Benjamin Stutz

Die Laternenwald-Expedition


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du überraschst mich immer wieder. Wie alt bist du jetzt? Dreizehn?«

      »Äh, ja. Gerade erst geworden. Vor ein paar Tagen.«

      »Ts, ts, ts, ausgezeichnet«, begeisterte sich Anker. »Es stimmt genau, dass das Unlicht das Ergebnis und nicht die Wurzel der Überschwärzung ist, und auch, dass man eigentlich dementsprechend die Überschwärzung bekämpfen müsste und nicht das dadurch entstandene Unlicht. Der Haken an der Sache ist: Wenn das Unlicht einmal da ist, wird es nie wieder ganz verschwinden und nach und nach an Menge gewinnen. Solange sich das Unlicht in einer überschwärzten Umgebung befindet, wie es in Kael der Fall ist, wird es sich nicht so rasant ausbreiten, als wenn es hellem Raum ausgesetzt ist. Einmal aus dem Schwarzen Vorhang ausgebrochen, würde es sich rapide wie ein bösartiges Geschwür in seiner Umgebung ausbreiten. Du hast sicher schon die Lichtlehre studiert?«

      Keli nickte halbherzig. Eigentlich hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt nie viel fürs Lernen übriggehabt, und Anker schien diese Tatsache gänzlich aus ihrer Gestik herleiten zu können.

      »Ok, ich glaub, ehe wir nach Kael aufbrechen, muss ich dir noch ein, zwei Dinge erklären. Fangen wir mit ein bisschen Hintergrundlektüre an, dann wird es dir leichter fallen, während der Expedition die Zusammenhänge zu verstehen. Gut, zuerst mal zur universalen Fusion, von der du sicher schon einige Male gehört hast. Man sagt ja, dass dieses mysteriöse Ereignis uns vor etwas mehr als eintausend Jahren die Lichtsynthese ermöglicht hat. Unser Universum ist mit einem anderen kollidiert und zu einem Duoversum verschmolzen. Dies war offenbar möglich, da die beiden Universen sich von der dimensionalen Struktur her sehr ähnlich waren. Beide Kosmen zogen sich gegenseitig an; wie Mann und Frau. Wichtig hierbei ist, dass das andere Universum aus einer Dimension mehr zusammengesetzt war, und so war unser Kosmos nach der Fusion plötzlich durchtränkt von einer neuen, dimensionalen Komponente, der Lichtsynthese. Kannst du mir bis hierher folgen?«

      Keli kannte diese Geschichte bereits halbwegs aus ihren trockenen Lehrbüchern der Lichtlehre und beantwortete die Frage mit einer bejahenden Kopfbewegung.

      »Großartig. Dann weißt du natürlich auch, dass diese neue Dimension uns befähigt hat, Licht in unsere Körper aufzunehmen und es auf unser Umfeld anzuwenden. Urvater Lailac war einer der Überlebenden der Fusion und ist als das erste Wesen bekannt, dem es gelungen war, das Alte Sonnenlicht in sich zu speichern und damit andere Überlebende warm zu halten. Bald schon sogen sich die Überlebenden und deren Nachkommen mit Licht voll, welches aus den Sonnenlöchern strömte. Mit dieser neu erlangten Kraft begannen sie, Kael, die erste Stadt der Neuzeit, die nach dessen Gründer, Urvater Mikael McLane, benannt wurde, auf den Ruinen der Urstadt Tokio aufzubauen. Die verschiedenen Sprachen, die noch von den Urvätern und -müttern gesprochen wurden, verschmolzen rasch zu einer einzigen Hauptsprache, deren weiterentwickelte Form wir heute noch sprechen und als ›Kaelisch‹ kennen. Die Leute vermehrten sich rasch und führten die Lichtsynthese als allgemeines Hilfs- und Zahlungsmittel ein. In der Vorzeit benutzte man ›Geld‹ – Münzen und so weiter –, mit dem Handel getrieben wurde. Heute ist das Geld überflüssig, da das Licht in unseren Körpern als Währung wie auch Energieressource viel zweckmäßiger ist. Kael als blühende Gesellschaft verwahrte und kontrollierte das Sonnenlicht aus den umliegenden Sonnenlöchern und begann, es als Gegenleistung für Arbeit auszuzahlen – und so nahm das Geben und Nehmen, das schlussendlich zur Entstehung des Unlichts geführt hat, seinen Lauf. Jedes Mal, wenn jemand Licht verwendet, zum Beispiel, um etwas in einem Laden zu bezahlen, verliert der Anwender diese Menge Licht und muss sie von irgendwo anders wieder beziehen, um zu seinem Ursprungsniveau zurück zu gelangen. Das abgegebene Licht wird an ein anderes Medium übertragen und der Anwender wird dabei schwärzer. Je mehr Licht man weggibt, umso trüber wird der Körper. Je mehr Licht man bezieht, umso heller erstrahlt er. Das verstehst du, oder? Wie du beim Mann im Strudelladen gesehen hast, zeigt sich die Schwärze als eine trübe Aura um ein Wesen herum. Das hat also nichts mit deinem eigentlichen Äußeren zu tun, sondern verkörpert sich als neblige, negative Ausstrahlung. So – und im Zentrum vor ein paar hundert Jahren wurde schließlich mehr Licht verwendet, als zur Verfügung stand. Die Leute konnten sich nicht mehr aufladen und die Überschwärzung breitete sich auf die Umgebung aus, bis die ersten Unlichtfälle auftraten und anschließend das Unlicht sich in der geschwärzten Atmosphäre zu vermehren begann. Das alles hatte zur Folge, dass man anfing, immer größere, bewohnbare Ringe um den Mittelpunkt der Stadt zu bauen, um dem wachsenden Übel auszuweichen. Irgendwann war man dann soweit, dass es Unstimmigkeiten gab, wie man mit der Lage weiter umgehen sollte.

      Urvater Mikael führte die Gruppe der Überlebenden nach der Fusion an und beabsichtigte, keine ideologischen Isolationen zuzulassen. So beschreibt es zumindest die Blausternenschrift. Man wollte ursprünglich zusammenbleiben, in Harmonie leben und aus den Fehlern der Wesen in der Zeit vor der Fusion lernen. Doch mit der sich ausbreitenden Überschwärzung und dem Unlicht überall war dies irgendwann nicht mehr möglich. Es entstanden zum ersten Mal seit dem Beginn der Neuzeit ›Parteien‹, deren Meinungsdifferenzen immer grösser wurden.

      Die Fraktion, die später die Präfektur Lichterloh gründete, wollte dem unmoralischen Treiben der Gesellschaft ein Ende setzen. Sie wollten sich schon sehr früh vom Rest von Kael abspalten und nach ihren eigenen ethischen Maßstäben existieren; also weniger ressourcenreich leben, um der Schwärzung entgegenzuwirken. Sie zogen in den Norden von Kael, wo später auch viele Zweigstädte und Zweigdörfer von Lichterloh entstanden –«

      »Wie Hildenberge?«, vermutete Keli.

      »Genau. Herbstfeld ist eine Zweigstadt von Lichterloh und Hildenberge ein Zweigdorf von Herbstfeld. Obwohl es die Hochschule von Herbstfeld schon seit dem Beginn der Neuzeit gibt, wurde die Stadt selbst erst Jahrhunderte später als Zweigstadt Lichterlohs anerkannt. ›Atlas‹ wurde die Präfektur im Westen von Kael. Diese Gruppierung wollte stets zusammenhalten und legte alles daran, alle separierten Partien nach der ideologischen Teilung wieder zu vereinen. Im Osten wurde die Präfektur ›Solaspitz‹ gegründet und im Süden ›Wesenend‹, sowie ›das Fürstentum Nihilis‹, welches sich abermals durch ideologische Differenzen von Wesenend distanziert hatte. Es wurde ein viele Kilometer hoher und hunderte Meter breiter Wall um Kael herum gebaut: der Schwarze Vorhang. Nur wenige Leute blieben im Zentrum zurück. Heute können nur noch die wenigsten Wesen, die sich der überschwärzten Umgebung angepasst haben, dort bestehen. Da allgemein angenommen wird, die universale Fusion habe die Masse der Erde in einer Art und Weise gekrümmt, sodass deren Oberfläche sich heute ins Unendliche erstreckt, war die Evakuierung des Zentrums für die beiden Präfekturen Atlas und Solaspitz nicht weiter schlimm gewesen. ›Die Höhere Macht hat uns ja schließlich unendlich viel Spielraum verschafft‹, so der erste Präsident von Atlas. Er und seine Gefolgsleute interpretierten das Unlicht als eine Art ›göttliche Herausforderung‹ und meinten, eine immerzu in die Weite wachsende Ringstadt um Kael herum sei die Lösung für das Problem, und so könnten alle Leute auf der Welt in einer Gemeinschaft leben. Wir in Lichterloh waren vom Streben nach Tugend und Wahrheit geleitet und setzten alles daran, das Unlicht zu studieren und zu eliminieren. Statt wie die Atlassen Weltpolizei zu spielen, versuchten wir den Ursprung von all dem Unheil zu ergründen. Es bildete sich eine Forschungsallianz aller größerer Hochschulen der Präfekturen, die unter transnationalem Gesetz das Unlicht studieren dürfen. Tja – und trotz intensiver Forschung ist es uns bis heute nicht gelungen, eine Lösung für Kael und die Unlichtplage zu finden. Lichterloh investiert, seit seiner offiziellen Gründung im Jahr 502 ab Neuzeit, Unmengen an Zeit und Licht in die Erforschung des Laternenwalds. Seit etwa dreihundert Jahren haben wir unser Forschungsgebiet bis weit in den Sternenwald ausgeweitet. Bis heute gibt es allein 254 durch Lichterloh unterhaltene Forschungsstationen, die vom Zentrum Kaels über tausende Kilometer des Laternenwalds, bis weit in den Sternenwald hinein verteilt sind. In Lichterloh überwiegt im Volksglauben die Idee, dass die Antworten auf all unsere Fragen vielleicht irgendwo da draußen auf uns warten und von uns entdeckt werden müssen. Darum habe ich mich in meinen jungen Jahren entschieden, Exploration zu studieren und bin dann auch auf diesem Gebiet geblieben. Die Frage nach Wahrheit und Existenz hat mich bis hierher geführt, und ich werde niemals aufgeben, nach Antworten zu suchen.«

      Anker stieß einen tiefen Seufzer aus. Seine Stimme war während seiner Rede immer leiser geworden – oder war es der Wind, der lauter geworden war? Ein großer Regentropfen zerbarst