstatter noch nicht beurteilen. Darüber wird in einer Rezension alsbald zu schreiben sein. Die vorhandenen Exemplare des neuen Werks waren im Nu vergriffen und konnten von den Interessentinnen mit Widmungen der Autorin stolz nach Hause getragen und sicher schnell verschlungen werden. Ein besonderer Dank für diese gelungene Veranstaltung gebührt aber auch nochmals unserer geschätzten Frau Brunner, die wieder einmal ihr gutes Händchen für die richtige Wahl einer Autorin für unsere beliebten Nachmittagslesungen bewiesen hat.
Der Zeitungsbericht machte sofort die Runde: Die Stadtbibliothekarin Lies war zufrieden, besonders auch mit der wirklich schnellen Berichterstattung. Sie schickte den Artikel an die Verlegerin der Schriftstellerin mit herzlichen Grüßen. Diese wiederum informierte ihre engste Freundin Milena, die noch viel gespannter darauf wartete als die Verlegerin. Milena informierte ihre Tochter Vera, dass bereits in der Montagsausgabe der Lokalzeitung ein Bericht stünde. Vera Weiß-Riebendorf hätte diesen Hinweis ihrer Mutter nicht gebraucht. Überhaupt hasste sie es, wenn ihre Verlegerin die Neugier ihrer Mutter immer so bediente. Und immer noch glaubte sie, dass sie