Lena Dieterle

Reflexion


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mit dem Gegenspieler, der kam mir bereits…“

      „Ich kann es dir aus meiner Erfahrung berichten… die Einsamkeit durchläuft verschiedene Reifegrade und ihr Erleben ist auch eine Persönlichkeitsfrage. Einigen gelingt es besser, die Einsamkeit auszuhalten oder gar als Geschenk zu betrachten, anderen deutlich schlechter. Doch glaube mir, spätestens auf den letzten Metern deines Lebensweges, wenn der körperliche Verfall eingesetzt hat und Danke zur meist verwendeten Vokabel wird, ist es gut, etwas sehr Wichtiges gelernt zu haben. Und zwar, Hilfe annehmen zu können. Und um Hilfe erhalten zu können, muss man mindestens ein Teil der Gesellschaft sein und… so gebührt es der Anstand, selbst einmal Hilfe gegeben haben“. Valerie blickt ernst und streichelt dabei Justines Hand.

      „Deine Taube ist ein ganz bezauberndes Geschöpf und ich bin froh, dass ihr euch gefunden habt. Und auch dein Bedürfnis nach völliger Ruhe ist nachvollziehbar. Doch hole dir bitte Menschen oder Tiere hinzu, wenn dir die Isolation nicht mehr gut tut. In meinen besten Zeiten hier hatte ich fünf Katzen. Zwei vom Bauern, die anderen sind mir zugelaufen. Anfangs waren sie scheu, doch zum Schluss saß ich keinen Abend mehr alleine vor dem Kamin. Deine Tierliebe ist so groß, erlaube dir ruhig diese Art der Gesellschaft. Du bist nun hier angekommen und hast alles im Griff, auch wenn es sich für dich vielleicht nicht immer so anfühlt“… Valerie spricht mit einer Überzeugung, die auch für Justine keine Bedenken oder Widerworte mehr zulässt.

      „Du hast recht, ich werde mich ganz bald umsehen. Denn, ganz ehrlich… bin selbst froh, wenn ich nicht mehr ganz alleine hier lebe“, Justine muss kurz an die angenehme Gesellschaft von Leopold denken und seufzt.

      „Jetzt verrate ich dir noch etwas, meine liebe Jus. Dein Wegbegleiter ist schon auserwählt, er wartet bereits auf dich.“

      Jetzt macht Justine große Augen. „Wirklich? Wie kann ich ihn denn erkennen?“

      „Das wirst du, mein Kind, das wirst du.“

      Tante Valerie steht auf und nimmt Justine fest in den Arm. Justine möchte ihren Duft einatmen, doch sie riecht nur sich selbst und einen Hauch von Lavendel, der in getrockneten Sträußen über ihren Köpfen an der Decke baumelt. Dann macht Valerie eine Handbewegung, die Justine zum Verbleiben auffordert und geht zur Tür, winkt kurz und ist verschwunden. Als Justine nach ein paar Sekunden aufsteht und ihr nach geht, sieht sie draußen nur noch das Morgenrot, das sich glitzernd den Weg durch Frühtau bahnt. Ein Waldkauz ruft. Die Erde dampft.

      Eigensinn

      Als Justine auf Wollsocken im Eingangsbereich steht, bildet sie sich ein, auf dem von Valerie gemalten Porträt ein etwas breiteres Lächeln zu sehen. Zurück in der Küche will sie die Tassen abräumen, da ist der Tisch leer und der Ofen noch aus. Sie hatte bloß geträumt… und dann kommen ihr die Tränen.

      Wie gut es tat, für den Moment nicht alleine gewesen zu sein und nun war doch bloß wieder alles eine Illusion. Das Gesagte aber, das bleibt mir doch.

      Justines Körper schüttelt sich. Dann geht sie zu dem alten Schrank in der Küche und ruckelt am Knauf, der ein wenig klemmt. Und siehe da, ganz hinten in der mittleren Schublade ist die Einlage mit den Kartenspielen. Sie nimmt das erste Etui heraus und öffnet vorsichtig den Deckel. Dort liegen die Karten genauso, wie sie es geträumt hatte. Daneben das Buch, in dem die verschiedenen Spiele erklärt sind.

      „Danke, Tante Vally. Das bedeutet mir so viel.“

      Seit diesem Tag beginnt die Lebensfreude und der Tatendrang wieder in Justine zu pulsieren. Sie möchte die Lethargie abstreifen und wie Leopold damals als einen Hut an die Garderobe hängen. Als sie ins Entrée geht, hängt dort tatsächlich wieder der schwarze Hut. Leopold war also doch kurz da. Justine nimmt ihn ab und fährt mit der Hand an der Krempe entlang. Und der Joker lacht aus seinem goldenen Rahmen. Sie lächelt zurück, hängt den Hut zurück an den Haken und geht hinaus in den Garten. Einfach so, ganz ohne Aufgabe, ohne Funktion. Nur lustwandeln, trotz aller Kälte. Sie pflückt einen Strauß von den ersten Schneeglöckchen, die überall in kleinen Nestern aus dem Boden sprießen. Justine hätte schwören können, dass sie gestern noch nicht da waren, doch wahrscheinlich hat sie gar nicht danach geschaut. Sie atmet erleichtert auf, denn diese zarte, weiße Blüte läutet ganz leise zwar nur, aber immerhin, das Ende des Winters ein. Als sie wieder ins Haus kommt und die warme Jacke abstreift, sind alle Haken an der Garderobe wieder frei.

      Nachdem der Strauß in der kleinen goldbemalten Vase drapiert ist, beginnt sie, im Haus klar Schiff zu machen, denn zu viel war zuletzt vor lauter lähmender Unlust liegen geblieben. Sie öffnet die alten Schränke im Gästezimmer, das sie seit Leopolds Weggang nicht mehr betreten hatte. Dort sieht sie Berge an Bettwäsche und Tücher aus Leinenstoff liegen, die sie selbst gar nicht so gerne benutzt.

      Was mache ich nur damit? Sie überlegt einen Moment, dann hat sie einen Plan. Kurzerhand greift sie Stapel für Stapel und stopft sie in große Umzugskartons. Das Leinen war irgendwann mal frisch gewaschen worden, dann gemangelt und zusammengelegt, riecht allerdings ein wenig nach altem Schrank. Zum Glück waren keine Motten dran. Justine entscheidet sich, alle Tischdecken und Stoffservietten, vier ­­­­­von den Spannbetttüchern und Bettwäsche-Sets zu behalten. Den Rest will sie dem Tierschutz spenden, wenn sie bald wieder mit dem Radanhänger fahren kann.

      Justine holt sich etwas vom Tauwasser herein und wäscht alle Decken einmal durch, hängt sie dann in der Küche zum Trocknen auf. Als Nächstes sammelt sie im Wald Tannenzapfen, Birkenrinde und gebrochene Zweige für das Anzünden des Feuers, denn ihr Vorrat an Zunder ist so gut wie aufgebraucht. Zuletzt sortiert sie die Einmachgläser im Schuppen der Größe nach.

      Weiter geht’s im Sandsteinkeller. Bei all der Bewegung kommt sie richtig ins Schwitzen. Und als Jus dort unten beim Räumen in den Regalen durch Zufall noch einen Beutel Reis findet, ist sie ganz aus dem Häuschen. Über was man sich alles so freuen kann, stellt sie überrascht fest. In einer europäischen Welt, in der es doch fast alles im Überfluss gibt, was hat ein Beutel Reis da noch für eine Bedeutung?

      Jus weiss sofort, was sie damit anstellen möchte. Draußen an den alten Holunderstämmen hat sie kürzlich etwas für sie ganz Besonderes entdeckt, denn daran wachsen braune Pilze, die man Judasohren nennt. Justine hat in einem Buch über Heilpflanzen darüber gelesen. Die Baumpilze haben den Namen von einer Sage zur Zeit Jesu, gehören zur Gattung der Ohrlappenpilze und werden auch als Heilpilze eingesetzt.

      In der Zubereitung sollen sie ähnlich zu verwenden sein die Mu-Err-Pilze, die Justine aus der asiatischen Küche kennt. Sie brät die Pilze gemeinsam mit zwei roten Zwiebeln scharf an und gibt dann einen Schuss Sojasauce und Kokosmilch hinzu. Abgeschmeckt wird das Pfannengericht mit der Vadouvan-Gewürzmischung aus dem Alten Gewürzamt, die neben Kurkuma, Kreuzkümmel und Curryblättern auch Erdnussöl enthält. Als der Reis fertig gekocht ist, richtet sie in einem tiefen Teller an. Im Mörser zerkleinert sie Erdnüsse und Sesam, die sie gemeinsam mit etwas getrockneter Chili darüber gibt. Nach den ganzen Bohnengerichten war diese spannende geschmackliche Abwechslung eine Wohltat. Ich kann es kaum erwarten, bis der Frühling endlich kommt. Doch Moment… was hatte Tante Vally gesagt?

      „Patience, Justine! Nur Geduld. Die Rolle des Vergänglichen ist es gleichermaßen, das Leben stets wieder neu hervorzubringen. Der Winterschlaf der Natur ist eine Einladung zur Rast auch für den Menschen. Wir haben das nur vor lauter Kommerz vergessen.“

      An diesem Abend öffnet Justine seit Wochen zum ersten Mal wieder eine gute Flasche Rotwein und beginnt mit dem Patience legen, nachdem Amie ihren Schlafplatz auf den Geschirrtüchern eingenommen hat.

      Sie mischt die Karten und beginnt, sie auszulegen. Anfangs konzentriert sie sich sehr auf das Spiel, doch mit der Zeit beherrscht sie die Spielzüge so sicher, dass ihre Gedanken immer wieder abschweifen.

       Musizieren? Ich und Musizieren.

      Justine zieht eine Karte vom Stapel… es ist die Kreuz 10. Sie pöbelt sofort los: „Musizieren?! Dass ich nicht lache. Du kannst ja noch nicht mal Noten lesen! Lass es sein, es wird dir nichts bringen.“