Juryk Barelhaven

Die Begabten


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zum ersten Mal, was es hieß, vor Schreck gelähmt zu sein. Sie wäre nicht einmal an die Steigbügel dieser schwarzen Pferde herangekommen. Ein einziger Hufschlag hätte sie zerschmettert, und ohne weiteres hätte sie von einem der Eisenhörner, die aus den Stirnplatten der Tiere hervorragten, aufgespießt werden können.

      Sofort duckte sie sich, löschte die Flamme ihrer Lampe und kroch ins tiefe Gestrüpp. Zu allen Göttern betend, hoffte sie nicht entdeckt zu werden.

      Doch der Trupp trappte nur langsam vorüber und schienen sie in dem Zwielicht des Tages nicht gemerkt zu haben. Gut für sie.

      Viel schrecklicher als die Rösser waren die Barbaren in ihrer geschlossenen Formation. Gewaltige, muskelbepackte Kerle in klirrenden Rüstungen, mit wilden Frisuren und weiten Umhängen, die sich aufbauschten wie Fledermausflügel. Tätowierte Riesen mit Keulen und Streitäxten. Netze und Dornenketten schaukelten an ihren Sattel. Der größte von ihnen, dessen Gesicht von einem riesigen Skelettkopf als Helm bedeckt war, bedeutete zu halten. Als der Trupp direkt neben Sonia zum Stehen kam, drückte sie ihr Gesicht krampfhaft in die Erde.

      „Wir haben dich schon gesucht!“

      Sonias Herz pochte wie ein Schmiedehammer, kalter Schweiß breitete sich auf ihrem Rücken aus und jede Sekunde rechnete sie damit von groben Händen hochgezogen und gefangengenommen zu werden. Was würde man mit ihr anstellen? Flucht war sinnlos.

      „Ich verfolge ein Kind mit einer Lampe“, rief jemand aus dem Wald und Äste knackten und brachen ein Dutzend Meter den Weg lang, von dem sie gekommen war. Sonia riss erstaunt die Augen auf und hob langsam den Kopf. Mucksmäuschenstill beobachtete sie einen kleinen Barbaren mit tätowiertem Gesicht, der mit Pfeil und Bogen aus dem Geäst des Weges kam. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie verfolgt worden war.

      „Habt ihr sie gesehen“, fragte der Mann kehlig und Sonia sah mit Befriedigung, dass alle Männer den Kopf schüttelten. „Ein kleines Kind mit einer Laterne?“

      Der Anführer gebot seinem Pferd nach vorne zu reiten und hielt neben dem Fährtenleser an. „Vergiss das Kind“, grollte er. „Sag. Lohnt sich ein Zug nach Mooswald?“

      Sie wollen die Stadt überfallen, durchfuhr es sie siedend heiß. Wie schrecklich.

      Der Späher drehte sich um und grinste schelmisch. „Faule Bürger mit vollen Taschen. Ihnen scheint langweilig zu sein. Die Wachen sind ein Witz. Es führen drei Straßen durch den Ort.“

      „Wäre das erste Mal, dass wir auf nennenswerten Widerstand stoßen“, bestätigte der Anführer und lachte leise. „Wir wollen den Bürgern Unterhaltung bieten. Wir schwärmen über die Ebene aus und halten weiter die Augen auf. Du musst der Horde Bericht erstatten. Wir könnten im Morgengrauen zuschlagen.“

      Leise fluchend klopfte sich der Barbar den Dreck von der Rüstung und setzte sich auf sein Pferd. Gemeinsam ritten sie von dannen.

      Die Straße war wieder verlassen und leer.

      Ich sollte umkehren, dachte Sonia zitternd und wartete noch lange bis sie es wagte aufzustehen. Den offenen Weg würde sie meiden müssen und die Laterne leuchten zu lassen, wagte sie jetzt nicht mehr – jeden Fackelschein sah man im Zwielicht meilenweit. Es gab keinen anderen Weg: Barbaren krochen im Buchenwald herum. Wer wusste schon, was noch auf sie lauerte? Schnell zurück zur Taverne… und von Olg und Llug verprügelt zu werden. Nein, da nahm sie es lieber mit dem Wald und seinen Schrecken auf!

      Die Sonne war gerade untergegangen. Das Abendrot wurde von den niedrigen Wolken zurückgeworfen und färbte den ganzen Wald blutrot. Aus der Nähe betrachtet war er noch schrecklicher als aus der Entfernung. Im tiefen Dickicht des Waldes wuchsen alle Pflanzen wild und ohne Plan, und es war eine Tortur sich durch das Gestrüpp zu kämpfen. Sonia hatte Mühe mit dem wenig Licht nach dem passenden Pflanzen Ausschau zu halten. Wenn sie das Rotfarnkraut nicht fand, war sie verloren. Wenn sie es fand, mussten drei Menschen wegen ihr sterben. Und wenn der Wald mit seinen wilden Tieren sie nicht zugrunde richtete, ihre Verwandten würden es schon schaffen – man musste ihnen nur Zeit lassen.

      Nach einer Weile gab sie es auf, setzte sich auf den Boden und weinte Tränen. Es hatte keinen Sinn. Es war hoffnungslos. Ihre zierlichen Schultern hoben und senkten sich bei jedem Beben ihres kleinen Körpers.

      „Mutter. Vater.“ Die Welt war böse und gemein. Niemand würde ihr helfen, sie würde niemals eine Hexe werden, geschweige denn, ein normales Leben führen können. Es war kalt, und die Disteln in ihrem Kleid, die sich im Laufe ihrer Wanderung verfangen hatten, stachen wie Nadelstiche. Würde ein Bär jetzt aus dem Unterholz auf sie zugestürmt kommen, …

      Mit einem Mal fiel es ihr auf.

      Ein Feuer.

      Sie atmete ein und aus, beruhigte ihre zarte Lunge und schniefte leise. Ein Lagerfeuer.

      Sollten es die Barbaren sein, würde sie leise wieder zurückgehen, und wenn sie sie schnappten…

      Die Neugier überwog schließlich, doch mit Vorsicht ging sie langsam weiter und versuchte keinen allzu großen Lärm zu machen. Während sie näherkam, wurde das Feuer größer und im Schein erkannte sie einen großen Karren mit Anhänger und zwei Pferden, die interessiert in ihre Richtung schauten.

      Auf dem Feuer schmurggelten in einer Pfanne kleine Würstchen, neben dem Feuer stand ein Tablett mit Brot, Butter und einer Flasche. Nein, es waren dutzende zum Teil leer ausgetrunkene Flaschen die wahllos herumlagen.

      Der Geruch der leckeren Würstchen wehte in ihre Richtung. Das Knurren ihres Magens erinnerte sie daran, dass sie seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen hatte. Sonia war so erschöpft und so sehr darauf bedacht, eiligst ans Feuer zu kommen, dass sie es nicht merkte, wie sie unter die tiefhängenden Äste der Buche geriet, in der ein Eisenkäfig schaukelte. Sie merkte es nicht, als sie unter den ersten Blätter und Zweigen hindurchlief. Sie hatte nur den plötzlichen Segen des schmackhaften Essens vor sich – Würstchen, Brot und etwas Butter, das ihren kleinen Bauch füllen würde. Sie merkte es auch nicht, als sie unter dem Eisenkäfig hindurchschritt, dem Käfig, in dem ein grinsendes Etwas hockte und sie aus wachen Augen beobachtete. Sie merkte es auch nicht, dass sie sich zu nahe an dem großen Wagen herangewagt hatte, bis plötzlich etwas Großes gegen die Hintertür krachte und rostiges Eisen quietschte.

      Da merkte sie es.

      Vielleicht hätte sie sich flach auf den Boden werfen und wie eine Schlange davonwinden können. Doch sie war nicht im Mindesten darauf vorbereitet, als die Tür aufflog und der größte Mann, den sie je gesehen hatte, stolpernd und torkelnd ihr entgegenwankte. Mit einem Stöhnen und Keuchen und einem entsetzlichen, heiseren gurgelnden Laut war der Riese bei ihr, an ihr vorbei und ließ die Hose runter.

      Sonia schnürte es die Kehle zu.

      Der gewaltige Mann war groß wie breit, trug eine buntgescheckte Weste und hatte den wohl längsten Bart, den sie je gesehen hatte. Während sie sich eiligst von ihm wegbewegte, floss ein Urinstrahl in die Dunkelheit, während der Riese mit der anderen Hand eine Flasche an den Mund führte. Vergessen war das leckere Essen oder die Aussicht auf Wärme und Behaglichkeit! Das war zu viel für sie! Sie stolperte, wankte und fiel schmerzhaft auf den Boden während der Riese abschüttelte, die Hose zuknöpfte und zu jemanden sprach, den sie nicht sehen konnte. „Du hast unrecht!“, dröhnte die Stimme, die wie ein ungeöltes Scharnier knarrte. „Du bist doch bescheuert, wenn du meinst, dass die Asen an allem schuld sind. Ich sage, dass das die Hexen waren und die Elfen. Oder alle zusammen. Gib nichts auf die Zwerge! Verdammtes Magierpack, das sind sie! Kann doch jeder sehen, das! Verdienen nicht die Luft zum Atmen. Verdammte Brut! Werde mich nicht mit einem Vogel herumschlagen, der nicht mal einen Becher halten kann.“ Er furzte laut und grinste dümmlich.

      Zur Sonias Überraschung tönte es aus der Dunkelheit: „Wenn du mich beleidigen willst…“

      Der betrunkene Tölpel schlug gegen den Eisenkäfig und etwas zappelte darin aufgebracht, was Sonia nicht in den richtigen Kontext brachte. Mit wem unterhielt sich der Riese? Wankend wandte sich der riesige Mann ihr zu aber schien sie nicht zu bemerken, sondern griff nach eine der Flaschen, entkorkte sie mit den Zähnen und sog die Flüssigkeit gierig in sich hinein.