rief er verzweifelt. »Was tust du?«
Da erlosch auch der Schimmer ihrer Gestalt. Und er war ganz allein und fürchtete sich.
Wiederum war es dem Professor, als läge er in seinem Bett. Er wußte aber nicht, ob er träumte oder wachte. Er hörte ein leichtes Prasseln gegen die Fenster, und aus dem Prasseln rief eine schwache Stimme: »Pate! Wach auf, Pate!«
Er stand auf aus dem Bett und ging ans Fenster und öffnete es, und ein Schatten im Dunkeln sagte: »Pate, kannst du mir denn nicht helfen?! Jetzt soll ich zur Strafe, weil du gekommen bist, die ganze Nacht Wäsche waschen, und ich bin doch so müde, daß ich die Beine nicht mehr unter meinem Leib spüre.«
Professor Kittguß aber rief unwillig: »Könnt ihr denn nicht Frieden halten?! Ich bin ein alter Mann und wünsche nur noch Ruhe und Frieden. Du hast mich nun schon hergerufen, in dies unfriedliche Dorf, zu unfriedlichem Volk, und heute nacht hast du mir auch noch meine Gleichung ausgelöscht, so daß ich nichts mehr habe. Wir alle müssen unsere Heimsuchungen und Plagen ertragen, und ich kann dir nicht helfen.«
Da war es, als weinte der Schatten leise, und dann zerging er in der Nacht. Wo er gestanden hatte, war ein Busch, und traurig schloß der Professor das Fenster, legte sich nieder und quälte sich wegen der harten Worte, die er gesprochen hatte.
Darüber versank er in tiefen, traumlosen Schlaf, und als er erwachte, war es hell in seinem Zimmer von einer fröhlichen Oktobersonne.
An seinem Bett aber saß Frau Lowising, sah ihn freundlich an und sagte: »So, Herr Professor, nun frühstücken Sie erst einmal ordentlich, und wenn Sie dann kräftig genug sind, so ziehen Sie sich an, und unser Maxe fährt Sie zur Bahn. Sehen Sie, was wollen Sie sich hier auf Ihre alten Tage noch mit schlechten Leuten plagen und schlagen? Gegen die Schliekers ist noch keiner Herr geworden, so werden Sie’s auch nicht. Die Rosemarie ist auch kein Engel, wenn ihr schon alles Tier- und Kinderzeug anhängt, und daß sie arbeiten lernt, ist ihr nur gut. Wenn Sie aber ganz etwas übriges tun mögen, und Sie haben es und können es, so schicken Sie den Schliekers allmonatlich Geld. Nicht zuviel, dreißig Mark vielleicht, und Sie bedingen sich aus, daß die Schliekers die Marie nett behandeln. Denn für Geld tun die alles, und da bringen sie es vielleicht sogar über sich, nett zu einem Menschen zu sein.«
Bei Beginn dieser Rede hatte der Professor noch eine deutliche Erinnerung an seinen Traum gehabt und hatte die Frau Louise unterbrechen und fragen wollen, ob Rosemarie wohl wirklich in der Nacht an seinem Fenster um Hilfe gerufen hätte. Aber je weiter die zutunliche Frau mit ihrer Rede kam, um so unwichtiger und unwirklicher wurde der Traum, und was sie sagte, schien ihm alles Hand und Fuß zu haben.
Wenn er also zuerst noch ein wenig ängstlich und schuldbewußt gefragt hatte: »Meinen Sie das wirklich?« – so war er nach drei Minuten schon fest überzeugt, daß es so das beste sei, und für sein Geld werde es die Rosemarie haben wie im Himmel.
»Ja, ja«, nickte er immer freundlicher zu der freundlichen Frau. »Dann machen wir es so …«
»Gottlob, Herr Professor!« atmete Frau Tamm auf. »Sie wären ja wohl hier ganz hin geworden über aller Streiterei und Feindschaft. Und ich denke, der Maxe kann den offenen Stuhlwagen nehmen, es ist heute so ein freundlicher, heller Tag wie ein letzter Sommertag.«
»Ja, ja«, sagte der Professor zufrieden und sah vom Bett über die Schulter zum Fenster. »Es sieht heute sehr hell und freundlich aus.«
Darin aber irrten sie beide: die Bäuerin Louise Tamm wie der Professor Gotthold Kittguß aus Berlin: es war nicht hell und freundlich, es war finsterste Nacht für den Professor Kittguß.
5. KAPITEL
Worin Professor Kittguß den zweiten Ruf des Engels erfährt
Eigentlich saß Professor Kittguß, warm zugedeckt, recht gut neben Maxe, dem Kutscher – eigentlich trabten die beiden Braunen schön sachte über den Sandweg, der herwärts so mühselig gewesen –, eigentlich hatte das stille, friedliche Land mit dem herbstlichen Blätterfall seinem Herzen guttun müssen – aber nein, dem Professor war nicht wohl. Gar nicht! Es war angenehm, nun wieder planend an die große, sechzehnjährige, geruhige Arbeit zu denken und an den Vers, der als nächster zu deuten war – es war natürlich auch richtig, daß die Unruhe in der Brust von den Anstrengungen des gestrigen Tages kam und von nichts anderm, gar nichts anderm.
Aber schließlich kam doch ein Heckentor in Sicht, und auf ihm saß, mit den Beinen baumelnd und die Harmonika blasend, ein Junge. Der Professor erkannte ihn wohl: es war der Hütefritz. Und auch der Junge erkannte den Professor, und das Lied vom Heidenröslein brach mitteninne ab. Die Augen des Jungen wurden immer größer, bis sie so groß wie die Teetassenaugen aus dem Märchen schienen; er sah erstarrt, ohne jedes Beinebammeln, mit den großen Augen und dem ganz offenen Munde den abreisenden Professor an.
Der sah ihn wieder an, und die Unruhe in der Brust wurde stärker, wurde zu einem Druck auf dem Herzen. Am liebsten hätte er den Maxe um einen kurzen Halt gebeten. Am liebsten wäre er vom Wagen gestiegen und hätte dem Jungen erklärt, daß so doch nichts für seine Freundin Rosemarie zu tun sei, daß aber Geld geschickt werden und daß damit alles, alles gut werden würde …
Aber es ging zu schnell, die Braunen trabten, und das Jammerbild auf dem Heckentor glitt vorbei. Nur der Maxe schnüffelte noch wütend durch die Nase und drohte: »Das werde ich dem Bengel, dem Hütefritzen, schon zeigen, ob er zu dudeln oder zu hüten hat! Immer gehen seine Kühe in unsern Klee!«
Worauf der Professor hastig erwiderte: »Oh, nicht doch! Oh, bitte nicht doch!«
Dann schwiegen sie wieder beide, bis die Hecken zurückblieben und das Land sich mit allerlei Äckern immer weiter auftat. Über einen Hügelrücken sah schon der schieferschwarze Kirchturm von Kriwitz, und Maxe verkündete: »Wir schaffen den Zug gerade noch.«
Doch zur gleichen Minute parierte er die Pferde in langsamsten Schritt und starrte verblüfft eine seltsame Prozession an, die ihnen auf dem Straßenrand entgegenkam. Es waren aber eins, zwei, drei, vier, fünf Diakonissen, die da in ihren schwarzen Übermäntelchen und weißen Hauben, eine hinter der andern, gegen den Stuhlwagen anrückten. Jede von den Schwestern trug ein Köfferchen in der Hand, und so gingen sie, ohne die Augen zu heben, heran – vorüber, und nur die letzte, eine derbe, rotbackige, wie gerade vom Lande geholt, hob für einen Augenblick die Augen und sagte leise: »Guten Tag.«
Weil aber die vorderste, ein wahrer Mannskerl von einer Frau, mit wehenden Haaren am Kinn, hustend brummte, erschrak sie und lief beschleunigt, das Täschchen schwenkend, hinter den andern drein.
Der Maxe, den Kopf im Nacken, starrte und starrte, bis die fünf Schwestern um die nächste Hügelecke verschwunden waren. Dann aber drehte er sich, vor Schadenfreude wahrhaft strahlend, dem Professor zu und sagte aus tiefster Brust: »O – haua – haua – ha! So mußte es kommen. Darauf freß ich einen Besen, der Päule Schlieker kriegt heute keinen guten Tag …«
»Was haben denn die Diakonissen mit Herrn Schlieker zu tun?« fragte der Professor ängstlich.
»Zu tun –!?« fragte der Maxe dagegen, fast empört über so viel Unverstand. »Zu holen haben sie die Kinder!«
»Welche Kinder?« fragte der Professor und hätte doch lieber nicht weiter gefragt.
»Natürlich die Pflegekinder, die bei Schliekers sind. Aber wer nicht hört, muß fühlen. Jetzt holen sie ihm die Kinder fort und damit hundertfünfzig Mark im Monat! Ohgottegottegott – wie das den Schliekers weh tun wird!«
Und Maxe grinste über das ganze dicke, derbe Gesicht vor Mitgefühl.
Der Professor mußte immer noch weiter fragen, sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe. »Halten die Schliekers denn die Kinder wirklich so schlecht?«
Aber der Maxe war ein Bauernsohn und vorsichtig wie seine Eltern. »Weiß ich das?!« fragte er dagegen. »Ich gehe nicht zu Schliekers, und auf das Gerede der Leute darf man nicht hören. Aber jedenfalls sind die fünf Schwestern unterwegs, und ich gäbe einen Taler, wenn