Lena Dieterle

Reflexion


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als perfekt zu zögern!“

      Dann die Karo 5: „Wenn es nicht klappt oder dir nicht gefällt, dann wirst du vielleicht enttäuscht sein. Du weißt, wie schnell du frustriert bist.“

      Es folgen zwei weitere Karten mit der Farbe Karo. Jede Karte bringt wohlwollend ihre Bedenken hervor. Dann der Kreuz König. Justine merkt, wie sie innerlich zusammen zuckt. Sie setzt sich aufrecht hin und spricht: „Na, dreiblättriger König, was hast du mir zu sagen?“. „Justine, wenn man etwas nicht kann, sollte man es sein lassen. Und du bist musikalisch völlig talentfrei und das weißt du auch. Also was soll das bitte?“. Jus streckt der Karte die Zunge raus, findet aber dennoch einen geeigneten Platz auf dem Spieltisch für sie.

      Dann die Herz Dame: „Liebes, du hast gar nichts zu befürchten. Folge dem Weg deines Herzens und sing zunächst einmal aus voller Brust. Du hast doch schon oft gesungen und es hat dir jedes Mal gut getan und dich befreit.“

      Es dauert noch gut zehn Spielzüge, bis das erste Mal der Pik König ins Spiel kommt. Wieder verändert Justine ihre Haltung. „Eure Hoheit, darf ich Sie mit einem Konzert beglücken? Auch, wenn ich nicht musikalisch bin?“

      Der Pik König spricht nicht, sondern beginnt, den Takt vorzugeben. Justine hört die Melodie von Gloria Gaynor heraus und beginnt beim zweiten Ansetzen, leise zu singen.

      „I am what I am, and what I am…“

      Sie stockt. Klingt gar nicht so schlecht, dafür, dass ich nicht singen kann. Der König verhält sich ganz leise. Er drängt nicht, er bemängelt nicht, er buht sie nicht aus. Er liegt einfach gedruckt auf einem Stück Papier vor ihr, so wie einst die Joker-Karte, die sie in Hamburg am Wegesrand fand. Wie ging es nochmal weiter? Sie setzt nochmals etwas lauter an und nach drei weiteren Versuchen singt sie aus voller Kehle. I am my own special creation… I bang my own drum, some think it‘s noise, I think it`s pretty“.

      Amie schaut sie mit ihren runden Taubenaugen an, bleibt aber ruhig sitzen. Justine singt alle Lieder, die ihr spontan einfallen. Sie singt so lange, bis ihr der Hals ein wenig schmerzt. Erst dann macht sie eine Pause. Gut.

      Dann der Kreuz Bube: „Und nun? Das war jetzt Singen. Zum Musizieren gehört aber schon noch etwas mehr.“.

      Pah, schon sein Tonfall alleine. „Musst du mich immer hetzen, du Sklaventreiber? Kannst du mich nicht mal machen lassen, verdammt nochmal!“. Doch ganz von der Hand weisen kann sie sein Argument natürlich auch nicht… denn bisher hat sie nur gesungen.

      Justine steht auf und schleicht suchend in der Küche umher. Die Gießkanne! Sie hat mal in irgendeiner Fernsehsendung gesehen, wie dort jemand auf einer Gießkanne Trompete spielte und probiert es gleich selbst aus. Nachdem sie den Aufsatz abgenommen hat, bläst sie mit voller Wucht in die Kanne. Das Ergebnis ist eher miserabel. Na, nicht gleich aufgeben, würde eine Herzkarte mich jetzt ermuntern. Eine große Blechschüssel und eine Gabel machen dann immerhin Krach, doch mit einer Melodie hat das auch nichts zu tun. Außerdem flattert die Taube aufgeschreckt auf. „Sorry, Amie. Ich hör schon auf.“

      Dann trommelt sie mit der Handfläche einen Beat auf der Tischplatte, der ihr gut gefällt. Eine Rassel wäre noch prima. Justine geht zu der Dose mit den Kronkorken und schüttelt daran. Nein, das hat zu wenig Klang. Da fällt ihr beim Brennholz eine Astgabel auf, die auch für den Bau einer Steinschleuder geeignet wäre. Das ist es! Aber es fehlt noch was. Sie wühlt in einer der Schubladen nach einem Stück Draht, bohrt ein Loch in die Mitte der Kronkorken und reiht sie alle nacheinander auf den Draht auf. Dann spannt sie den Draht so fest es geht zwischen die Astgabel und testet ein erstes Mal die selbstgebaute Rassel. Justine staunt, wie gut das klingt und schlägt dazu den Beat auf dem Tisch. Jetzt muss ein flotterer Song her.

      Am gleichen Abend wickelt Justine noch bunte Wollfäden aus Tante Valeries Strickkasten um die beiden Ast-Enden und staunt nicht schlecht, wie hübsch ihre erste Selfmade-Rassel geworden ist. Für einen kurzen Moment ist sie ganz Kind und trällert die Kinderlieder, die ihr in den Sinn kommen. „Hey Pipi Langstrumpf… ich mach mir die Welt, wide wide wie sie mir gefällt“.

       Was für ein Spaß…

       Für einen Moment bin ich die Dirigentin meines Lebens… und darüber hinaus noch so viel mehr. Das Orchester, die erste Geige, jedes einzelne Musikinstrument, Bass, Stimme und Melodie. Ich gebe den Ton an.

      Erst weit nach Mitternacht schläft Justine ein. Seit diesem Abend fühlt sich Justine nicht mehr alleine mit der Stille, sondern darin geborgen.

       Heimat finden wir nur in uns selbst.

      Wildvögel

      Am nächsten Morgen springt Justine aus dem Bett. Sie hat traumlos tief geschlafen und fühlt sich energiegeladen. Bis das Wasser für den Kaffee kocht, schaut sie aus dem Fenster in den Garten. Hier hüpfen ein paar Sperlinge auf dem Kastanienzaun herum und streiten sich um die letzten Beeren an einem kleinen Zweig. Ihr habt Hunger, was?

      Justine schneidet ein paar Äpfel für die Wildvögel auf. Im Hühnerstall hat sie die großen, abgeblühten Köpfe der Sonnenblumen deponiert, um sie im nächsten Jahr neu auszusäen. Daneben hängen getrocknete Maiskolben, die beim Ernten der Felder zurückgelassen wurden. Justine hatte auch sie eingesammelt, um hier für die kommende Saison mal einen eigenen Anbau zu versuchen.

      Kurzerhand beschließt sie, ihre Vorräte mit den Vögeln zu teilen. Sie nimmt reichlich von allem und bindet die Kolben und Blütenköpfe an mehreren Stellen in die Zweige. Mit einem Stock schlägt sie einen Teil der Körnchen aus den abgeblühten Fruchtständen heraus, sodass es keinen Futterneid geben muss, weil es mehrere Anlaufstellen gibt.

      Als Nächstes streut sie ausgepuhlten Walnussbruch und Eicheln auf die Steinbank neben das Vogelhäuschen von Amie. Zum Glück habe ich im Herbst so viele Säcke Nüsse gesammelt.

      Mit einem alten Bestimmungsbuch für heimische Vogelarten setzt sie sich dann ans Fenster, trinkt ihren frisch gebrühten Kaffee und schaut den Eisblumen beim Schmelzen zu. Es dauert nicht lange, da tummeln sich die ersten Wildvögel um die Futterstellen. Justine zählt drei Blaumeisen, eine Kohlmeise, Sperlinge und Buchfinken. Mit ihren kleinen bauschigen Körpern und den im Vergleich sehr dürren Beinchen amüsieren sie Justine.

      An den großen Kolben macht sich ein Eichelhäher zu schaffen, der die Maiskörner, ebenso wie die Eicheln, im Ganzen hinunterschluckt. Das hatte sie zuvor noch nie beobachtet. Der stattliche Vogel hinterlässt eine blau schwarz schimmernde Feder am Futterplatz, die Justine später aufsammelt, als wäre es ein Geschenk für ihre Großzügigkeit. Der nächste Gast ist ihr unbekannt, doch sie kann ihn mit Hilfe des Buches schnell bestimmen. Es ist ein Stieglitz, der ein ganz besonders schön gezeichnetes Federkleid hat. Seinen kleinen Kopf ziert eine schwarz-weiss-rote Haube. An den Flügelfedern leuchtet es kräftig gelb.

      Und wer da immer so von oben vom Baumstamm herab lugt, das ist der Kleiber. Seinen gedrungenen Körper ziert ein grau-beigefarbenes Kleid. Er kann den Baumstamm rückwärts nach oben gehen und wenn er anfängt, mit dem Schnabel gegen Rinde zu klopfen, könnte man ihn fast für einen kleinen Specht halten. Deshalb hat er sich wohl auch den Namen Spechtmeise verdient, wie in dem Buch beschrieben steht.

      Jus notiert sich die täglichen Beobachtungen der bunten kleinen Kerle, um auch hier eine gewisse Form der Routine für sich zu zelebrieren. Es fühlt sich ein wenig so an, als hätte sie sich gute Freunde zum Essen eingeladen. Schon nach kurzer Zeit tummeln sich die Vögel bereits um Justine, wenn sie noch am Herrichten der Futterplätze ist. Und sie teilt ihre Vorräte nur allzu gerne. Ein paar ganz neugierige Spatzen fliegen sogar mit in den Hühnerstall, um dort schon an den Sonnenblumen zu picken. Justine lacht: „Bis ich aus Versehen mal einen von euch hier einsperre!“

      Tante Valerie hat einige Bücher zum Thema Wildvögel und Justine beginnt, jedes einzelne davon durchzulesen. Die Fachliteratur ist alt, doch nach wie vor aktuell. Die erste neue Erkenntnis ist die Tatsache,