Benjamin Stutz

Die Laternenwald-Expedition


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      »Was meinen Sie mit Kunden?«, fragte Keli verwirrt, als Anker seine Erklärung nicht von sich aus vervollständigte.

      »Jo, das ist eine bedeutende Frage«, sagte Anker, sich ein wenig tollpatschig über die Steine bewegend. »In der Lehre der Biodiversität werden Insekten, die man hier oben, aber auch sonst überall findet, als Kunden der Pflanzen bezeichnet. Aber nicht nur Insekten; alle Organismen sind Wirte und alle Wirte leben durch ihre Kunden, ähnlich wie bei unserer Wirtschaft. Ohne Kunden kann ein Unternehmen nicht bestehen, wie auch jedes Leben nur mit seinen natürlichen Kunden gedeihen kann, nicht? Darum sagt man ja auch, dass das erste Leben sich wohl nicht selbst erwirtschaftet haben kann – Interdependenz, verstehst du? Hoppla!« Anker stolperte und machte einen Schwenker links ins Gras. Einige funkelnde Insekten surrten dem Nachthimmel entgegen.

      Keli hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Sie hüpfte von einem unförmigen Setzstein zum nächsten, musste aber immer wieder warten, bis Anker sich auf die Steine zurückgehievt hatte. Jenseits der Wiese konnte Keli warme, rötliche und bläuliche Lichtstrahlen wahrnehmen, die von der Stadt her durch das Laubwerk hindurchbrachen. Als Keli ihren Blick über den Ring von Bäumen am Rand der Wiese schweifen ließ, hielt sie auf einmal den Atem an. Mit zugekniffenen Augen erspähte sie zwischen den Büschen einige verborgene Sitzbänke, auf denen sich im Schatten herabhängender Äste Studentenpärchen umarmten und küssten.

      »Hier durch«, bedeutete ihr Anker unauffällig, machte eine auffordernde Handbewegung und verschwand zwischen ein paar dicken Wurzeln und Gestrüpp.

      Keli hüpfte hastig auf den letzten Setzstein und stieß am Ende der Wiese durch das Buschwerk. Als sie den mit Blüten übersäten Zweig aus ihrem Sichtfeld wischte, klappte ihr jäh der Mund auf. Eine märchenhafte Aussicht bot sich ihnen. Sie hatten Ausblick auf die Lailac-Straße mit all ihren bunten Häusern, krummen Dächern und Kuppen. Dahinter wurden die Gebäude immer höher und gingen in einen strukturlosen Ring von Lichtquadraten aus beleuchteten Fenstern über, der hunderte Meter in die Nacht hineinragte. Die himmlischen Scheiben über ihnen wurden nun nicht mehr durch das Alte Sonnenlicht aus den umliegenden Sonnenlöchern erhellt, sondern durch den Schein der unzähligen Städte und Dörfer im Ring um die Urstadt Kael herum, welche tagsüber Licht gesammelt hatten und es nun auf die Scheiben zurückwarfen. Nur ganz schwach schimmerten die runden Sphären in Regenbogenfarben über der Stadt und ließen den Nachthimmel in schlichter Pracht erglimmen.

      Auf den ersten Blick schien es Keli, als vermöge einzig die ferne Wolkenwand, die im Norden dort weilte, wo bei klarem Wetter vermutlich die Hildenberge zu sehen gewesen wären, der Herrlichkeit des Nachthimmels zu trotzen. Als Keli den Kopf nach Süden wandte, erkannte sie in der Ferne einen mächtigen schwarzen Schemen, der sich am Horizont in die Länge zog.

      »Toll, nicht wahr?«, erriet Anker Kelis Impressionen und stapfte auf eine leere Sitzbank mit Sicht auf die Stadt zu. Er setzte sich mit einem Rums und begann mit seiner, für seinen massigen Kopf verhältnismäßig kleinen Nase, an der Papiertüte in seinen Händen zu schnuppern.

      »Es ist – unglaublich«, stimmte Keli leise zu, ihre Augen fest auf die dunkle Struktur im Süden fixiert. »Herr Ankerbelly, ist das da drüben vielleicht der Schwarze Vorhang?«

      »Oho! Gut erkannt. Aber bitte nenn mich doch einfach Anker oder bei meinem Vornamen Don, wie das alle tun, ja?«, bot Anker freundlich an. »Jo, der berühmte Schwarze Vorhang«, begann er nun wieder an der Papiertüte hantierend, »oder in akademischen Kreisen manchmal auch ›der unvollendete Unlichtwall der Urstadt Kael‹ genannt. Ich nehme jetzt mal an, du weißt, dass sich hinter den Gemäuern das Geschwärzte Zentrum von Kael befindet; ein Ort, der oft als das pure Grauen bezeichnet wird. Dabei muss ich gestehen, dass die Leute nicht ganz Unrecht haben. Anders als die Schwätzer allerdings, bin ich doch schon einige Male dort gewesen, um die Überschwärzung und das Unlicht zu studieren. Danach habe ich immer Wochen gebraucht, um mich von den Expeditionen zu erholen. Tja, und genau dorthin muss ich jetzt so schnell wie möglich, und zwar am besten zusammen mit deinem Bruder, Loyd. Er ist wirklich ein großartiger Forscher.«

      »Ich habe die Mitteilung gehört, die Sie Loyd vor dem Unglück zugesandt haben. Sie hat in meinem Zimmer Halt gemacht, als hätte die Lichtmail sich verirrt. Ich habe sie empfangen und sofort Loyd weitergereicht, als ich hörte, von wem sie war. Sie sagten, Sie hätten irgendetwas Ungewöhnliches in Kael gefunden oder so.«

      »Ganz die Schwester von Loyd«, sagte Anker anerkennend. »Jo, wir haben Daten aus den Forschungsstationen im Zentrum erhalten, die unbedingt verifiziert werden müssen.«

      Ankers Stimme wurde dumpf, und Keli bemerkte ein Rascheln neben sich. Sie drehte ihren Kopf und sah, dass Anker eine Strudelbox aus der Papiertüte gezogen hatte. Keli setzte sich ans äußerste Ende der Bank, wo neben Anker noch ein paar Zentimeter Raum geblieben waren.

      »So – hier. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um die wichtigen Dinge im Leben. Lass es dir schmecken!«

      Anker reichte Keli strahlend den bei weitem kürzeren Strudel. Die Verpackung ließ sich ganz einfach seitwärts aufklappen. Aus der Schachtel strömte Keli der himmlische Duft der frischen Backware entgegen. Urplötzlich wurde sie von dem herrlichen Geruch überwältigt und biss sogleich in das in ihren Händen nahezu schmelzende Blätterteiggebäck. Sie schloss die Augen und begann zu kauen. All ihr durch Kummer und Sorgen unterdrückter Appetit kehrte augenblicklich zurück.

      Ob sie es nun wollte oder nicht, Kelis Geschmacksknospen feierten die Einweihungszeremonie in die kulinarischen Gaumenvergnügen Herbstfelds. Etwas so Gutes hatte sie wahrlich noch nie gekostet. Alles, was Keli kannte, waren saisonales Wintergartengemüse, Sauerteigbrot vom Dorfbäcker, Macadamianüsse, Haskap-Beeren, Holundersirup und flockiger Tofu. Wenn die Gemüseernte erfolgreich verlaufen war, erstanden ihre Eltern ein wenig muffeliges Siedfleisch, Kichererbsen und Süßkartoffeln vom Wochenmarkt, wo sie auch ihr überschüssiges Erntegut verkauften. Doch kombiniert mit der Aussicht hier oben, war dies mit Abstand das beste Mahl, das sie jemals zu sich genommen hatte.

      Sonst war sie ja auch immer unter dieser zermürbenden Eisdecke begraben gewesen. Die Sicht in die von Rätseln und Mysterien erfüllte Ferne entfachte in Kelis Brust eine wachsende Flamme. Was hatte es mit den finsteren Mauern auf sich? Wie groß waren sie wirklich? Und was geschah gerade hinter deren streng bewachten Grenzen, das das Leben hier fernab vom Unheil der Vergangenheit so in Sorge zu versetzen vermochte?

      »Und, schmeckt’s?«, dröhnte Ankers passionierte Stimme undeutlich herüber. Er schmatzte geräuschvoll und lugte mit Händen und Strudel am Mund zu Keli hinüber.

      »Ich habe noch nie etwas so Gutes probiert. Ich wünschte, sowas könnte ich jeden Tag essen«, antwortete Keli schüchtern.

      Anker war schon fast am Ende seines Strudels angelangt. Er sog das Gebäck förmlich in sich hinein. Keli nahm einen weiteren Bissen, musste aber sofort heftig husten und prusten. Etwas hatte ihre linke Schulter berührt. Mit tränenden Augen fuhr sie herum. Sie konnte nichts erkennen. Vielleicht war es ein Insekt gewesen? Anker blickte Keli leicht besorgt an, rieb sich dann aber mit dem Handrücken genüsslich den Mund. Ein gewaltiger Rülpser übertönte Kelis Ringen um Luft.

      Keli, die Ankers plötzliche Körperausdünstung sonst vielleicht sogar lustig gefunden hätte, spähte noch immer mit banger Miene zu den von der Stadt her nur spärlich erhellten Bäumen. Einer der Stämme war so breit wie ihre Wohnstube in Hildenberge. Der Baum musste viele hundert Jahre alt sein. Einige Wurzeln waren so dick wie Anker selbst. Sie ragten etwas abseits von ihnen schwer und stark über das Gebäudedach hinaus. Es bewegte sich etwas in der Dunkelheit, was die bereits unter Hochspannung stehende Keli hochschrecken ließ. Ein armdicker Ast, übersät mit vielen kleinen ovalen Blättern, rückte langsam, aber deutlich in ihre Richtung.

      »Uaah! Herr Ankerbelly. Der Baum da bewegt seine Äste.«

      Von Angst gepackt fiel Keli rücklings über die Bank und ließ ihren halb verzehrten Strudel fallen.

      »Ho-ho-ho. Kein Grund zur Sorge. Das ist nur Shidare, eine alte Hängekirsche. Sie ist einer der ältesten Bäume, die es überhaupt gibt; genauer gesagt, eintausend und acht Jahre alt. Und wenn ein Baum so alt wird, kann es durchaus mal vorkommen,