Benjamin Stutz

Die Laternenwald-Expedition


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      »Und nun – zum Schluss noch etwas ganz Wichtiges und gleichzeitig philosophisch Tiefgründiges. Also mach dir nichts draus, wenn du es nicht auf Anhieb verstehst. Danach gehen wir zu meinem Haus. Dort kannst du eine Nacht darüber schlafen. Meine Gürkchen sind sicher schon am Verhungern. Ich hoffe, du bist noch nicht zu müde, um dem spannendsten Teil meines Vortrags zu lauschen, denn jetzt kommt deine Hand nämlich ins Spiel.

      Man weiß, dass es nach der Universalen Fusion immer wieder mal vierfingrige Personen gegeben hat, und auch, dass das Phänomen der Vierfingrigkeit von Generation zu Generation immer seltener wurde. Doch Beachtung fand die Gabe erst Jahrhunderte später, als sich das Unlicht in Kael zu vermehren begann und bekannt wurde, dass die Vierfingrigen das Unlicht wegschaffen konnten. Bald schon schlossen sie sich zu einem Bündnis zusammen und nannten sich: ›die Unlichtbändiger‹. Wenn in Kael jemand der Überschwärzung erlegen war, wurden sie gerufen, um das Unlicht aus den Siedlungsgebieten zu transportieren und es an einen sicheren Ort zu bringen. Anders als Lailac konnten sie das Unlicht aber nicht in sich aufnehmen, es formen und wieder auf die Umwelt anwenden. Dazu hätten sie gemäß Blausternenschrift nämlich den Kaelischen Index gebraucht, den sie zwar auch rigoros suchten, ihn aber nie fanden. Du siehst das Problem: Auch damals konnten die Unlichtbändiger das Unlicht nur an einen anderen, für die Bevölkerung weniger gefährlichen Ort befördern. Dort vermehrte es sich aber trotzdem weiter. Es wäre also zwingend gewesen, den Unlichtschlüssel zu finden. So wäre es wenigstens vorübergehend im Körper eines Unlichtbändigers gefangen gewesen. Ab hier treten die Präfektur Wesenend und die Halbpräfektur Nihilis auf den Plan. Sie sind die Fraktionen, die in Unlicht von jeher etwas ganz anderes sahen als die übrigen Nationen. In beiden Staaten wird am Glaubenssatz festgehalten, das Unlicht verkörpere die ›Nichtexistenz‹. Jetzt wird es richtig kompliziert, aber ich versuche, es in einfache Worte zu fassen: Der Unterschied zwischen den Ansichten von Wesenend und Nihilis, der die beiden Gruppen einst sogar in den Krieg geführt hat, besteht darin, dass in Wesenend geglaubt wird, das materielle Universum sei eigentlich nur eine Zwischenform der Existenz und irgendwann würde alles zu Unlicht zerfallen. Für Wesenend ist die Ausbreitung des Unlichts ein natürlicher Prozess; das ist ganz wichtig. Das Fürstentum Nihilis hingegen glaubt an das ›Garnichts‹.«

      Anker prustete, als er Kelis immer länger werdendes Gesicht sah.

      »Jaja, so komplex ist die Welt heutzutage, und glaub mir, das ist noch lange nicht alles. Kurzum, was du dir für jetzt merken solltest, ist: Wesenends Doktrin besagt, alles wird irgendwann zu Unlicht, und dagegen kann man nichts machen. Im Fürstentum ist man noch eine Spur extremer und glaubt einerseits, Existenz habe keinerlei Bedeutung und andererseits, die Unlichtbildung müsse vorangetrieben werden, damit alles zu nichts werde – so abstrus es auch klingen mag. Bei denen ist sozusagen bereits Hopfen und Malz verloren. Und hier kommt der springende Punkt: Das Fürstentum sah es damals gar nicht gerne, dass die Vierfingrigen das Unlicht einzäunen konnten. Als dann noch rauskam, dass die Unlichtbändiger den Kaelischen Index suchten, ließ Nihilis die Mitglieder der Gruppe von einer Bande Auftragsmörder ausfindig machen und meucheln. Der versprochene Schutz der Unlichtbändiger von Lichterloh kam zu spät und man dachte lange Zeit, Nihilis hätte sie alle erwischt. Doch wie es aussieht, könnte man sich getäuscht haben.« Anker blickte unruhig umher. »Bei allen zuckenden Landgurken. Wenn das rauskommt«, raunte er leise. »Wir müssen Loyd und dich unbedingt schützen, falls sich herausstellen sollte, dass ihr tatsächlich Unlicht berühren könnt. Ich muss Loyd gleich morgen darauf hinweisen, sich bis auf Weiteres von Wesenend und dem Fürstentum fernzuhalten.«

      Beide hatten die Zeit und das aufziehende Unwetter vergessen. Es begann in Strömen zu regnen.

      »Keli, ich denke, es ist genug für heute. Meine Güte, es ist ja auch schon elf Uhr! Komm, ich habe ein tolles Gästezimmer, das für dich bereitsteht. Meine Haustiere werden auch begeistert sein, Besuch zu haben. Falls Loyd morgen schon wieder auf den Beinen ist, geht es auf nach Lichterloh, wo wir uns mit dem Rest des Expeditionsteams treffen werden.«

      Keli nickte mit einem erschöpften Lächeln. In Wirklichkeit war sie todmüde. Auch wenn sie angestrengt versucht hatte, Ankers Lektionen zu folgen, war kaum die Hälfte davon bei ihr hängen geblieben. Anker, aus dessen großem, grauem Bart ein kleiner Wasserfall hervorgequollen kam, verschwand hinter den knorrigen Wurzeln Shidares. Das Plätschern des Regens schwoll zu einem Tosen an. Blitze zuckten und Donner gellte bedrohlich über die Dächer. Keli schnappte sich Ankers Papiertüte, die vergessen auf der Sitzbank lag. Sie hielt sie sich über den Kopf und folgte Anker in Richtung Aufzug. Als sie an der Hängekirsche vorbeischritt, schien es Keli, als ob sie noch einmal die Stimme des Baumes hören würde: »Folge nur dem Licht«, glaubte sie zu hören, doch es konnte auch das Echo des sich zurückziehenden Stadtlebens unten an der Lailac-Straße gewesen sein. Keli gab sich einen Ruck und trat auf die nassen Setzsteine in der Wiese. Ihr halbverzehrter Strudel lag vergessen vor der Bank und begann allmählich, im Regen zu zerfallen.

      Keli schlief in dieser Nacht sehr unruhig und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Als es draußen noch stockdunkel war und der Regen kräftig an die Fenster peitschte, wachte sie kurz auf, da sie meinte, eine Tür aufgehen zu hören, doch dann schlief sie wieder ein, bis am nächsten Morgen die ersten Strahlen bunten Lichts auf ihren buschigen, schwarzen Haarschopf fielen. Sie konnte fühlen, dass etwas angenehm Weiches über ihre Nase wischte. War dies das Kitzeln der ersten Lichtstrahlen des Tages, das oft so schön in Büchern beschrieben war? Sonst wachte sie immer in blauglimmender Düsternis auf. Ja … so musste es sich wohl anfühlen, wenn man morgens von Licht begrüßt wurde.

      Als sie die Augen aufschlug, schrie Keli vor Schreck laut auf. Drei oder vier oberarmgroße, madenartige Kreaturen mit kreisrunden Öffnungen als Mäuler hatten ihr das Gesicht von oben bis unten vollgesabbert. In Panik sprang sie vom Bett, wobei die seltsamen Wesen mit einem ekelerregenden Aufquietschen von ihrem Brustkorb herunterkullerten. Keli befand sich in einem modern eingerichteten Raum, in dem die Wände entlang mehrere gut gefüllte Bücherregale aufgereiht standen. Außerdem befanden sich zwei Topfpflanzen in den Ecken des Zimmers, an denen große, magentafarbene Blüten prangten, die ausziehbare Couch, auf der sie geschlafen hatte und ein kleines, gläsernes Tischchen. Keli dröhnte der Kopf. Es war das erste Mal in zwei Tagen, dass sie Schlaf gefunden hatte. All die schauerlichen Dinge, die in den letzten achtundvierzig Stunden geschehen waren – sie erschienen ihr wie ein schlechter Traum. Keli rieb sich mit dem Ellbogen die glitschige Nase ab und sah böse auf die Viecher hinunter, die wie Raupen Richtung Ausgang davonrobbten. Die Tür des Zimmers, die einen Spaltbreit offenstand, ging auf und Anker platzte herein.

      »Was ist denn … Oho! Guten Morgen Keli.« Anker stand bereits angezogen im Türrahmen. Er sah aus, als wäre er schon wieder seit einiger Zeit auf den Beinen.

      »Pitt, Pott, Patty und Putt. Was habt ihr im Gästezimmer verloren?«, sagte Anker ermahnend. Diese Worte waren an die vier gurkenähnlichen Geschöpfe gerichtet, die gerade Hals über Kopf und mit schrillem Gequietsche über die Türschwelle krochen.

      »Das ist ›pfui‹«, rief er ihnen mit erhobenem Zeigefinger hinterher.

      »Keli, bitte entschuldige. Das sind meine Haustiere. Ich hoffe, sie haben dich nicht belästigt«, sagte Anker munter.

      »Nein, ist schon in Ordnung. Ich habe mich nur erschreckt. Was sind denn das für Wesen?«, erkundigte sich Keli halb verärgert, halb belustigt.

      »Landgurken werden sie im Volksmund genannt und es gibt sie nahezu überall. Es sind bereits 42 Arten entdeckt worden, und durch die Erforschung des äußeren Sternenwalds kommen stets neue dazu.«

      »Oh – verstehe«, grummelte Keli, die ihre glitschigen Ärmel beäugte.

      »In der Regel sind sie ganz lieb und den Menschenwesen gegenüber wohlgesinnt«, fügte Anker hinzu, während er sich vor dem gläsernen Tischchen in einen Sessel fallen ließ. »Wenn Loyd schon wieder auf den Beinen ist, können wir uns vielleicht heute Nachmittag schon mit Naomi in Lichterloh treffen. Sie ist eine gute Kollegin von mir und absolviert derzeit ihr Zweitstudium im Fach Biodiversität – öh, das heißt so viel wie das Erforschen von verschiedenen