Ute Dombrowski

Verlorene Fassung


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erkundigte sich nach ihrem Befinden, niemand sagte oder fragte irgendetwas. Sie verabschiedeten sich und Jewgeni genoss die Ruhe in seiner Zelle. Er sollte noch schlafen, deshalb stellte ihm nur jemand sein Abendessen auf den Tisch.

      Leo hingegen erzählte dem Wärter, dass er jetzt den Schutz von einem richtig guten Mann genießen würde.

      „Hey, da fasst mich keiner mehr an. Ich muss denen gleich sagen, dass es jetzt knallt, wenn sie mir ans Leder wollen.“

      „Herr Krummhorst, ruhen Sie sich noch aus mit der Rippe. Provozieren Sie Ihre Mithäftlinge nicht, dann brauchen Sie auch keinen Beschützer.“

      Damit ging die Zellentür zu und Leo konnte sich seinen Racheplänen hingeben. Er malte sich aus, wie er stundenlang mit Jewgeni im Auto saß, belegte Brötchen aß, Bier trank und jeden Schritt von diesem Eric beobachten würde. Sie würden abwechselnd schlafen und dem Mann auf Schritt und Tritt folgen. Wenn der Typ irgendwohin laufen würde, könnte Leo ihm zu Fuß folgen, denn ihn kannte Eric ja nicht. Jewgeni durfte das nicht, er sah viel zu auffällig aus. Da würde der Verräter gleich Lunte riechen.

      Wenn sie ihn dann allein sahen, vielleicht abends, wenn er am Rhein spazieren ging, würden sie ihn in die Zange nehmen. Er stellte sich vor, wie Jewgeni Eric, der um sein Leben bettelte, festhielt und Leo zunickte. Er würde ihm ein Messer überreichen, das im Mondlicht glänzte. Leo würde genau zuschauen, wie die Klinge durch den weißen Hals des Opfers glitt, als wäre er aus Butter.

      Leo kicherte vor sich hin und rieb sich die Hände. Er wollte sich genau ansehen, wie das Blut heraussickerte oder spritzte. Jewgeni würde Eric dann auf den Boden sacken lassen, der Fußweg wäre rot.

      Und dann würden sie ihn an den Beinen und den Schultern packen - dabei würde der Kopf schlaff herunterhängen - und ihn in den Rhein werfen. Der Fluss würde die Leiche mitnehmen und vielleicht nie wieder hergeben. Danach würden sie sich die Hand geben. Leo kicherte grunzend. Die blutüberströmte Hand. Sabber lief ihm aus dem linken Mundwinkel und er wischte ihn mit dem Ärmel ab.

      Wenn es so ein gutes Gefühl war wie bei den Schlampen damals, dann würde er sich mal wieder eine von ihnen suchen. Er war nie erwischt worden. Noch immer gab es sechs verschwundene junge Frauen, die auch in den nächsten hundert Jahren niemand finden würde. Sie hatten sich gewehrt und das war das Beste daran. Er hatte die Angst gesehen, die nackte Angst, genauso nackt waren ihre Seelen in diesem Moment gewesen. Er hatte mit dem Messer ihren Hals gestreichelt und dann den Augenblick genossen, in dem der Schnitt der rasiermesserscharfen Klinge in das zarte Fleisch eindrang.

      Er war nie erwischt worden, weil ihm niemand so etwas Großes zutraute. Alle hielten ihn für den geborenen Verlierer. Dabei traute er sich ALLES! Außer­dem war er schlau. Er hatte zuerst im Wald ein Loch gegraben, dann die Mädchen betäubt und direkt neben dem Grab getötet. Es gab keine Spuren, weil er immer Handschuhe getragen hatte, und er sparte sich die Schlepperei und das Putzen, was nun wirklich schlau war.

      Um die Leute von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen, hatte er nur ab und zu gestohlen, denn er war arbeitslos, hatte aber keine Lust, zum Amt zu gehen. Er kam auch anderweitig an Geld. Viel brauchte er nicht zum Leben. Auch als Kind hatte er nie viel gehabt, weil seine Mutter das ganze Geld in Schnaps investierte. Er war also den Mangel gewohnt. Als er ihr die Kehle durchgeschnitten hatte, war er fünfzehn. Alle dachten, dass es einer ihrer Saufkumpane gewesen war.

      Leo war noch drei Jahre im Heim gewesen und hatte dann seine Laufbahn als Kleinkrimineller begonnen, bis ihm dieses Mädchen über den Weg gelaufen war. Es hatte ihn getroffen wie der Blitz: Liebe. Biggi war das erste Mädchen gewesen, welches solche krassen Gefühle in ihm ausgelöst hatte. Er konnte nicht mehr schlafen, nichts essen und trinken.

      Er lief ihr hinterher wie ein Dackel, doch sie wollte nichts von dem dürren, zerzausten Teenager wissen. Irgendwann, als sie betrunken von einer Party kam, hatte er ihr an der Rheinpromenade aufgelauert. Sie war auf ihn zu getorkelt, in der rechten Hand eine Flasche Wodka.

      Als sie ihn sah, begann sie zu lachen. Er fragte, ob er helfen könne, aber sie hatte ihn ausgelacht und weggestoßen. Da war er weggerannt und hatte einen Tag später sein erstes Loch gebuddelt.

      Als sie am nächsten Abend wieder zu einer Party wollte, hatte er angeboten, sie zu fahren. Er hatte ein Auto aufgebrochen und war statt zu der Party mit ihr in den Wald gefahren. Weil sie bereits angetrunken war, konnte sie nicht mehr schnell genug reagieren, als er ihr die Kehle zudrückte, bis sie bewusstlos war.

      Er hatte sie neben das Loch gelegt und ihre Bluse aufgeknöpft, um ihre Brüste zu betrachten, aber das interessierte ihn nicht so sehr wie diese kleine Kuhle am Hals. Er hatte den Duft dieser Stelle eingesogen wie eine Droge. Das Messer hatte alles rot gefärbt.

      Biggis warmes Blut roch metallisch und vertrieb den Duft, der ihn so fasziniert hatte. Es war aus und vorbei. Er hatte den leblosen Körper in das Loch geschoben und es mit Erde gefüllt. Danach war er wie berauscht. Er hatte sie mit den alten Lederhandschuhen angefasst, aber auch nur so viel wie sein musste.

      Als der Hund eines Jägers ihre Leiche vor knapp zwei Jahren ausgebuddelt hatte, gab es keine Spuren mehr. So stand es damals zumindest in der Zeitung.

      9

      „Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen“, sagte Merle Kessert in arrogantem Tonfall.

      Sie stand am Schreibtisch, hatte Akten sortiert und war gerade dabei, die Briefe über das Ableben des Arztes an die Patienten in Briefumschläge zu packen.

      „Sie hatten eine Affäre mit Ihrem Chef, das hat uns eine Patientin gesagt, also lassen wir die Spielchen.“

      Susanne hatte sich über den Schreibtisch gebeugt und sah Merle in die Augen. Sie wusste, dass die Frau log, weil ihr linkes Augenlid sichtbar zuckte.

      „Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.“

      Robin fragte freundlich: „Können Sie uns sagen, wo Sie in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch waren?“

      „Was denken Sie denn? Nach einem anstrengenden Arbeitstag war ich zuhause im Bett.“

      „Kann das jemand bezeugen?“

      „Nein, natürlich nicht. Ich bin Single. Und mein Kater kann nun mal nicht sprechen.“

      Merle hatte die Arme vor der Brust verschränkt und signalisierte deutlich ihre Ablehnung.

      „Ohne meinen Anwalt sage ich nichts.“

      „Wenn Sie meinen, dann müssen Sie uns jetzt auf das Präsidium begleiten.“

      „Bin ich verhaftet?“

      Merle war verunsichert.

      „Im Moment noch nicht“, sagte Robin wütend, „aber Sie machen sich gerade verdächtig!“

      „Sie wissen ja gar nicht, was für ein Arschloch Fabian war!“, platzte es aus Merle heraus, während sie sich auf den Stuhl fallen ließ. „Er hat Frauen immer nur ausgenutzt. Und es war ihm egal, ob Patientin, Ehefrau oder Mitarbeiterin.“

      „In welcher Form ausgenutzt?“

      „Wenn ich Ihnen alles sage, kann ich dann nach Hause?“

      Susanne sah Robin an, dann nickte sie. Sie befürchtete, dass die Liste der Verdächtigen wachsen würde, je mehr sie über Fabian Tschötz in Erfahrung brachten.

      Merle legte die Briefe beiseite und es schien, als hätte sie auch ihren Widerstand weggeschoben.

      „Es begann sehr romantisch. Ich hatte meine erste Arbeitswoche hinter mir, da kam er mit einer Rose und erklärte, dass er noch nie solch eine gute Mitarbeiterin hatte wie mich. Ich fühlte mich geschmeichelt, ließ mich auch zum Essen einladen und fühlte mich wie eine Königin, als er mir sagte, dass er seine Frau verlassen würde, um mit mir zu leben. Das hat er sicher jeder Affäre versprochen. Ich war so blöd, das zu glauben, denn bald danach hatten wir Sex, wann immer es passte. Und hinterher hat er mir noch mehr Arbeit auf den Tisch geknallt und ist zur nächsten Frau gefahren. Ich bin ihm mal gefolgt.