Benjamin Stutz

Die Laternenwald-Expedition


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Schacht der Rutschanlage. Dann drehte er sie um, sodass sie sich Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.

      »Keli, ich möchte, dass du ins Tal rutschst und bei der Haltestation der Wasserbahn nach Herbstfeld auf mich wartest.«

      »Was soll das heißen? Kommst du nicht mit?«, fragte Keli in zittrig weinerlichem Ton.

      »Ich werde den Leuten vor dem Rathaus helfen, die Eismassen zu bewältigen. Ich kann sie nicht ihrem Schicksal überlassen.«

      »Aber, ich kann auch helfen –«

      Doch schon hatte Loyd Keli einen Schubs gegeben. Keli landete rücklings im Schacht der Rutsche, wo sie mit wutentbranntem Gebrüll und immer schneller werdend in der Dunkelheit verschwand. Loyd watete schwer atmend, so schnell er konnte, durch das Wasser zur Tür der Station hinaus und war schon halbwegs durch den Tunnel zurück, als der Boden unter seinen durchtränkten Füßen abermals erzitterte. Das Krachen, das vom Eis ausging, war zu einem trommelfellzerfetzenden Donnern angeschwollen. In der Ferne konnte er Leute schreien hören. Das Beben war so intensiv, dass er gezwungen war, ins Wasser zu knien. Dann, urplötzlich und zu Loyds blankem Entsetzen, kam eine blaue Wand eisklaren Wassers aus der Tunnelbiegung auf ihn zugeschossen. Loyd wurde von den Füßen gerissen und Richtung Station zurückgeschwemmt. Mit ungeheurer Kraft wurde er in die Rutschanlage hineingepresst, prallte mit dem Kopf gegen die Barrieren und wurde schließlich in das dicke Rohr der Eisrutsche hineingesogen, in das er noch vor einigen Augenblicken Keli gestoßen hatte. Alles um ihn herum versank in Finsternis.

      Tanzende weißgoldene Lichtpunkte bewegten sich auf und ab. Es waren schöne Lichter, Farben, die Loyd nur von zwei Orten her kannte. Der eine Ort waren Lichtfabriken, die er während seines Studiums auf Exkursionen besucht hatte. Lichtfabriken waren Anlagen, die um Sonnenlöcher herum gebaut wurden und den Präfekturen als Energiequellen dienten. Der ungefilterte Teil des Alten Sonnenlichts flutete tagsüber aus jenen gewaltigen Röhren heraus, prallte an den himmlischen Scheiben ab und warf blaue, grüne, und rote Farbtöne auf die Fläche zurück, die man als »Laternenwald« bezeichnete. Abends erloschen die Strahlen, die aus den Sonnenlöchern drangen, bis sich die Schächte am Morgen darauf wieder mit Altem Sonnenlicht füllten. Die Zonen weiter außen, die außerhalb jenes Lichtkreises lagen, waren wiederum als »Sternenwald« bekannt, über dessen Regionen es grundsätzlich nur sogenannte Sternfäden gab, die sich kreuz und quer über den Himmel verrenkten und für eine düstere Atmosphäre sorgten. Da vor allem Menschenwesen und andere intelligente Wesensarten vom Licht der himmlischen Scheiben profitierten, bewohnten sie dieses vorteilhaft beleuchtete Gebiet schon seit dem Beginn der Neuzeit, obschon es weiter außen ebensolche Sonnenlöcher gab, die nur darauf warteten, von Explorern, wie Loyd einer war, gefunden und bewirtschaftet zu werden.

      Loyd nahm einen tiefen Atemzug und begann augenblicklich zu husten. Dem Geruch nach zu urteilen, befand er sich wohl nicht in einer Lichtfabrik. Es roch stark nach Waldboden und Tannennadeln und ein bisschen nach Sumpf. Der einzige Ort, wo es sonst noch weißes Licht gab, lag im Laternenwald selbst. Tief in dessen weiten Waldflächen gab es Wesen, die selbst kleine Mengen weißes Licht erzeugen konnten. Loyds Augen gewöhnten sich allmählich an seine Umgebung. Sein Blick fiel auf kleine helle Lichtgeistchen, die weit oben im Astwerk tanzten und die Umgebung feierlich beleuchteten. Er musste tief im Laternenwald sein, denn in der Nähe von Menschenwesen waren diese Geschöpfe normalerweise nicht anzutreffen. Die Lichtgeistchen gehörten zur Familie der Lichtinsekten und Loyd wusste, dass sie den Menschenwesen oft als Lichtspender an abgeschiedenen Rastplätzen dienten und die Wegweiser auf langen Expeditionen in die Weiten der unerforschten Wälder verkörperten.

      Loyd versuchte, seinen Kopf zu bewegen, um die Umgebung zu erspähen. Ein kleines Feuer flackerte nicht weit entfernt von der Holzbank, auf der er lag. Loyd fühlte sich schrecklich. Sämtliche Gliedmaßen schmerzten. Er konnte sich nicht erinnern, was passiert und warum er mitten im tiefsten Laternenwald aufgewacht war. Er versuchte, etwas zu sagen, brachte aber nur ein klägliches Stöhnen hervor. Etwas bewegte sich in der Nähe.

      »Loyd!«, ertönte eine vertraute Mädchenstimme. »Du bist wach.«

      Loyd hörte schnelle Schritte. Das besorgte Gesicht seiner Schwester tauchte vor seinen Augen auf und verdeckte seine Sicht auf die glitzernde Baumkrone.

      »Loyd, kannst du mich hören?«, fragte Keli vorsichtig und neigte ein Ohr nahe an den Mund ihres Bruders. Loyd versuchte vorsichtig, seine Arme zu bewegen. Sie schienen nicht gebrochen zu sein. Es gelang ihm, eine Hand kurz anzuheben, er ließ sie dann aber kraftlos wieder sinken.

      »Dem Himmel sei Dank. Ich dachte schon, du wärst tot«, flüsterte Keli mit bebender Stimme. »Als ich unten in der Tal-Rutschstation ankam, wurde auf einmal der ganze Berg zu einer Eislawine. Zum Glück hat mir die Kälte nichts ausgemacht, sonst wäre ich in der Sturzflut entweder erfroren oder ertrunken. Und dann plötzlich, als ich mich an einem Baum festklammerte, sah ich dich im überquellenden Flussbett vorbeitreiben. Brühwarme Schneesuppe, ich habe mir fast in die Hose gemacht.« Keli schluchzte; sie hatte Tränen in den Augen. Sie versuchte sich an einem mutigen Grinsen, das ihr aber merklich misslang.

      »Wo sind wir?«, wollte Loyd leise stöhnend wissen.

      »Im Laternenwald südöstlich der Tal-Rutschstation. Ich glaube, zu Fuß sind es ein paar Stunden bis nach Herbstfeld. Ich vermute, alles nördlich von hier und auch die Bahnlinien liegen unter Wasser und Eis begraben. Ich habe ein Feuer gemacht, um unsere Kleider zu trocknen.«

      Keli legte umsichtig eine Hand auf Loyds Stirn.

      »Du scheinst Fieber zu haben. Am besten ruhst du dich ein wenig aus. Ich werde in der Zwischenzeit auf dich aufpassen.«

      Kelis zarte, warme Hand fühlte sich beruhigend an. Obwohl seine Schwester gerade mal dreizehn geworden war, wirkte sie – wenn sie nicht gerade ihre pubertären Anfälle hatte – oft sehr erwachsen. Loyd wollte eigentlich noch fragen, was genau geschehen war, doch als er nur für einen Moment die Augen schloss, übermannte ihn der Schlaf und er ließ los.

      Als Loyd das nächste Mal die Augen öffnete, fühlte er, dass es ihm viel besser ging. Er lag auf einem weichen Bett und spürte, wie eine frische Brise durch ein Fenster über seinem Kopf ins Zimmer strömte. Von draußen schien das Nachmittagsblau freundlich auf seine Bettdecke. Das unverkennbare Geräusch von Grillen war zu vernehmen, die mit ihrem Gesang gespannt den Abend begrüßten. Es gelang Loyd, den Kopf nach links zu wenden. Sein Blick fiel auf eine Reihe von Krankenbetten, auf denen mit Verbänden umwickelte Gestalten lagen. Sein Gedächtnis schien ebenfalls von einer dicken Binde umwoben zu sein und wollte ihm nicht beichten, was ihm widerfahren war. Er wollte sich gerade aufrichten, als die große Doppeltür des Krankensaals aufschlug.

      »Loyd! Herr Ankerbelly, er ist wach!«

      Herein kamen drei Leute: Keli, gefolgt vom maßlos dicken und graubärtigen Professor Ankerbelly und einem jungen, lockigen Krankenpfleger. Keli rannte an Loyds Seite und strich sich mit dem Ärmel ein paar Tränen aus dem Gesicht.

      »Bist du okay? Wie fühlst du dich? Weißt du, wer ich bin?«, sprudelte es aus Keli hervor.

      Ehe Loyd den Mund aufmachen konnte, trat Ankerbelly ans Bett, so gut dies ging, denn sein Bauch war so groß, dass er fast einen Meter vom Bett entfernt stehen bleiben musste.

      »Alles mit der Zeit, Keli«, sagte Ankerbelly mit einem breiten, freundlichen Lächeln. Er sah, obwohl seine Mundwinkel nach oben zeigten, recht mitgenommen aus.

      »Loyd, du und deine Schwester, ihr habt mir einen gehörigen Schrecken eingejagt. Zum Glück bin ich noch früh genug aufgebrochen, um nach dir zu sehen.«

      »Was ist passiert?«, fragte Loyd, vorsichtig zu seiner Stimme findend. »Ich erinnere mich an fast gar nichts. Da waren goldene Lichter überall.« Seine Stimme klang leiser und rauer als er beabsichtigt hatte.

      »Nun, eins nach dem anderen«, sagte Ankerbelly gutmütig. »Zuerst mal müssen wir herausfinden, wie es dir geht.«

      Der Krankenpfleger, der mit ihnen ins Zimmer gekommen war, maß gerade Loyds Blutdruck. Er sah gestresst aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Er fragte, wie es Loyd gehe, ob er Schmerzen habe, und