Benjamin Stutz

Die Laternenwald-Expedition


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das tat momentan nichts zur Sache. Er hatte gerade Semesterferien und nie viel übrig fürs Aufwachen, wenn Kochen oder die Gemüseernte abseits des Dorfes auf der Tagesordnung standen. Wenn es aber darum ging, neue Weltabschnitte zu erkunden oder durch die geschwärzten Gassen Kaels zu ziehen, konnte er problemlos mehrere Tage ohne Schlaf auskommen. Loyd studierte Exploration: das Fach der Fächer, die Tugend der Neuzeit – das ultimative Abenteuer … Loyd warf sich abermals auf die andere Bettseite und schmatzte laut. Es war kurzum die beste Zeit seines Lebens, denn er tat derzeit genau das, wovon er schon immer geträumt hatte. Man könnte den Schwerpunkt des Explorationstudiums kurz als das Erkunden des äußeren Laternen- und Sternenwalds beschreiben, jener Regionen außerhalb der viereinhalb Präfekturen, von denen man sagte, sie würden sich in alle Richtungen in die Unendlichkeit erstrecken.

      Diesen abenteuerlichen und mysteriösen Aspekt mochte Loyd besonders an seiner namhaften Ausbildung. Oft träumte er davon, neue, unberührte Gebiete auszukundschaften, die unbekannten Wesen dort zu studieren und zu benennen, und vielleicht sogar irgendwann, falls sich das Schicksal zu seinen Gunsten wenden sollte, eine Lösung für das berüchtigte Unlicht zu finden. Loyd war, schon seit er klein war, an Artefakten der alten Welt interessiert gewesen und buddelte, seit er von seinem Onkel in Lichterloh einen Metalldetektor zu seinem fünfzehnten Geburtstag bekommen hatte, leidenschaftlich gerne nach metallischen Gegenständen wie antiken Münzen, Stromartefakten, und anderen historischen Altertümern. Ohne das ungestüme Engagement, das er seither in sein Hobby gesteckt hatte, hätte Loyd sich das Studium nie leisten können, denn seine Eltern waren einfache Bauern hier in Hildenberge, die kaum Lichtbit besaßen.

      Doch dann änderte sich alles: Vor zwei Jahren wurde Loyd, nachdem er der archäologischen Abteilung der HHF seine wichtigsten, historischen Funde rund um Hildenberge vorgelegt hatte, vom Prorektor der Hochschule persönlich in einen Studiengang eingeladen. Damals konnte er sein Glück kaum fassen, als ihm im Aufnahmegespräch mitgeteilt wurde, ihm würde ein nahezu kostenfreies, vierjähriges Explorationsstudium offeriert werden. Mit viel Glück, Aufwand und Unterstützung seiner Eltern, hatte er die Hürden bis zum Studienantritt überwunden und war nun seit etwas mehr als zwei Jahren stolzer Student und Schalträger der Explorationsakademie der HHF. Es konnte nicht mehr besser kommen …

      Ein Poltern war zu hören, und diesmal schreckte Loyd gänzlich aus seinem selbstgefälligen Tagtraum hoch. Es klopfte abermals laut an der Zimmertür. Loyd hob den Kopf und spähte verärgert und mit zugekniffenen Augen durch den finsteren Raum. Wer konnte es wagen, ihn aus seinem wohlverdienten Schlummer zu reißen?

      »Was ist denn los, ey?«, rief Loyd mit rauer Stimme in die schwarzblaue Atmosphäre hinein, die das schwache, gebrochene Licht durch das Eis vor den Fenstern versprühte.

      Eine dumpfe Mädchenstimme antwortete: »Mach die Tür auf. Ich habe von einem Professor Ankerbelly eine Lichtmail bekommen, glaube aber, dass sie für dich ist. Und Mann, du wirst es nicht glauben – Schneesturzalarm! Wir sind komplett eingeschneit.«

      Bei diesen Worten weiteten sich Loyds Augen schlagartig. Er sprang vom Bett, zog sich eine dicke Jacke über die Schultern und riss die Zimmertür auf. Vor ihm stand Keli, seine jüngere Schwester. Bis auf die Haarfarbe sahen sich die Geschwister nicht besonders ähnlich: Keli war einen Kopf kleiner, hatte buschiges, glänzend schwarzes Haar, ein rundliches Gesicht und große, dunkle, gutmütige Augen. Vor ein paar Tagen war sie dreizehn geworden. Sie strahlte Loyd an und streckte ihm ihre Handflächen entgegen. Eine eisblaue Lichtkugel schwebte darauf, von der ein Geräusch wie raschelnde Blätter ausging.

      »Hey, was soll das? Warum hast du meine Nachricht empfangen? Gib sie sofort her«, fuhr Loyd seine Schwester an.

      Loyd wedelte mit seiner vierfingrigen linken Hand über Kelis Handflächen, wobei die Sphäre auf die seinen überging und er sich die Botschaft ans Ohr hielt. Die besorgte Stimme von Professor Ankerbelly war zu vernehmen:

      »Hallo, ich bin’s, Professor Ankerbelly von der Hochschule von Herbstfeld. Diese Nachricht ist streng geheim. Bitte erzähl niemandem davon. Ich bitte dich, unverzüglich zum Herbstfeld Campus zu kommen. Es geht um eine Expedition ins Geschwärzte Zentrum Kael und die Sicherheit des gesamten Laternenwalds. Wir haben auf den Überwachungsstrukturen im Zentrum etwas entdeckt, das wir dringend mit dir zusammen untersuchen müssen. Ich kann dir per Lichtmail nichts Genaueres mitteilen. Stiehl dich davon, wenn es nicht anders geht, aber komm so rasch wie möglich mit der Wasserbahn zur Uni, und erzähl niemandem davon! Ich warte im Büro B 100 im Hauptgebäude auf dich.«

      Als Loyd die Nachricht zu Ende gehört hatte, spurtete er sofort los. Er stürmte an seiner Schwester vorbei, die ihm: »Hey, was ist los? War die Lichtmail tatsächlich für dich?«, nachrief, doch Loyd war bereits die alten, knorrigen Holzstufen nach oben gepoltert und raste den hölzernen Korridor bis zum Dachsteig entlang. Am Ende des Ganges, beim Übergang zur Eistreppe, entdeckte er seine Eltern.

      »Morgen, Loyd«, grüßte ihn sein Vater amüsiert.

      Er war ein kleiner, hagerer Mann, der seine allmählich ergrauenden Haare wie Loyd ganz kurz trug. Zudem hatte er eine knollige Nase und war, trotz seiner schmächtigen Statur, mit einer tiefen, fülligen Stimme gesegnet.

      »Sorry Paps, keine Zeit. Ich habe eine eilige Nachricht von der Uni erhalten und muss sofort los. Es scheint um das Geschwärzte Zentrum zu gehen, und eine Probenexpedition ist, glaube ich, auch geplant. Was ist hier eigentlich passiert?«

      »Schneesturz«, meldete sich Loyds Mutter mit verschränkten Armen. Sie war so groß wie Loyd und hatte langes, dunkelbraunes Haar.

      »Das haben wir noch nie erlebt; so viel Schnee in einer Nacht. Wir haben nicht die leiseste Ahnung, wie viel da oben noch auf uns wartet. Der reinste Albtraum.«

      »Arika, Liebes, wir kriegen das schon wieder hin. Stell dir nur vor, wie schwer unsere Urururgroßeltern es hatten, als das Dorf das erste Mal im Schnee begraben wurde«, sagte Toss, Loyds Vater, mit unterdrückter Freude.

      Toss war ein Unwetterfanatiker und immer aus dem Häuschen, wenn das Wetter sich in irgendeiner Weise »wüst« verhielt. Dazu kam, dass er bei der Versammlung einer jener unerschrockenen Dorfbewohner gewesen war, die den Wettstreit gegen die Natur bei einer Tasse Holunderwein angenommen hatten.

      »Verdammt, ich würde euch ja sofort helfen, aber ich muss dringend los!«, sagte Loyd mit sich überschlagender Stimme und biss sich dabei auf die Unterlippe.

      »Ich bin mir nicht sicher, ob du mit der Rutsche zurzeit überhaupt ins Tal runterkommst. Die Talstation könnte auch zugedeckt sein«, bemerkte Toss nachdenklich.

      »Was hast du eben gesagt?«, entfuhr es Loyds Mutter plötzlich, als hätte sie erst jetzt realisiert, was ihr Sohn eben von sich gegeben hatte. »Du gehst auf eine Abenteuerreise? Heute? Kommt gar nicht in Frage!«

      »Aber –«, warf Loyd schnell ein, doch seine Mutter schnitt ihm das Wort ab.

      »Erstens: Wir brauchen dich hier in deinen Ferien. Weißt du noch? Die Gemüseernte erledigt sich nicht von selbst, und mit unseren alten Knochen schaffen wir das auf die Dauer nicht mehr allein.«

      »Ja, aber –«

      »Wer hat behauptet, er würde die Kosten für das Zimmer im Studentenheim mit vollem Einsatz zurückzahlen? Dieser Doktor Ankerbelly oder wie dein hochverehrter Lehrer heißt, wird während den Semesterferien auch ohne dich auskommen. Es gibt schließlich genug Explorationsstudenten.«

      »Nun ja, aber –«

      »Und zweitens ist es zurzeit einfach zu gefährlich, überhaupt irgendwo hinzugehen, solange wir nicht wissen, wie viel Neuschnee der Schneesturz gebracht hat.«

      Loyds Mutter sah ihn mit strenger Miene an. Einen Moment lang quoll eine Welle von Ärger in Loyd auf, dann schlug er mit der Faust gegen die Holzwand neben der Dachtreppe und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Verdammt. Na gut. Ja – ich hab’s versprochen. Aber wenn die Welt wegen euch untergeht, ist es nicht meine Schuld!« Er funkelte seine Eltern mürrisch an. »Ich gehe aber, sobald der Schnee geschmolzen und die Ernte erledigt ist, ok? Nun, lasst mich mal durch.«

      Er schob seine Eltern