Karl Kautsky

Thomas More und seine Utopie


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geben, erklärt man auch, es habe immer Sozialisten gegeben und werde immer welche geben, natürlich, ohne daß sie je ihrem Ziele näher kämen, und sucht uns zum Beweis aus dem Altertum eine Reihe von Sozialisten vorzuführen, von Lykurg und Pythagoras bis zu Plato, den Gracchen, Catilina, Christus, seinen Aposteln und Jüngern.

      Es fällt uns nicht ein, leugnen zu wollen, daß mit der Entwicklung der Warenproduktion sich bereits im Altertum eine Klasse besitzloser Freier entwickelte, die von den Römern Proletarier genannt wurden. Auch zeigten sich bereits im Zusammenhang damit Bestrebungen nach Aufhebung oder Milderung mancher sozialen Ungleichheiten. Aber das antike Proletariat war ein ganz anderes als das moderne. Es ist dies schon so oft dargetan worden, daß wir es nicht nötig haben, hier näher darauf einzugehen. Genug, der Unterschied zwischen dem modernen und dem antiken Proletarier ist der zwischen dem unentbehrlichen Arbeiter, auf dem die ganze Kultur beruht, und dem lästigen schmarotzenden Bummler.

      Ebenso verschieden wie das antike Proletariat vom modernen, ist der antike sogenannte »Sozialismus« vom modernen. Die Verschiedenheit der beiden nachzuweisen, würde eine eigene Abhandlung erfordern, welche die ganze antike Geschichte umfassen müßte, da die verschiedenen antiken »sozialistischen« Bestrebungen, die, oberflächlich betrachtet, als Äußerungsformen desselben Prinzips erscheinen, in Wirklichkeit durch die verschiedensten Ursachen veranlaßt worden sind und den verschiedensten Tendenzen dienten.

      Die herkömmliche Geschichtsschreibung glaubt im Rom des Julius Cäsar und im Athen des Demosthenes dasselbe Proletariat zu finden, wie im Paris Napoleon III. und im Berlin des kleinen Belagerungszustandes. In Wirklichkeit ist aber nicht einmal das moderne Proletariat in der kurzen Spanne von kaum 400 Jahren, in der es besteht, stets dasselbe gewesen, sondern hat in dieser Zeit gewaltige Veränderungen durchgemacht, entsprechend der gleichzeitigen ökonomischen Entwicklung. Das Proletariat von heute zeigt sich bereits in wesentlichen Punkten verschieden von dem von 1848, wie viel mehr denn von dem der Zeit der »Utopia«! Das Kapital stand damals erst am Anfang seiner ökonomischen Revolution; der Feudalismus übte noch eine ausgedehnte Macht auf das wirtschaftliche Leben der Masse des Volkes. Noch nahmen die von den neuen Interessen bedingten neuen Ideen das Gewand der dem Feudalismus entsprossenen Gedankenwelt an, und diese wirkte in traditionellen Illusionen fort, nachdem die ihr entsprechende materielle Unterlage schon in ihren Grundfesten erschüttert war.

      Dem eigentümlichen Charakter dieser Zeit mußte auch der damalige Sozialismus entsprechen. More war ein Kind seiner Zeit; er konnte über deren Schranken nicht hinaus; aber es zeugt von der Genialität seines Scharfsinns, vielleicht zum Teil auch seines Instinktes, daß er in der Gesellschaft seiner Zeit bereits die Probleme sah, welche sie in ihrem Schoße trug.

      Die Grundlagen seines Sozialismus sind moderne, jedoch von so viel Unmodernem überwuchert, daß es oft ungemein schwer ist, sie bloßzulegen. Reaktionär wird der Sozialismus Mores freilich nirgends in seiner Tendenz; dieser war weit davon entfernt, gleich manchen »Sozialreformern« des neunzehnten Jahrhunderts, in der Rückkehr zu feudalen Zuständen das Heil der Welt zu erblicken. Aber vielfach standen ihm zur Lösung der Probleme, die er vorfand, nur die Mittel der Feudalzeit zu Gebote. Da mußte er sich denn oft gar sonderbar drehen und wenden, um sie seinen modernen Zwecken anzupassen.

      Wer daher ohne weiteres an den Moreschen Kommunismus herantritt, dem werden manche seiner Ausführungen verschroben, bizarr, launenhaft erscheinen, die in Wirklichkeit auf einer gründlichen und wohldurchdachten Erkenntnis der Bedürfnisse und Mittel seiner Zeit beruhen.

      Wie jeder Sozialist, kann auch More nur aus seiner Zeit verstanden werden. Diese ist aber schwieriger zu verstehen, als die irgend eines späteren Sozialisten, da sie von der unseren verschiedener ist. Ihr Verständnis setzt die Bekanntschaft voraus nicht nur mit den Anfängen des Kapitalismus, sondern auch mit den Ausgängen des Feudalismus, vor allem ein Verständnis der gewaltigen Rolle, welche die Kirche auf der einen Seite, der Welthandel auf der anderen Seite damals spielten. Auch More ist durch beide auf das tiefste beeinflußt worden, und es hieße leeres Stroh dreschen oder sich mit allgemeinen Phrasen an der Oberfläche der Dinge bewegen, wenn wir versuchen wollten, ein Bild der Persönlichkeit und der Schriften des ersten Sozialisten zu entwerfen, ohne die historische Situation, deren Produkt er war, wenigstens in einigen großen Zügen gezeichnet zu haben. Dies ist die Aufgabe des ersten Abschnitts unserer Schrift.

      Erstes Kapitel. Die Anfänge des Kapitalismus und des modernen Staates.

      1. Der Feudalismus.

      »Die Wissenschaften blühn, die Geister regen sich, es ist eine Lust, zu leben«, rief Hutten von seiner Zeit. Und er hatte recht. Für einen kampffrohen Geist, wie den seinen, war es eine Lust zu leben in einem Jahrhundert, das die überkommenen Verhältnisse, die ererbten Vorurteile kühn umstieß, die träge gesellschaftliche Entwicklung in Fluß brachte und den Horizont der europäischen Gesellschaft mit einem Male unendlich erweiterte, das neue Klassen schuf, neue Ideen, neue Kämpfe entfesselte.

      Als »Ritter vom Geist« hatte Hutten alle Ursache, sich seiner Zeit zu freuen. Als Mitglied der Ritterschaft durfte er sie mit weniger günstigen Augen betrachten. Seine Klasse war damals auf der Seite der Unterliegenden: sein Schicksal war das ihre. Sie hatte nur die Wahl, zu verkommen oder sich zu verkaufen, im Dienste eines Fürsten die Existenz zu finden, die der Grund und Boden versagte.

      Die Signatur des sechzehnten Jahrhunderts ist der Todeskampf des Feudalismus gegen den aufkommenden Kapitalismus. Es trägt das Gepräge beider Produktionsweisen, bietet ein wunderliches Gemisch beider dar.

      Die Grundlage des Feudalismus war die bäuerliche und handwerksmäßige Produktion im Rahmen der Markgenossenschaft.

      Ein oder mehrere Dörfer bildeten in der Regel eine Markgenossenschaft mit gemeinsamem Eigentum von Wald, Weide und Wasser, ursprünglich auch von Ackerland. Innerhalb dieser Genossenschaften ging der ganze mittelalterliche Produktionsprozeß vor sich. Der gemeinsame Grundbesitz sowie die in Privatbesitz übergegangenen Äcker und Gärten lieferten die Lebensmittel, derer man bedurfte, Produkte des Feldbaus, der Viehzucht, der Jagd und Fischerei, und die Rohprodukte, die innerhalb der patriarchalischen Bauernfamilie oder von den Handwerkern des Dorfes verarbeitet wurden, Holz, Wolle usw. Die private wie die öffentliche Tätigkeit innerhalb dieser Gemeinwesen ging auf Lieferung von Gebrauchsgegenständen für den Selbstgebrauch, entweder des Produzenten oder seiner Familie, oder seiner Genossenschaft, oder endlich, unter Umständen, des Feudalherrn.

      Eine Markgenossenschaft war ein wirtschaftlicher Organismus, der sich in der Regel völlig selbst genügte und fast gar keinen wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Außenwelt hatte.

      Die Folge davon war eine merkwürdige Exklusivität. Wer nicht Markgenosse war, galt als Fremder, als rechtlos oder minderberechtigt, selbst wenn er sich in der Gemeinde niederließ, solange er nicht ein markberechtigtes Grundeigentum erwarb. Und die gesamte Außenwelt außerhalb der Mark war Ausland. Es bildete sich in den Köpfen der Markgenossen einerseits aristokratischer Dünkel gegen die Zuzügler von außen, die kein Grundeigentum zu erwerben imstande waren, andererseits aber jene lokale Beschränktheit, jene Kirchturms- und Kantönlipolitik, die in abgelegenen und ökonomisch zurückgebliebenen Gegenden heute noch zu finden ist. Auf diesen Grundlagen beruhten der Partikularismus und die ständische Absonderung, die dem feudalen Mittelalter eigentümlich waren.

      Der wirtschaftliche Zusammenhang des feudalen Staates war unter diesen Umständen ein äußerst loser. Rasch, wie sich die Reiche bildeten, zerfielen sie wieder. Nicht einmal die nationale Sprache war ein erhebliches Bindemittel, da die wirtschaftliche Abgeschlossenheit der Markgenossenschaften die Erhaltung und Bildung von Dialekten begünstigte.

      Die einzige starke Organisation, die über den Markgenossenschaften stand, war die universale, katholische Kirche mit ihrer universalen Sprache, der lateinischen, und ihrem universalen Grundbesitz. Sie war es, die die ganze Masse der kleinen, selbstgenügsamen Produktionsorganismen des Abendlandes zusammenhielt.

      Die Macht des Staatsoberhauptes, des Königs, war ebenso gering, als der Zusammenhang des Staates locker war. Aus dem Staate selbst konnte das Königtum nur geringe Kraft schöpfen, es zog sie, wie damals jede andere gesellschaftliche Macht, aus seinem Grundbesitz. Je größer