Benjamin Stutz

Die Laternenwald-Expedition


Скачать книгу

Straße beflügelt zu fühlen. Sie standen vor einer langen Warteschlange, die aus einer Imbissbude herausführte.

      »Ich kann das nicht bezahlen«, gab Keli ein wenig beschämt zu bedenken.

      »Ach was! Du bist natürlich mein Gast. Solange du und dein Bruder in meiner Obhut seid, seid ihr selbstverständlich herzlich von mir eingeladen.«

      Keli fiel ein Stein vom Herzen, denn sie hatte begonnen, sich neben ihrem Kummer um ihre Eltern wegen einer Unterkunft und Verpflegung Sorgen zu machen. Anker schmunzelte einen Augenblick lang verstohlen zu Keli hinüber, dann schlug er mit seinem aufdringlichen Bauch eine breite Schneise in die Menge vor ihnen. Er warf zwar lauthals mit Entschuldigungen um sich, doch er drängte sich immer weiter vor, Keli mit verdutzter Miene dicht hinter ihm.

      »Du musst lernen, dass die Welt nur so lange fair ist, wie du sie so siehst. Um im Leben erfolgreich zu sein, musst du als allererstes die Welt für dich selbst zu einem fairen Ort machen«, erklärte Anker grinsend an Keli gewandt, so leise, dass es die Umstehenden nicht hören konnten. Nun war es Keli, die schmunzelte. Einen Mann wie Anker hatte sie freilich noch nie getroffen. Anker verdrängte noch ein paar weitere Studenten, die er von hinten mit seinem zudringlichen Ranzen anstieß, sodass diese sich zuerst empört umdrehten, ihm dann aber, als sie erblickten, wen und vor allem, was sie vor sich hatten, wissend lächelnd den Vortritt ließen.

      »So, Keli. Worauf hast du denn Lust?«

      Sie standen vor einer hohen Theke, hinter der mehrere uniformierte Leute hin und her flitzten und hungrige Kunden bedienten. Sie händigten einer Reihe wartender Wesen abseits der Theke schmale Kartonschachteln aus. Als Keli den Kopf hob, sah sie über den Angestellten verschiedene visuelle Darstellungen von Gebäcken.

      »Was darf’s denn sein?«, meldete sich ein junger Mann mit einem zurückgebundenen Pferdeschwanz und einer grünen Mütze obendrauf. Obwohl er freundlich wirkte, sah man ihm an, dass er unter Stress stand und wahrscheinlich mehr arbeitete, als gut für ihn war. Der ganze Oberkörper des Mannes, der in Kelis Blickfeld fiel, schien seltsam verschwommen und trüb. Keli, die vom Äußeren des Mannes abgelenkt war, erschrak, als Anker ihr die Hand auf die Schulter legte.

      »Das ist eine Strudelbude«, verkündete er sichtlich glücklich. »Es gibt verschiedene Strudellängen und Inhalte, aus denen man wählen kann.«

      Er richtete seinen Blick wieder auf den Mann mit dem gebundenen Haar.

      »Ich, zum Beispiel, hätte gerne die volle Länge, mit den Abschnitten Wasabiforelle, Kreuzkümmelkäse, Teriyaki Chicken mit scharfer Mayonnaise, und der Dessertschicht Zimtapfel mit Haskap-Beerencreme.«

      »Sehr gerne«, erwiderte der Mann.

      Keli machte große Augen.

      »Und Sie, werte Kundin?«

      Das galt Keli, die hinter Ankers Hintern hervorlugte wie ein kleines Mädchen.

      »Ähm, ja –« Sie las von den Tafeln ab: »Viertellänge mit Wasabiforelle.«

      Anker wandte sich zu ihr hin. »Ist das alles?«, fragte er bestürzt.

      »Ja, ich denke schon«, meinte Keli zögernd.

      »Das macht 7.50 Lichtbit«, sagte der Mann am Tresen freundlich.

      Anker klatschte seine korpulente Hand auf eine kleine Plattform über dem Tresen. Ein Piepton war zu vernehmen und damit war die Bezahlung abgeschlossen. Keli und Anker traten ein paar Schritte zur Seite, damit die Leute hinter ihnen ihre Bestellungen aufgeben konnten. Keli sah, wie neben dem trüb aussehenden Mann Strudelteige auf eine Abstellfläche geschmissen und quer aufgeschnitten wurden.

      »Herr Ankerbelly«, begann Keli so leise, dass nur Anker sie hören konnte. »Der Mann da; er sieht so komisch aus. Was ist mit ihm?«

      »Wie bitte? – Ach sooo, du meinst die milde Schwärze? Das ist normal. Jeder, der das Licht in seinem Körper nutzt – und das ist in den Städten praktisch nicht zu umgehen – muss arbeiten, um wieder auf einen hellen Zweig zu kommen. In den Städten wird heute fast alles mit Altem Sonnenlicht, also der Währung ›Lichtbit‹, bezahlt, verstehst du? Von der Wohnungsmiete, über öffentliche Verkehrsmittel, bis hin zu den Strudeln in diesem Laden. Und Herbstfeld ist noch harmlos. In Lichterloh gibt es Quartiere, da sind die Leute kaum noch erkennbar, so trüb sind ihre Auren. Das heißt für dich übrigens, dass du im Notfall für Essen und Unterkunft sogar für eine Weile selbst aufkommen könntest. Ohne Lichtkonto könntest du dich danach allerdings nicht mehr aufladen. Darum bist du bei mir, bis auf Weiteres, sicher am besten aufgehoben.«

      Anker zwinkerte Keli wohlwollend zu. Keli war nicht an die Präsenz von Menschenwesen, die eine solch negative Kraft ausstrahlten, gewöhnt. Die Aura, welche den Mann am Tresen umgab, ließ die Trübsal um ihre Eltern erneut aufwallen. Keli sah missmutig zu, wie Strudelteige aufgeschnitten, nach oben aufgeklappt, dann mit verschiedenen Zutaten beschichtet, zugeklappt, und schließlich in lange, glühende Öfen befördert wurden. Nach zirka zwei Minuten wurden diese wieder geöffnet und die golden gebräunten Gebäcke erneut auf der Abstellfläche abgelegt und anschließend in röhrenförmige Schachteln gepackt. Das alles geschah in atemberaubender Geschwindigkeit.

      »Hier, bitte.« Eine junge Frau übergab ihnen die heißen Schachteln. Anker nahm die meterlange, aber nur wenige Zentimeter breite Papiertüte entgegen und wandte seinen Bauch in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen waren.

      »Komm, ich weiß einen guten Ort, wo wir uns die Dinger reinziehen können«, sagte Anker munter.

      Für einen so dicken Mann war der Professor ungewöhnlich gut auf den Beinen, dachte Keli, als sie ihm im Laufschritt bis zurück vor das Hauptgebäude der Hochschule folgte. Als Anker stehen blieb, erklärte er theatralisch: »Hier unterrichte ich. Nun, eigentlich nur zwei Tage die Woche und auch nur dann, wenn ich nicht gerade auf einer Expedition bin – also eigentlich fast nie.« Anker gluckste amüsiert über seinen eigenen Scherz.

      Keli, die noch keine Gelegenheit gefunden hatte, sich für das Abendessen zu bedanken, keuchte außer Atem: »Ich find’s toll hier. Und vielen Dank für den Strudel.«

      »Ach, nicht der Rede wert. Du kannst auch bei mir in meinem Haus übernachten, wenn du willst. Bei Loyd vor dem Krankenzimmer auf einem Stuhl zu schlafen, würde ich dir nicht empfehlen – nur wenn dir der Sinn nach einem verspannten Rücken steht.« Anker gluckste erneut, dann sagte er: »Komm, lass uns aufs Dach gehen.«

      Er schritt voraus und ließ die automatisierten Türflügel vor ihnen nach beiden Seiten aufschnellen, indem er seinen Professorenausweis an eine Scanfläche neben dem Eingang hielt. Keli folgte ihm in die hohe Eingangshalle. Drinnen roch es nach Büro und Teppich. Mehrere Glasvitrinen mit ausgestellten Raritäten und Plakaten darin begrüßten sie. Obwohl es Keli interessiert hätte, was es da zu sehen gab, bog Ankers Bauch links in einen langen Gang ein, in dem es jeweils im Vier-Meter-Abstand Türen gab, von denen einige offenstanden. Weiter vorne verschwand Anker hinter einer Biegung. Als Keli aufgeholt hatte, fanden sich die beiden vor einem Fahrstuhl wieder, der sich prompt öffnete. Der Aufzug beförderte sie fast lautlos und in wenigen Sekunden in das offene Dachgeschoß. Die Fahrstuhlschranken verzogen sich auf beide Seiten und Anker, der praktisch dessen ganzen Innenraum für sich allein beansprucht hatte, trat voran.

      Draußen war es Nacht geworden. Als Keli an die frische, kräuterträchtige Luft trat, bot sich ihr ein erstaunliches Bild. Sie durchquerten eine kniehohe Wiese, in der alle möglichen Gräser und Blumen wuchsen. Keine Pflanze schien der anderen zu gleichen. Die Gewächse waren erhellt durch kleine Insekten, die auf den Pflanzen hockten und den Platz idyllisch erstrahlen ließen. Die bunt glühende Atmosphäre hatte etwas an sich, das Keli als »romantisch« gedeutet hätte. Die Wiese war nicht sehr groß, aber umsäumt von einem Ring aus Sträuchern und Bäumen. Anker drehte sich rasch nach hinten, um nachzusehen, ob Keli ihm folgte.

      »Das hier sind alles Pflanzen, die wir von unseren Expeditionen mitgebracht haben«, erklärte er Keli. »Eine getrocknete Probe wird immer ins Archiv einsortiert und weitere Spezimen pflanzen wir hier oben oder in Wäldern um die Uni herum an, und zwar mit ihren ›Kunden‹ zusammen.«

      Keli