Benjamin Stutz

Die Laternenwald-Expedition


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schwarzen Beutel heraus, schüttelte sich einen hell leuchtenden Kristall auf die Hand und strich sich diesen über die Handfläche seiner Linken. Sofort begann heißer Dampf, von seinen Händen aufzusteigen. Diese setzte er an die blauglänzende Schneewand, wo bereits seine Eltern versucht hatten, die Stufen auf traditionelle Weise, per Schaufel, wieder freizumachen und begann mit der Schneeschmelze.

      Überall im Dorf waren die Leute mit Schmelzen beschäftigt. Man traf sich auf mittlerem Wege in den Eispassagen oder auf dem Gemeindeplatz. Man lachte, man argwöhnte, und doch hörte man bis zum Abend von nirgends über den schwer erhofften Durchbruch. Auch am nächsten Tag und am Tag darauf gab es keine Erfolgsbekundungen. Dafür versammelten sich die Einwohner im Rathaus und verteilten heiße Suppe aus dem Tal, die per unterirdischer Eisrutsche heraufgebracht worden war.

      Von der Zuversicht, dass man es in den kommenden Tagen endlich nach oben schaffen würde, war nicht mehr viel zu spüren. Skepsis breitete sich unter den Bürgern aus und das Thema, das Dorf doch lieber durch die Eisrutsche zu evakuieren, schlich sich langsam wieder in die nicht mehr ganz so gesprächigen Runden.

      Dann geschah etwas, mit dem nicht einmal der Dorfälteste gerechnet hatte. Durch das Dauerschmelzen des Eises und Schnees, hatte sich am Grund der Siedlung ungewöhnlich viel Wasser angesammelt. Auf dem gesamten Gelände unterhalb des Gletschers drohte eine Überschwemmung, während über ihnen die Ein- und Ausgänge der Frierhütten nach wie vor verstopft waren. Der Dorfälteste ordnete deshalb am Abend des zweiten Tages nach dem Unwetter an, mit dem Schmelzen aufzuhören. Zu diesem Zeitpunkt war das Erdgeschoß der meisten Häuser bereits mit eisigem, knöcheltiefem Wasser durchflutet. Manche Familien brachten es zustande, das Wasser mit Altem Sonnenlicht, wie es Loyd besaß, von ihren Hauswänden abzuweisen. Doch trotz sofort eingeleiteter Maßnahmen stieg der Wasserpegel weiter an, bis der Dorfälteste am Ende des dritten Tages nach dem Schneesturz alle Familienoberhäupter zu einer erneuten Versammlung im Rathaus einberief.

      Am Abend vor der Zusammenkunft, als Loyd, Keli und deren Eltern in der warmen Stube im ersten Stock ihrer großen Frierhütte saßen und versuchten, ihren alltäglichen Beschäftigungen nachzugehen, nahm das Leben der Familie Lanthorn einen unvorhergesehenen Lauf. Ein unheimliches Ächzen und Knarzen war von unter dem Fußboden, sowie über der Stubendecke zu vernehmen. Das Geräusch schien nicht aus unmittelbarer Nähe zu kommen, aber es ließ erahnen, dass es die umliegenden Gletscherschichten waren, die sich aneinander rieben. Selbst für die Einwohner Hildenberges, die an Geräusche aus dem Eis gewöhnt waren, stellten diese keine üblichen Laute dar. Loyd, der am Esszimmertisch über drei Lehrbüchern zugleich gebrütet hatte, hob den Kopf bei dem Lärm. Seine scharfen Augen fixierten zuerst die Holzdecke des Zimmers, an der ein warmes, rotes Licht brannte, dann sank sein Blick auf seine Mutter, die zeitgleich ihre Augen von der Decke abwandte, während ihr Mund halb offenstand. Loyds Vater, der gerade dabei gewesen war, das abgewaschene Geschirr abzutrocknen, fand als erster zu seiner tiefen Stimme zurück, die nun sehr ernst klang: »Das hört sich gar nicht gut an. Ich glaube, das alte blaue Eis steht durch den vielen Neuschnee ziemlich unter Druck. Bin mir nicht sicher, ob es nicht besser wäre, zur Talstation hinunterzurutschen, die Bahn nach Lichterloh zu nehmen und nicht auf die morgige Versammlung zu warten.«

      Arika war ans Fenster des Esszimmers getreten und spähte in die nachtblaue Eiswand hinein, die von den beleuchteten Fenstern der umliegenden Frierhütten erhellt wurde. Keli und Loyd standen beide auf und taten es ihr gleich. Das Poltern wurde lauter, dann wieder leiser – dann plötzlich fing der Boden an zu beben und das Ächzen schwoll zu einem ohrenbetäubenden Donnern an. Loyds Vater schob den Teller, den er eben abgetrocknet hatte, in den hölzernen Geschirrschrank neben dem Herd und rief, mit raschen Schritten zur Esszimmertür eilend: »Kommt, wir packen unsere Sachen. Wir haben keine Ahnung, was da oben vor sich geht. Es ist besser, wenn wir sofort aufbrechen. Ich schick eine Nachricht zu Onkel Nonpe. Wir holen noch unsere Eltern, dann brechen wir sofort auf. Los jetzt!«

      Alle hasteten in ihre Zimmer und fingen an, ihre Habseligkeiten zusammenzuraffen. Loyd klemmte seine wichtigsten Bücher unter den Arm und stopfte diese, seinen Studentenschal, sämtliche Laborutensilien und den Metalldetektor in seine Schultertasche und begab sich daraufhin vor das Zimmer seiner Schwester nebenan. Währenddessen sprach er eine Lichtmail für Ankerbelly, in der er ihm flüchtig die Umstände in Hildenberge erläuterte. Seine Eltern waren noch immer oben in ihrem Schlafzimmer.

      »Keli, bist du bereit? Lass das Blattspiel liegen! Das kannst du unmöglich mit nach Lichterloh nehmen.«

      »Du verstehst das nicht«, erwiderte Keli knapp, wobei sie fieberhaft versuchte, hunderte Spielkarten, die überall auf dem Zimmerboden verteilt lagen, zu bündeln und in eine kleine Stofftasche zu stopfen. »Dafür habe ich mein ganzes Leben lang gespart.«

      Plötzlich gab es einen markerschütternden Knall, und das ganze Haus erbebte bedrohlich.

      »Ach du zwickendes Schmelzwasser!«, entfuhr es Loyd mit panischer Stimme.

      Das Geräusch von zerberstendem Holz war zu hören, und Wasser fing an, durch Risse an der Decke zu strömen.

      »MAM, PAPS, NEIN!«, brüllte Keli und stürmte Richtung Treppe los, die ins obere Geschoss führte. Doch Loyd war schneller. Im Bruchteil einer Sekunde signalisierte sein ausgeprägter Überlebensinstinkt, was zu tun war, und gerade noch rechtzeitig konnte er seine Schwester von hinten packen. Er umklammerte sie um die Hüfte und, obwohl Keli wie verrückt zappelte, hob Loyd sie auf und bugsierte sie grob die Treppe ins Erdgeschoß hinunter. Kelis halb gefüllter Rucksack und Loyds Unitasche waren im mittleren Stock liegen geblieben. Nun sprudelte auch schon eisiges Wasser durch alle möglichen Rinnen und Öffnungen ins Erdgeschoß hinunter. Loyd stieß mit dem Fuß die hölzerne Haustür auf, worauf eine eiskalte, kristallblaue Wasserwelle über sie hinwegbrandete. Nach der ersten Flut war der Wasserstand noch kniehoch. Vor ihnen erstreckte sich der altbekannte unförmige Eistunnel, der nach ein paar Metern nach links weg bog. Loyd warf Keli, die wild um sich schlug, vor sich ins Wasser. Keli sprang sofort wieder auf. Sie wollte zurück ins Haus jagen und rammte Loyd dabei in die Bauchgegend, woraufhin dieser ihr einen zünftigen Haken verpasste. Keli flog rücklings ins eisige Wasser.

      »Keli!«, brüllte Loyd mit vor Furcht verzerrter Grimasse. »Du Dummkopf, wir haben keine Zeit! Das Eis bricht über uns zusammen. Mam und Paps können wir jetzt nicht helfen.«

      Er watete zu Keli, strich sich rasch mit dem Lichtkristall über die linke Handfläche und machte dann eine einhüllende Bewegung über Kelis Profil. Anschließend tat er dasselbe bei sich. Unterdessen wurden große Stücke Eis und Holz durch die Haustür getrieben.

      »Das sollte uns vor der Kälte bewahren, bis wir im Tal sind«, rief Loyd durch das anschwellende Tosen des Wassers, das aus Haustür und Fenstern sprudelte. Keli schien den Tränen nahe, wehrte sich aber nicht weiter und ließ sich Richtung Tunnelwindung fortbewegen. Als sie um die altbekannte Kurve des Tunnels bogen, war das Rathaus nicht mehr allzu weit entfernt. Von weither sahen sie, dass sich etwa zwei Dutzend Personen vor dem traditionell verzierten, hölzernen Gebäude versammelt hatten. Es war nahezu stockdunkel, doch konnten sie erkennen, wie rote Lichter über den Köpfen der Masse umherflogen. Loyd und Keli eilten, so schnell sie konnten, auf die Ansammlung zu.

      »Diese Lichter. Was machen die Leute da?«, keuchte Keli angsterfüllt.

      »Das sind Gravitationslichter. Wahrscheinlich wird Licht gebündelt, um das Eis vor dem Einbrechen zu bewahren«, rief Loyd, ohne sich umzudrehen.

      Als sie der Menge und ihrem buntfarbenen Lichtspiel näherkamen, erkannten sie, dass einige Männer, darunter ihr Großvater, ihre gefalteten Hände mit verkrampften Gesichtern nach oben auf die donnernde Eisdecke gerichtet hatten. Sie schrien den Geschwistern entgegen: »Loyd, Keli! Flüchtet ins Tal! Das Eis bricht über uns zusammen. Wir wissen nicht, wie lange wir es noch aufhalten können.«

      Loyd zögerte keinen Augenblick. Er griff Keli bei der Schulter und zusammen rannten sie an der Licht bündelnden Gruppe vorüber, am Rathaus vorbei, weiter in einen dunkelviolett funkelnden Gang, bis sie nach mehreren Windungen vor der Berg-Rutschstation ankamen. Das Tor des Gebäudes stand offen. Der Schalter, auf den man üblicherweise eine Hand hielt, um mit Altem Sonnenlicht zu bezahlen, war verlassen und schien nicht zu funktionieren.