Benjamin Stutz

Die Laternenwald-Expedition


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muss dir etwas gestehen«, begann Jasmin mit ernster Stimme.

      »Was – hast du geträumt, dass dir deine Arbeit gekündigt wurde?«, warf Masayuki zynisch ein.

      »Nein – natürlich nicht. Es war – eine Art Albtraum, oder sowas Ähnliches.«

      Masayuki schwieg, also fuhr sie fort: »Ich stand in der Dunkelheit und wusste nicht, wo ich war. Ich fühlte mich nicht fremd oder so. Ich war einfach nur da – und, da gab es ein Licht in der Ferne; ein blaues Licht. Also bin ich darauf zugegangen.« Eine Pause trat ein. Jasmin brauchte Luft. »Warte bitte kurz. Ich muss mal verschnaufen«, röchelte sie. Masayuki blieb stehen, war aber immer noch dem Berg zugewandt.

      »Jasmin«, sagte er nach einer Weile. »War das Licht … war es ein Fluss?«

      Jasmins Keuchen beruhigte sich langsam und ging wieder in ein unregelmäßiges Atmen über. Sie war in die Hocke gegangen und hob nun langsam den Kopf. Sie konnte nicht fassen, was ihr Freund da eben von sich gegeben hatte. Konnte es denn sein? Hatte er womöglich denselben Traum gehabt wie sie? Masayuki zitterte ein wenig. Er schob seine linke Hand vor sein Gesicht, mit der anderen setzte er seinen Rucksack ab. Jasmin konnte nicht erkennen, was er tat, aber sie verspürte plötzlich eine unbeschreibliche Nähe zu ihm, wie sie es noch nie für einen Menschen empfunden hatte. Sie trat auf ihn zu, umarmte ihn von hinten und legte behutsam den Kopf auf seinen Nacken.

      »Da waren meine kleine Schwester und meine Eltern. Ich dachte, es wäre bloß ein blöder Traum«, stammelte Masayuki mit völlig aufgelöster Stimme. Jasmin streichelte ihm zärtlich über den Rücken. »Dann bin ich schweißgebadet aufgewacht und konnte die ganze Nacht kein Auge mehr zu tun. Naja«, Masayuki schnäuzte sich die Nase, »wenigstens sind wir jetzt zusammen. Ich will dich nie mehr gehenlassen – ich möchte, dass du bei mir bleibst – für immer.«

      »Das möchte ich auch, Masa, ich auch.«

      Tief in ihrem Inneren spürten beide das Ausmaß an Bedeutung ihrer Träume, und dass diese gravierende Folgen für ihre Schicksale haben würden, auch wenn sie das Ganze zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht richtig einordnen konnten. Für eine Weile schwiegen sie in tiefer Verbundenheit, dann nahm Jasmin Masayukis Hand in ihre und gestärkt durch ihren verbindenden Händedruck stapften sie gemächlich auf dem Geröllpfad weiter. Jasmins Uhr zufolge war es fast halb sechs Uhr nachmittags. Der Himmel strahlte heller denn je. Die kleine Unterkunft, in der Masayuki ein Zimmer gebucht hatte, erreichten sie nach weiteren anstrengenden zwanzig Minuten, in denen sie sich durch ausgedehnte Geröllfelder und steile Abhänge gearbeitet hatten. Die Herberge stellte sich als eine hölzerne Hütte heraus, mit einer kleinen Terrasse, auf der drei Kunststofftischchen mit Stühlen standen. Eines der Pärchen, das mit ihnen im selben Bus angereist war, hatte sich auf den Stühlen niedergelassen. Sie trugen Sonnenbrillen und deuteten auf den Himmel, wobei sie sich auf Spanisch oder Portugiesisch verständigten.

      Ob sie mit den Brillen wohl sehen können, was da oben vor sich geht?, fragte sich Jasmin, die sich etwas ärgerte, dass sie ihre eigene zuhause liegen gelassen hatte. Zwei weitere hochgewachsene Personen, die beide Kleider im Camouflage-Look trugen, standen im Türrahmen der Herberge und unterhielten sich mit jemandem, den Jasmin nicht sehen konnte.

      »Mikael McLane haben Sie gesagt? Sind sie Amerikaner?«, krächzte eine raue Frauenstimme jenseits der Eingangstür. »Bitte hier entlang.«

      Masayuki trat nun voraus in den Eingangsbereich des Gasthauses, in dem das englischsprechende Paar verschwunden war. Die Herberge war das einzige Gebäude weit und breit und von spitzen Felsen und schütteren Wiesenflächen umgeben. Nach gut zwei Minuten kündigte das Geräusch von Schritten auf ächzendem Holz an, dass jemand die alte Wendeltreppe, die in die Diele mündete, herunterkam. Eine uralte Frau in Pantoffeln und mit grau verfilztem Haarknoten tauchte vor ihnen auf. Auch sie hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt, die ihr halbes Gesicht verdeckte und sie wie ein Wesen von einem anderen Stern aussehen ließ. Sie lächelte ihnen zu und sagte mit knorriger Stimme: »Das ist aber ein hübsches Mädchen.«

      Masayuki erwiderte ihr Lächeln. An derartige Bemerkungen über Jasmins westliches Aussehen waren die beiden gewöhnt. »Wir haben für heute Nacht ein Zimmer gebucht.«

      Die alte Frau verbeugte sich, soweit es ihr krummer Rücken billigte und wies sie mit einer Geste in den schmalen, hölzernen Korridor ein. Sie zogen die Schuhe aus, verstauten diese in einem Schuhregal an der Wand und folgten der Greisin die unter der Last knarzende Holztreppe hinauf. Jasmin blickte sich um und bemerkte mehrere alte Zimmertüren aus Holz, von denen eine einen Spaltbreit offenstand. Plötzlich hörte sie eine leise, knurrende Stimme sagen: »Lailac, sei still! Nein, das sind sie nicht.«

      Ein braunes Auge starrte Jasmin an, welches umsäumt war von dunklem Fell. Jasmin erschrak, wich zurück und wäre schier in Masa geprallt.

      »Was ist los?«, wollte dieser sofort wissen.

      »Ich – ach nichts. Vergiss es«, gab sie zurück und machte eine nachdenkliche Miene. Sie war sich ziemlich sicher, was sie gesehen hatte, war ein Hundewesen gewesen – aber diese waren sehr selten und die Wahrscheinlichkeit ausgerechnet auf dem Fuji-san einem über den Weg zu laufen, war äußerst klein. Doch es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn schon öffnete die alte Gastwirtin eine Holztür zu ihrer Rechten und verkündete: »Das ist Ihr Zimmer für heute Nacht. Wenn Sie etwas brauchen, ich bin im Erdgeschoß, erstes Zimmer links. Frühstück wird von sechs bis halb neun serviert. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

      Nachdem die alte Frau die Tür hinter sich ins Schloss hatte fallen lassen und die beiden Reisegäste sich versichert hatten, dass die Wirtin, den die Wände durchdringenden Lauten zufolge wieder im Erdgeschoß angekommen war, ließen sich Jasmin und Masayuki auf das hölzerne Bett plumpsen, das mitleiderregend aufquietschte. Masayuki schob sich über Jasmins Brust und fixierte ihre Hände fest über ihrem flauschigen Haar. Er küsste sie mit lang gehegter Leidenschaft. Dann legte er ein Ohr auf ihre Brust und lauschte für eine Weile ihrem Herzschlag.

      »Komm, lass uns auf den Berggipfel hochsteigen. Vielleicht wird es heute Abend wieder einmal richtig dunkel und wir können die Sterne bewundern«, schlug Masayuki auf einmal vor und begann, Jasmin ohne Vorwarnung am Bauch zu kitzeln.

      Jasmin lachte auf und versuchte, Masayukis hinterhältige Kitzelattacke abzuwehren. Eigentlich fühlte sie sich nicht danach, gleich wieder aufzubrechen, aber als Masayuki ihr die Hand hinstreckte, packte sie diese und ließ sich von ihm hochziehen.

      »Ich will wissen, was uns da oben erwartet«, unterstrich er sein Vorhaben und machte Anstalten, Jasmin zu küssen.

      Diese ließ sich in seine kräftigen Arme gleiten, doch wich sie seinen zum Kuss geformten Lippen flink aus und gab ihm als Rache für die Kitzelattacke nur einen flüchtigen Schmatzer auf die Wange. Als die beiden wieder nach draußen traten, war das Pärchen auf der Terrasse verschwunden. Sie beschritten den steinernen Wanderpfad, der sich schlängelnd zum Gipfel emporwand. Es war nach wie vor ungewöhnlich hell und warm. Masayuki interpretierte die auffällige Wärme als Zeichen, dass sie bald am Krater des Vulkans ankommen mussten.

      Das kann doch nicht sein, dachte Jasmin mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengrube. Der Berg Fuji war ein inaktiver Vulkan und konnte daher keinen Einfluss auf die Temperatur in der Umgebung ausüben. Das goldene Licht, welches das Himmelszelt über die Landschaft um das Bergmassiv herum verschüttete, war unterdessen so stechend hell geworden, dass keine Schatten mehr zu erkennen waren. Auch von der genialen Aussicht, von der Masayuki monatelang geschwärmt hatte, konnten sie so gut wie gar nichts ausmachen. Von weiter Ferne schallte das unverkennbare Geräusch von Sirenen zu ihnen hoch – und diesmal waren es keine Warnlaute von Fahrzeugen. Es waren Katastrophensirenen aus den Städten der Umgebung, die normalerweise dann zu hören waren, wenn ein Tsunami bevorstand.

      »Hörst du die Lautsprecher?«, bemerkte Masayuki beunruhigt. »Ich glaube, sie sagen, dass man im Haus bleiben soll.«

      »Ja, das höre ich auch. Aber es hat doch gar kein Erdbeben gegeben«, stellte Jasmin verwirrt fest.

      »Wahrscheinlich ist es wegen der Sonnenflares, oder was auch immer das da oben für