Benjamin Stutz

Die Laternenwald-Expedition


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ihrer Überraschung war der Stolleneingang nur einen Steinwurf entfernt und das Tor – stand offen. Rasch hob Jasmin die andere Hand vor das Mobilgerät, um gerade genug Licht durchzulassen, damit sie etwas sehen konnte. Der wütende Wind fegte nun kräftig über die Baumwipfel und der Regen schien sich dem aufbrausenden Tosen nach seinem Höhepunkt zu nähern.

      Mit zügigen Schritten machte Jasmin einen kleinen Bogen und trat dann vorsichtig von der Seite her an den Rand des Toreingangs heran. Die schaurigen Echos des heulenden Windes wurden bis tief in den Berg hineingesogen. Jasmin spreizte ihre Finger rund um das Telefon, um ein bisschen mehr Licht hindurchzulassen. Spinnweben tanzten an der gewölbten Decke und es roch modrig wie in einem Sumpf.

      Auf einmal hörte Jasmin ein Geräusch aus dem Tunnelinneren, das sie nicht zuordnen konnte. Es hörte sich an wie ein Knurren oder Brummen. Dann sah sie das bläuliche Licht in einiger Entfernung erneut aufflackern. Zuerst war es nur ein kleiner Punkt, doch schon begann es, sich rasend schnell auf sie zuzubewegen. Jasmin schreckte zurück, stolperte aus dem Tunneleingang und hechtete kopfüber in den dichten Wald. Klitschnass und schwer atmend spähte sie durch die Zweige eines Strauchs und hörte mit Entsetzen, wie das brummende Geräusch lauter wurde. Die blauen Strahlen erhellten nun den ganzen Bereich vor dem Tunnel, und eine Sekunde später kam die Schnauze eines großen Fahrzeugs zum Vorschein. Jasmin konnte nur vage erkennen, dass es sich um einen Militärjeep handelte, der geradewegs auf die breite Straße, die zur Stadt hinunterführte, zuraste. Ein weiteres Gefährt kam herausgeschossen und dann noch eines. Danach kamen große gepanzerte Fahrzeuge und Lastwagen, die mit allen möglichen Rohren und Militärausstattung beladen waren, durch den Torbogen gebraust.

      Jasmin traute ihren Augen nicht. Ungläubig starrte sie die immer länger werdende Fahrzeugkarawane an. Nach geschlagenen zehn Minuten war das Spektakel endlich vorbei. Der letzte Militärjeep legte einen kurzen Stopp vor dem Tor ein, das sich automatisch schloss, dann fuhr das Fahrzeug von dannen. Nun war es wieder fast stockdunkel.

      Von weither konnte Jasmin nun das Aufheulen mehrerer Sirenen wahrnehmen. Sie war sich sicher, dass der Lärm vom Militärkonvoi stammte. Wo sie wohl alle so eilig hinwollten um diese Zeit?

      Panik mischte sich mit Jasmins ohnehin schon zermürbender Angst. Ihr wurde übel. Was war hier los? War das alles ein Zufall? Der Traum, die Stimme und jetzt ein ganzer Militärtrupp, der um halb drei Uhr morgens aus einem augenscheinlich lange unbenutzten Bergstollen herausgeschossen kam. Sie musste von hier verschwinden. Was auch immer das alles zu bedeuten hatte, und ob es zwischen dem Traum und den letzten Geschehnissen eine Verbindung gab, sei dahingestellt – sie musste in ihre Wohnung zurück, wo sie ungestört mit ihrer Mutter telefonieren konnte. Ihre Kleider und Schuhe waren unterdessen komplett vom nicht versiegen wollenden Regen durchtränkt.

      So leise es ging, schlich sie aus ihrem Versteck. Mit den Händen hielt sie das Smartphone immer noch fest umklammert. Sie stand vor dem nun geschlossenen Gittertor und war bereits auf dem Weg zurück zur Weggabelung, als sie sich noch einmal umwandte.

      Da war etwas. Eine glühende Stelle – ein bläulicher Schein, der klar und deutlich im Inneren des Tunnelschachts aufloderte wie eine Wunderkerze –keine zehn Schritte jenseits der Gitterstäbe. Jasmin hatte das Gefühl, als würde ihr Herz augenblicklich stehenbleiben. Sie konnte sich nicht bewegen. Was auch immer da kommen mochte, diesmal war es zu spät, um sich zu verstecken. Jasmin verharrte wie angewurzelt an Ort und Stelle, während die kristallblaue Lichtkugel mit einem raschelnden Geräusch und etwa eineinhalb Meter über dem Boden schwebend auf das Sperrgitter zugeglitten kam.

      Zuerst dachte Jasmin, es wäre der Lichtkegel einer Taschenlampe, doch als sie blinzelte und genauer hinsah, erkannte sie, dass da gar niemand war, der sie hätte tragen können. Die glühende Sphäre glitt gleichmäßig und ohne Widerstand durch das Gitter hindurch und auf den geteerten Weg heraus. Dann machte sie etwa einen Meter vor Jasmin Halt und eine undefinierbare Stimme, die aus allen Richtungen zugleich zu kommen schien, erklang: »ERKLIMME DEN BERG«.

      Die strahlende Kugel verweilte noch einen Moment bei ihr, dann erlosch sie und Jasmin fand sich wieder allein in der düsteren Nacht. Seltsamerweise waren die Panik und die Angst, die sie noch vor einigen Augenblicken verspürt hatte, komplett verraucht. Tiefer Frieden breitete sich in ihrem Inneren aus. War sie nun verrückt geworden?

      Ganze fünf Minuten blieb sie wie angewurzelt im Dunkeln stehen und lauschte dem Geräusch der großen Wassertropfen, die sich im Astwerk der hohen Bäume gesammelt hatten und nun in unregelmäßigen Abständen auf die Straße klatschten. Das Gewitter war vorüber. Ein Blick auf ihr Smartphone verriet Jasmin, dass es drei Uhr morgens war. Ungewöhnliche, golden schimmernde Strahlen bahnten sich nun einen Weg durch die sich auflösenden Wolken bis auf die Dächer der Millionenmetropole hinab. Durchnässt wie sie war, verwirrt und ziemlich müde, machte sich Jasmin auf den Weg zurück in die Stadt. Im Hauptkreis Sannomiya, wo ihre Wohnung lag, war es ruhig geworden. Nur das widerhallende Echo unzähliger Sirenen war aus weiter Entfernung zu vernehmen. Jasmin hatte keine Energie mehr übrig, um über das seltsame Wetterphänomen nachzugrübeln, das schon eine ganze Weile lang für Schlagzeilen sorgte und die nächtliche Stadt seit Tagen in mysteriöses Dämmerlicht tauchte. Sie bog ein letztes Mal rechts ab und stand dann wieder vor ihrem Wohnkomplex. Sie nahm den Lift in den achten Stock, schloss die Wohnungstür auf, ließ sich aufs Bett fallen und schlief sofort ein.

      Als Jasmin wieder aufwachte, schienen bereits heiße Mittagssonnenstrahlen durch das Fenster auf ihr schlaftrunkenes Antlitz. Sie hatte verschlafen! Hastig zog sie ihr Smartphone aus der Hosentasche, doch der Bildschirm wollte nicht aufleuchten. Sie hatte es, als sie in den Morgenstunden nach Hause gekommen war, vergessen aufzuladen. Wie sollte sie nun mit Masayuki Kontakt aufnehmen? Er war vielleicht bereits auf dem Weg nach Shizuoka. Sie entschied sich, zuerst kurz zu duschen und das Telefon in der Zwischenzeit wiederzubeleben. Um wacher zu werden, zog sie die Vorhänge im Zimmer auf, woraufhin blendende weißgoldene Lichtstrahlen in ihren Schlafraum fluteten.

      Das Strahlen war ungewöhnlich hell, viel heller sogar als während der letzten Wochen und es schmerzte in ihren Augen. Von der kurzen Nacht benommen und von der Lichtflut überfordert, riss sie die Vorhänge wieder zu und begab sich in das recht dürftig eingerichtete Badezimmer. Während der erfrischenden Dusche dachte sie über die Geschehnisse der letzten Nacht nach. »Nun sei bereit … erklimme den Berg …« Ja, sie würde heute vielleicht einen Berg besteigen, aber ob das etwas miteinander zu tun hatte? Und wenn ja, inwiefern? Sie war sich sicher, sich die schwebende Sphäre vor dem Tunnel nicht eingebildet zu haben und auch, dass die Stimme absolut real gewesen war, obschon sie bestimmt keinem Menschen gehörte. Sie wusch die Pflegespülung aus ihrem langen Haar, schloss den Hahn und trocknete ihren schlanken Körper rasch mit einem Handtuch ab. Zurück aus dem Badezimmer prüfte Jasmin die Ladung des Akkus ihres Mobiltelefons; naja, es würde genügen, um Masayuki kurz Bescheid zu geben, dass sie sich verspäten würde. Als sie seine Nummer wählte, nahm dieser sofort ab.

      »Hey du! Und – schon im Zug Richtung Shizuoka?«, fragte er mit gespieltem Spott.

      Jasmin war gerade dabei, sich Socken über ihre Füße zu stülpen. »Hallo Masa. Weißt du was – ich habe verschlafen«, gab Jasmin in bitterem Tonfall zu.

      Masayuki lachte herzhaft auf. »Das habe ich mir gedacht. Ich versuche dich schon seit acht Uhr zu erreichen, und jetzt ist es zwölf«, sagte er ohne angeschlagen zu klingen. »Dafür hatte ich Zeit, ein paar Sandwiches zu machen und drei, vier Bierchen habe ich auch noch aufgetrieben.«

      Jasmin schämte sich, dass sie ihren Freund so lange hatte warten lassen. »Ich wäre jetzt bereit, falls du noch gehen möchtest«, bemerkte sie kleinlaut.

      »Das Zimmer in der Herberge ist nach wie vor reserviert. Es hält uns nichts davon ab, die paar Stunden, die wir versäumt haben, heute Abend nachzuholen«, drang Masayukis kosende Stimme durch die Lautsprecher und Jasmins Herz machte einen Hüpfer.

      »Okay – ich mach mich sofort auf den Weg. In zwanzig Minuten bin ich auf dem Bahnhof, dann bin ich um – 15 Uhr in Shizuoka.«

      »Na, dann los!«, spornte Masayuki seine Freundin an.

      Jasmin kramte ihre Siebensachen zusammen und stopfte diese, ohne viel Federlesens, in einen großen Rucksack.