Benjamin Stutz

Die Laternenwald-Expedition


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der äußerste Wipfel eines Astes sich gemächlich an ihr Schulterblatt herantastete.

      »Und was tue ich jetzt?«, fragte Keli verunsichert.

      »Sie macht nichts, sie ist bloß ein bisschen neugierig, wie immer. Aber ich muss gestehen; ich sehe sie zum ersten Mal den Kontakt zu jemandem suchen, den sie nicht kennt.«

      Der Ast strich Keli, die etwas überrumpelt dastand, langsam über den Nacken. Dann blieb die Spitze des Zweiges auf Höhe ihrer Brust hängen, als ob sie ihr die Hand geben wollte. Anker stand verwundert auf, um das Schauspiel zu verfolgen. Nach einem Augenblick des Zögerns hob Keli ihre linke Hand und hielt sie auf die Höhe des Zweigendes. Der blättrige Zweig strich behutsam über die Handfläche von Kelis vierfingriger, linker Hand und begann, diese sanft zu umwinden. Keli spürte ein angenehmes Kribbeln in der Magengegend. Sie merkte nicht, dass Ankers Kinnlade heruntergeklappt war. Eine undefinierbare Stimme, die tief aus Kelis Innerem zu kommen schien, sprach langsam und nachdrücklich:

      »Du, die sich des Spiegels erhaben wähnt – dies ist deine Prüfung. Du, die sich sowohl des Wohles aller dienlich zeigt als auch standhaft des Lasters ledig bleibt: Sollest du meiner Kinder habhaft werden und bedingungslos nach Frieden streben, dein soll sein, was mein einst war, was Gutes scheidet von Bösem klar. Vier Beeren es sind, so alt wie ich, Schnee, Stachel, Blau und Wein sie heißen schwesterlich. Doch sei gewarnt: Dein Scheitern wird das Scheitern aller sein, folge stets dem Lichte nur und bleibe des Herzens ewig rein.«

      »Keli! Deine Hand – dann ist es also doch …«, stammelte Anker aufgeregt.

      Keli, die ihre Augen geschlossen gehalten hatte, während sie der Stimme gelauscht hatte, schien eben aus einem Trancezustand aufzuwachen. Sie blickte zuerst auf Ankers fassungslose Miene, dann hinab auf ihre immer noch umwickelte Hand; dann zurück zum Professor. Sie war mehr als nur verwirrt.

      »Was – war das für eine Stimme?«, murmelte Keli mehr zu sich selbst, denn eigentlich war ihr klar, dass es der Baum gewesen sein musste. Zugleich schossen ihr tausend andere Fragen durch den Kopf. Von wem war diese Nachricht? War sie von dem Baum selbst, oder hatte sie jemand anders dort hinterlassen. Shidare war über eintausend Jahre alt. Wer würde ihretwegen vor so langer Zeit eine Botschaft hinterlassen haben? Vielleicht hatte der Baum einfach den falschen Empfänger erwischt – aber wie sollte sie ihn danach fragen?

      Dafür war es nun ohnehin zu spät, denn der Zweig löste bereits seinen Griff und zog sich Richtung Baumkrone zurück. Endlich fand Anker wieder zu seiner Stimme: »Mann, oh, Mann! Warum habe ich es erst jetzt bemerkt: Du hast auch eine vierfingrige Hand, Keli! Weißt du, was das bedeutet?«

      »Äh, nein«, erwiderte Keli wahrheitsgetreu und noch halb benommen.

      »Dein Bruder hat auch nur vier Finger an der linken Hand. Ich meine, es bedeutet – möglicherweise –, dass Loyd und auch dir nicht per Zufall ein Finger an der linken Hand fehlt; dass ihr beide – wahrscheinlich – als einzige bekannte, noch lebende Menschenwesen in der Lage sein könntet, Unlicht zu berühren, ohne dass sich euer Gewebe dabei gleich auflöst. Es ist zwar eine unbestätigte Theorie, welche nur in alten Schriften der frühen Neuzeit beschrieben ist. Aber wenn sich mein Verdacht bewahrheiten sollte, dann könntet ihr – ja, ihr könntet den Laternenwald vielleicht dereinst vor einem fatalen Schicksal bewahren. Keli, ich begreife nicht, warum Loyd mir nie gesagt hat, dass seine Schwester auch nur vier Finger an der linken Hand hat. Gibt es in eurer Familie noch andere Verwandte, bei denen das so ist?«

      Keli, die noch nicht gänzlich aus ihrem Dämmerzustand erwacht war, konnte Anker nicht ganz folgen. Nur, dass Loyd sie wieder einmal in den Schatten gestellt hatte, das hatte sie mitbekommen.

      »Ich und Loyd sind, glaube ich, die Einzigen in der Familie, die nur vier Finger an einer Hand haben. Aber warum ist das wichtig?«

      »Es ist wichtig, weil – laut der Legende von Mikael und Lailac können vierfingrige Menschenwesen, wenn sie in direkter Linie von Lailac abstammen, Unlicht anfassen, ohne, naja – dass sie dabei die Finger verlieren. Nur sind heute keine Menschenwesen, die diese Gabe besitzen, mehr bekannt.«

      Keli nickte bedächtig, aber in Wahrheit interessierte sie fast mehr, was der Baum ihr eben mitgeteilt hatte. Ob Anker die Mitteilung wohl auch gehört hatte?

      »Ok, du musst dir das so vorstellen«, fuhr Anker überschwänglich fort. Seine Professorenseite schien sich bemerkbar zu machen. »Du weißt, warum Kael, die Urstadt, auch ›das Geschwärzte Zentrum‹ genannt wird?«

      »Hm«, machte Keli abwesend. »Ich glaube, weil es dort stockdunkel ist und keine Leute mehr darin wohnen können?«

      »Korrekt. Der Grund dafür ist simpel: Die Wesen, die vor ungefähr sechshundert Jahren Kael bevölkerten, sogen dem Ort die letzten Reste Licht aus, sodass kaum mehr Leben darin gedeihen konnte. Auch das Licht, welches von den umliegenden Sonnenlöchern in die Stadt transportiert wurde, reichte nicht mehr aus, um die Wesen, Pflanzen und schließlich die Umgebung zu erhellen. Und nicht nur das, voller Verzweiflung sogen die Bewohner einander sogar gegenseitig die letzten Lichtreste aus den Leibern. Wesen wurden versklavt. Man begann, schlimme Dinge zu tun, nur um an ein bisschen Altes Sonnenlicht zu kommen. Irgendwann – und der gesamte historische Ablauf ist heutzutage leider nur wenigen bekannt – kam es in der Metropole zur ›Überschwärzung‹. Neben der tugendlosen Lebensweise, welche der Gesellschaft erheblichen Schaden zugefügt hatte, machte sich nun ein noch viel schlimmeres Problem bemerkbar: Zu einem umstrittenen Zeitpunkt wurde in den zentralen Regionen der Stadt, wo die Umgebung durch die Überschwärzung besonders gelitten hatte, eine Substanz entdeckt, die jegliche Materie rapide zu zersetzen vermochte.«

      Anker sah Keli etwas verwirrt dreinschauen und versuchte es mit anderen Worten: »Um es einfacher auszudrücken, an den finstersten Orten der Stadt, wo die Überschwärzung am schlimmsten war, wurde ein unheimlicher Stoff vorgefunden, der seine Umgebung restlos in pure Energie auflösen konnte. Also, wenn man seine Hand in das Zeug reinsteckte, musste man damit rechnen, dass man nur noch einen Stummel wieder rauszog und das Gewebe zu Unlicht zerschmolz. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass dies damals ein ziemlicher Schock für die Einwohner Kaels war, als sie davon erfuhren.«

      »Unlicht?«, vermutete Keli, die plötzlich Verdacht geschöpft hatte. Sie kannte den Begriff ›Unlicht‹ zwar nur aus Büchern, vom Hörensagen und vom Denkmal am Platz der Stille, aber etwas sagte ihr, dass das, was Anker eben beschrieben hatte, Unlicht sein musste. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte ihr Loyd einmal erzählt, dass es im Innern des Zentrums »schwärzer als die Nacht« sei, aber nie hatte sie wirklich jemand über die Ursachen und Konsequenzen der Überschwärzung aufgeklärt. Ob ihre Eltern überhaupt davon gewusst hatten?

      »Unlicht, genau! Das hast du jetzt aber schnell kapiert«, lobte Anker sie.

      Keli sah etwas verlegen drein.

      »Das Auftauchen des Unlichts hatte die Gesellschaft damals in Unruhe versetzt. Kannst du dir vorstellen, warum?«

      Weil Keli nachdenklich in die Ferne blickte und nichts erwiderte, fuhr Anker fort: »Ganz einfach. Weil das Unlicht sehr ausführlich in religiösen Dokumenten der frühen Neuzeit beschrieben wird. Bei der Legende über Mikael und Lailac, von der ich dir beim Denkmal vorhin erzählt habe, geht es ja auch um das Unlicht. Laut dieser Urlegende haben die wenigen Überlebenden der universalen Fusion es in den ersten Wochen der Neuzeit doch tatsächlich fertiggebracht, bereits das erste Unlicht zu fabrizieren. Und wenn es einmal entstanden ist, wird es nie wieder ganz verschwinden. Lailac hat das entstandene Unlicht in sich aufgenommen und es bis kurz vor seinem Tod in sich getragen. Damit soll er inmitten des Laternenwalds vor rund eintausend Jahren diese Hochschule mitsamt Wohnanlagen erbaut haben, fernab aller Augen und Ohren der anderen Urväter und -mütter. Wie sein Freund Bao Wao, das Hundewesen, wollte er eine eigene Ausbildungsstätte aufbauen, um sein Wissen weiterzugeben. Es haben sich ihm auch einige der Überlebenden angeschlossen, mit dem Ziel gemeinsam herauszufinden, was der Laternenwald für ein Ort war und nach Antworten zur Fusion zu suchen. In der Nähe von Kael selbst, wo sich die meisten Überlebenden in der Obhut von Urvater Mikael niedergelassen hatten, errichtete Lailac bloß ein kleines Häuschen zu Unterrichtszwecken, welches die Bewohner Kaels regelmäßig