Anton Reutlinger

Phänomenologischer Materialismus


Скачать книгу

zu neuen Erkenntnissen bringen, oder können bisherige Erkenntnisse korrigieren. Über der gesamten Naturwissenschaft schweben die Erhaltungssätze der Physik, ohne deren fundamentale Gültigkeit die Erscheinungen der Natur nur Zufallscharakter und das Weltgeschehen keine Menschen und kein Bewusstsein hervorgebracht hätte. Ohne die Erhaltungssätze hätten mathematische Gleichungen zur Beschreibung der Natur keine Aussagekraft und wären gar nicht erst entstanden.

      Weißes Licht ist ein alltägliches und universell bekanntes Phänomen. Das phänomenale Verstehen von Farben gehört zu den ersten Erfahrungen des Lebens und die zugehörigen Begriffe zu den ersten Wörtern im Verlauf des kindlichen Spracherwerbs. In der Schule lernt man, dass weißes Licht durch Mischung aller Regenbogenfarben entsteht. Licht wird von den Sinnesnerven der Augen aufgenommen und im Nervensystem verarbeitet. Farben existieren als irreduzibles Phänomen allein in unserer Innenwelt. Sie sind entscheidend für das Erkennen von Objekten anhand von unterschiedlich farbigen Konturen und Flächen. Sicher kann man herausfinden, welche Areale des Gehirns aktiv sind, welche Vorgänge sich abspielen im Verlauf der Wahrnehmung einer roten Tomate, bzw. Licht eines bestimmten Spektralbereichs. Im orbitofrontalen Kortex des Gehirns über den Augenhöhlen laufen alle Sinnesmodalitäten aus vorgeschalteten Sinnesarealen sowie aus der Amygdala, dem emotionalen Zentrum, zusammen. Somit ist der orbitofrontale Kortex der erste Kandidat für den Sitz von Bewusstseinsfunktionen. Warum das Licht eines Gegenstandes aber als spezifische Farbe empfunden wird, das zeigt sich nicht in elektrischen, chemischen oder physikalischen Objekten, Signalen oder Messwerten, sondern ist das ungelöste Rätsel des Bewusstseins.

      Im Gegensatz zu Farben ist ein Auto ein Objekt in der Außenwelt, das aus Einzelteilen oder Bauelementen zusammengesetzt ist und entsprechend wieder in die Einzelteile zerlegt und darauf reduziert werden kann, indem das Auto nicht als aggregiertes, komplexes Objekt, sondern als Struktur der Einzelteile mit geringerer Komplexität beschrieben wird. Als menschgemachtes Objekt sollen die Einzelteile bestimmte Funktionen erfüllen, so dass die Zweckmäßigkeit des Gesamtobjektes erreicht wird. Natürliche Objekte dagegen unterliegen keiner Zwecksetzung, ihre Einzelteile gehorchen allein den physikalischen Kausalitäten. Das gilt auch für lebende Organismen einschließlich des menschlichen Gehirns als Träger des Bewusstseins. Die Segregation und die Reduktion auf Einzelteile oder Bauelemente kann beliebig fortgeführt werden, über mehrere Aggregationsstufen, jedoch ist die Reduktion einer Metallschraube auf ihre ununterscheidbaren Moleküle oder Atome nicht mehr sinnvoll, weil sie zum funktionalen Verstehen der Schraube und des Autos nichts mehr beiträgt. Spezifische Form und Verhalten des Bauelements verschwinden bzw. entstehen als Emergenz auf dieser Ebene der Komplexität. Natürlich könnte die Wahl eines anderen Metalls, eventuell einer Legierung, bei gleicher Funktion die Verhaltenseigenschaften verändern. Das wäre für die Synthese oder Konstruktion verbesserter Objekte von Bedeutung.

      Gegen eine rein reduktionistische und nomothetische Naturwissenschaft, die jedem funktionalen Verstehen vorausgeht, wendet sich auch die Wissenschaftstheoretikerin Nancy Cartwright (*1943), eine Vertreterin des Entitätenrealismus. Ihrer Meinung nach gibt es keine absoluten oder starren Ordnungsstrukturen, wie sie in Naturgesetzen angenommen und beschrieben werden. Vielmehr sei die Welt "gefleckt", also vielfältig in ihren kausalen Beziehungen und ihren Phänomenen. Naturgesetze sind immer ceteris-paribus-Gesetze, gelten nur unter Beachtung bestimmter "Reinheitsbedingungen", auch in der Physik, wo das gerne unterschlagen wird. Der wesentliche Aspekt dabei ist, dass Naturgesetze schon unter ceteris-paribus-Bedingungen zustande kommen, weil die zu Grunde liegenden Beobachtungstatsachen nur unter solchen Bedingungen gewonnen werden können.

      Beispielsweise ist die Uhr als Zeitmesser selbst ein technisch-physikalisches System, das nicht über der Physik schwebt, sondern als Generator von Referenzereignissen – das Uhrwerk - rekursiv in sie eingebunden ist und nur sich selbst messen kann. Cartwright unterscheidet fundamentale Gesetze mit Erklärungswert, aber zu ungunsten empirischer Adäquatheit, von phänomenologischen, beschreibenden Gesetzen ohne Erklärungsinhalt. Fundamentale Gesetze haben annähernd Gültigkeit für Modelle von Laborphänomenen oder extremen Phänomenen, wie sie in der Sonne singulär vorkommen, aber nicht in der Lebenswelt. Die phänomenale Realität ist immer eine Überlagerung verschiedener fundamentaler Naturgesetze, die sich in ihren Wirkungen verstärken oder auch neutralisieren können. Schwerkraft und Trägheitskraft können ein dynamisches Gleichgewicht bilden und somit andere Phänomene hervorbringen als bei Einzelbetrachtung. Deshalb haben phänomenologische Gesetze den Charakter von Naturregeln, die auch Abweichungen und Ausnahmen zulassen. Die fundamentalen Naturgesetze können also weder die phänomenale Realität noch die Realität als „wahre Natur“ beschreiben, denn die Natur dieser Naturgesetze existiert einfach nicht. Dennoch haben Naturgesetze die unverzichtbare Eigenschaft, innerhalb ihres Gültigkeitsbereiches gegenüber Raum und Zeit, oder besser der Raumzeit, invariant zu sein.

      Das Gedankenexperiment „Gehirn im Tank“ fällt bei näherer Betrachtung in sich zusammen. Der Simulationscomputer müsste nicht nur über unendliches Wissen verfügen, er müsste obendrein von einem Gehirn gebaut sein. Es gäbe also noch ein zweites Gehirn, das seinerseits nicht im Tank ist und mit dem Gehirn im Tank kommunizieren könnte. Es könnte dem Gehirn im Tank mitteilen „du bist ein Gehirn im Tank“. Gäbe es außerhalb des Tanks kein Gehirn, dann könnte das Gehirn im Tank nicht erkennen, dass es im Tank wäre, bzw. es wäre völlig irrelevant, weil es keinen Vergleich hätte. Erst seit Astronauten im Weltraum denkbar und möglich sind, macht es Sinn, zwischen Menschen auf der Erde und Menschen im Weltraum zu unterscheiden.

      Das Gedankenexperiment zeigt einerseits, dass der Skeptizismus, wie er in der beschriebenen Zirkularität der Naturwissenschaft zum Ausdruck kommt, prinzipiell nicht zu widerlegen ist, wenn das Experiment wie gedacht ausgeführt werden könnte, andererseits aber, dass er durch pragmatische Argumente zu neutralisieren ist. Der Mensch kann guten Gewissens sagen: „ich weiß, dass da draußen eine Welt ist, die ich wahrnehmen kann, mit der ich kommunizieren und in Interaktion treten kann“. Diese Welt ist keine existenzielle Täuschung und keine Illusion, weil sie nach aller Voraussicht auch morgen noch vorhanden sein wird, weil sie nicht plötzlich verschwinden oder in anderer Form erscheinen wird. Diese Welt ist ohne Lücken, sowohl räumlich als auch zeitlich; es gibt eine synchrone und eine diachrone Kontinuität der Erscheinungen. Was mich täuschen kann, das sind meine Sinneseindrücke, meine Deutungen der Sinneseindrücke, die Bedeutungen meiner Begriffe, meine Schlussfolgerungen und Vorhersagen. Die Konsistenz der bekannten Naturgesetze über Zeit und Raum, ihre Widerspruchsfreiheit und Kohärenz untereinander, die Funktionalität des Gehirns in Verbindung mit dem Leib als erfahrendes Subjekt, die Vielfalt und Redundanz der Wahrnehmungen, die Bestätigung durch wiederholte Erfahrungen über Jahrtausende, sowie die Kommunikation mit anderen Subjekten über gemeinsame Wahrnehmungen können die subjektiven Täuschungen oder Irrtümer auf ein unbedeutendes Maß minimieren, so dass Vorstellungen und Überzeugungen als Wissen über diese Welt pragmatisch gerechtfertigt werden können. Es besteht also kein Anlass zu einer pessimistischen Skepsis. Insbesondere die kreative Gestaltung und Herstellung zweckmäßiger Gegenstände und von Kunstobjekten bestätigt die Gemeinsamkeit und die Zuverlässigkeit, die empirische Adäquatheit der menschlichen Sinnesvermögen und der Vorstellungen im Bewusstsein.

      Damit kann auch die Existenz von fiktiven Dingen-an-sich außerhalb des Subjekts, im Sinne von Kants transzendentalem Idealismus, ontologisch und epistemologisch gerechtfertigt werden. Die Signale, die von unseren Sinnen empfangen werden, sind nicht die Dinge selbst, sogar dann, wenn wir sie anfassen können. Die Dinge-an-sich können mit Aussendung von Signalen an erkennende Subjekte ihre variablen Eigenschaften als Zustand, nicht aber ihre wesenhaften, existenziellen Eigenschaften ändern, ohne ihr Sein oder ihre Wesenheit zu ändern. Durch Absorption oder Emission eines Photons kann ein Elektron-an-sich seinen energetischen Zustand ändern, aber nicht seine Ruhemasse und elektrische Ladung als identifizierende Eigenschaften und damit nicht seine Existenz. Das Elektron kann als Erscheinungsform beliebig oft beobachtet werden, an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Zuständen, abgesehen von den Eigenheiten der Quantenphysik. Ein Elektron kann aber nicht aus dem Nichts erscheinen, oder im Nichts verschwinden, außer virtuell durch Paarbildung. Von der Erscheinung, also von den empfangenen Signalen, kann weder empirisch noch epistemisch auf wesenhafte Eigenschaften der Dinge-an-sich rückgeschlossen werden. Die Signale von den Objekten erlauben nur eine unvollständige