Benjamin Stutz

Die Laternenwald-Expedition


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auf einem Tablett und hastete dann hinüber, um nach den anderen Patienten zu sehen.

      Ankerbelly und Keli standen unterdessen ein wenig abseits vom Bett und schauten zu, wie Loyd vorsichtig ein paar Kichererbsen auf seinen Löffel häufte. Loyd unterbrach die Stille nach einer Weile und brummte: »Mir geht’s gut. Schaut nicht drein, als wäre ich ein Geist.«

      Keli und Ankerbelly, die nebeneinander wie Zwerg und Riese aussahen, traten mit verstohlenen Mienen wieder näher. Loyd musste dringend Fragen stellen. Er wollte wissen, was geschehen war und wie lange er schon hier gelegen hatte.

      »Ich wäre euch zutiefst verbunden, wenn ihr mich über den neusten Stand der Dinge aufklären würdet.«

      Er nahm einen gewaltigen Löffel Süßkartoffelbrei. Es schmeckte ausgezeichnet.

      »Dann schießt mal los. Wo bin ich überhaupt?«

      Ankerbelly erhob etwas zögernd die Stimme: »Das hier ist das Universitätsklinikum der HHF. Du weißt, wo das ist?«

      Loyd stutzte. Sollte das ein Witz sein? Natürlich wusste er, wo das Krankenhaus seiner Hochschule lag.

      »Anker, mit Verlaub, was soll das? Natürlich weiß ich es!«, raunzte er verärgert.

      »Öh, tut mir leid. Ich dachte, du könntest dich nicht mehr erinnern, was passiert ist.«

      »Kann ich auch nicht. Könntet ihr mir jetzt bitte endlich auf die Sprünge helfen?«

      Anker und Keli tauschten einen beklommenen Blick, dann fuhr der Professor, dessen Gesicht sich unwillkürlich verfinsterte, fort: »Nun gut.« Anker seufzte tief. »Meine Kollegen und ich haben Keli und dich letzte Nacht im Laternenwald in der Nähe der südlichen Ausläufer der Hildenberge aufgefunden, nicht weit von der Tal-Rutschstation. Keli hat versucht, dich auf dem Rücken nach Herbstfeld zu tragen.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Aus noch unbekannten Gründen ist der Gletscher über Hildenberge zusammengestürzt. Das Schmelzwasser, das von den Bergen ins Tal geflossen ist, hat in der letzten Nacht das Gebiet rund um die Bergkette weitläufig überschwemmt. Nun, wie soll ich es dir sagen, Loyd. Das Dorf Hildenberge – gibt es nicht mehr.«

      Loyd ließ den Löffel sinken. Schlagartig öffneten sich alle verschlossenen Schublädchen in seinem Kopf: die bedrohlichen Geräusche aus dem Eis, das plötzliche Rinnen des Wassers aus der Decke ihrer Frierhütte, die Leute draußen, die versucht hatten, den Gletscher vor dem Einbrechen zu bewahren und die Welle – die ihn von den Füßen gerissen und in die Berg-Rutschstation hineingeschleudert hatte. Ein Gefühl von unendlicher Trauer überkam ihn. Hieß dies, dass seine Eltern – dass sie tot waren? Anker, der Loyds Gesichtsausdruck sofort zu entziffern vermochte, sagte rasch: »Die genaue Ursache des Unglücks können wir noch nicht wissenschaftlich untermauern. Wir glauben aber zu wissen, dass es einerseits einen Zusammenhang gibt mit den Veränderungen im Geschwärzten Zentrum und der Geburt eines neuen Sonnenlochs. Nachdem das Eis zusammengebrochen war und dessen Wassermassen die Täler rund um den Berg versenkt hatten, wurde über dem Höhenzug ein gewaltiges Licht ausgemacht, das hoch zu den himmlischen Scheiben emporscheinen soll. Selbst gesehen habe ich es nicht, aber laut Berichten von Bergungsleuten muss unter dem Dorf der Boden weggebrochen und ein bisher verborgenes Sonnenloch zum Vorschein gekommen sein. So unglaublich es klingen mag, das sind die Darlegungen vertraulicher Quellen.«

      Loyd konnte sich auf diese Worte keinen Reim machen. Nichts machte Sinn. Ein Sonnenloch, das echtes Altes Sonnenlicht ausschütten sollte? Unter Hildenberge? Niemals. Aber wenn – wenn nur ein Funke Wahrheit an der Geschichte dran war, könnte das bedeuten, dass seine Eltern in das Loch hineingefallen waren? Nun war es Keli, die Loyds Gesichtsausdruck richtig deutete.

      »Mam und Paps sind in die alte Welt hineingefallen«, sagte Keli düster vor sich hin, als wäre es eine Tatsache.

      »Das bleibt abzuwarten«, meinte Anker ruhig. »Allerdings, du weißt aus meinen Vorlesungen, Loyd, dass bisher niemand und nichts, das je in einem Sonnenloch verschwand, wieder daraus zurückgekehrt ist. Jedenfalls sind keine Ereignisse bekannt, die wissenschaftlich belegbar wären. Die einzigen glaubwürdigen Hypothesen bezüglich der Sonnenlochinfiltration sind auf alten Schriftstücken beschrieben, festgehalten von unseren Ureltern; den einzigen Überlebenden der Vorzeit«, erklärte Anker den beiden.

      Keli schien aufgewühlt. Sie blickte Loyd missmutig an. »Wir müssen Mam und Paps suchen gehen. Schließlich ist es deine Schuld, dass ihnen das passiert ist. Hätten wir ihnen geholfen, als wir unsere Sachen packten, wären sie jetzt noch da«, warf sie Loyd trocken vor.

      Anker legte seine wurstfingrige Hand auf Kelis Schulter und sagte in beschwichtigendem Ton: »Auch wenn sie den Zusammensturz des Eises überlebt haben – was wir gegenwärtig weder bestätigen, noch ausschließen können – momentan ist es nicht möglich, das Gebiet zu betreten. Eine Überschwemmung unvorstellbaren Ausmaßes wird uns den Zugang in die Region für viele Wochen verwehren.«

      Kelis Augen füllten sich wieder mit Tränen, die sie sich abermals mit dem Ellbogen aus dem Gesicht strich. Loyd sah die beiden nicht an. Er hatte nicht einmal die Kraft, Kelis kindische Beschuldigung zurückzuwerfen.

      »Ich möchte euch beide nicht um das Schicksal eurer Eltern bringen. Das ist das Letzte, was mir im Sinn steht, glaubt mir. Aber der Grund, weshalb ich dich, Loyd, ursprünglich hierher bestellt habe, ist elementar und wahrscheinlich auch der Auslöser für das Chaos in Hildenberge. Ich werde dir alles im Detail schildern, sobald du wieder auf den Beinen bist. Was ich dir erzählen werde, ist von äußerster Wichtigkeit für den Fortbestand des Wesentums, des Laternenwalds und aller Existenz. Wenn du es verkraften kannst, mich und einen professionellen Expeditionstrupp ins Geschwärzte Zentrum zu begleiten, wäre ich sehr froh. Aber dazu später mehr. Du solltest dich jetzt zuerst einmal ausruhen und deine Gedanken sortieren.«

      Loyds Mund war trocken geworden. Er war nicht imstande, darauf etwas zu erwidern.

      »Keli, wollen wir etwas essen gehen?«, fragte Anker freundlich, aber bestimmt.

      Keli beobachtete verunsichert Loyds eingefallene Miene. Er erwiderte ihren Blick nur ganz kurz, bevor er auf sein angefangenes Abendessen hinunterstarrte.

      »Komm, Mädel, dein Bruder muss zu Kräften kommen und hat wohl eine Menge zu bedenken. Loyd, wenn du was brauchst, lass es mich wissen. Morgen um neun sind wir wieder da«, sagte Anker, während er Keli mit seinem dicken Bauch mit sanfter Gewalt zur Tür drängte.

      Anker und Keli durchquerten den Platz der Stille vor dem über und über mit gigantischen Bäumen und Sträuchern überwachsenen Hauptgebäude der Hochschule. Keli fühlte sich miserabel. Im Grunde genommen wollte sie so rasch wie möglich wieder nach Hildenberge zurückkehren, um nach ihren verschollenen Eltern zu suchen. Endlose Frustration und Kummer stauten sich in ihrem Inneren auf. Stunden hatte sie vor Loyds Krankensaal gewartet, während Anker weg gewesen war, um bei einer Pressekonferenz über das Katastrophengebiet zu berichten. Außer einer Handvoll jüngerer Kinder, die angesichts des einbrechenden Eises von ihren Eltern ins Tal geschickt worden waren, hatten nur Loyd und sie das Unglück überstanden. Die beiden hatten nur ein paar Kratzer abbekommen, doch für die Kinder war das Unglück nicht so glimpflich ausgegangen. Keli kannte zwar alle Verletzten im Krankensaal, hatte den Leuten des Ordnungsamts, die sie nach deren Eltern befragt hatten, aber nur wenig behilflich sein können. Obwohl es sich Keli nicht so richtig eingestehen wollte, konnte sie sich glücklich schätzen, dass Loyd sie mit Altem Sonnenlicht vorübergehend kälteresistent gemacht hatte – sonst wäre es ihr wohl gleich ergangen, wie den von Kopf bis Fuß in Verbände gewickelten und aufgrund von Erfrierungen um ihr Leben ringenden Kindern.

      Keli folgte Anker durch eine Allee von wuchtigen Trauerweiden. Für einen Moment erwog sie, sich einfach wegzustehlen und auf eigene Faust ihren Eltern zur Rettung zu eilen. Doch dann lenkten sie moderne Musik und lautes Gebrabbel ab, welches aus unmittelbarer Nähe zu kommen schien. Keli blickte nach links und rechts, um den Ursprungsort des Lärms zu eruieren.

      »Das da vorne ist die Lailac-Straße«, ertönte Ankers freundliche Stimme, der sich kurz umgedreht hatte, um nach Keli zu sehen.