Walther Nithack-Stahn

Der letzte Tag


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habe nicht Zeit für dich.«

      »Du brauchst mir keine zu schenken. Ich möchte an deinem Bette wachen, wenn du schläfst; dich wecken, wenn du willst. Laß mich.«

      »Ich habe keine Zeit zu ruhen. Das Fernrohr muß bedient werden.

      »Lehre mich, wie man hindurchsieht. Ich löse dich ab, ich will gut aufpassen.«

      Ein ernstes Lächeln um den faltigen Mund. Er steht auf und umfaßt mit den schmalen Fingern ihre runden Kinderhände. So zieht er sie neben sich auf das Polster nieder, lehnt sich müde an sie. –

      »Archibald, ist es wahr? Sind wir verloren? Ich sage es nicht weiter.«

      »Niemand weiß etwas. Aber die Gefahr ist groß.«

      Sie sitzt mit aller Kraft aufrecht, trotz des mächtigen Herzschlags, der sie durchschüttert, und läßt mütterlich seinen schweren Kopf auf ihrer Schulter ruhn.

      »So laß mich bei dir bleiben.«

      »Es geht nicht, Sigrid. Hier im Hause der Männer. Ich habe nur diesen Raum.«

      Sie mißt ihn verwundert von der Seite: »Rücksicht auf Menschengerede –?«

      »Um deinetwillen.«

      »Angesichts dieses Schicksals?«

      »Es ist auch nicht nötig. Ich bin versorgt. Du kannst mir nicht helfen. Wenn das Äußerste käme, rufe ich dich.«

      »Und wenn es plötzlich käme?«

      »Ich kann es vorhersehen, ich rufe beizeiten.«

      Sie sitzen eine Weile schweigend. Irgendwo drehen sich geheime Räder, schwingen Pendel, schlägt ein Zeitmesser.

      »Archibald, hältst du es für möglich, daß es Männer der Wissenschaft gäbe, deinesgleichen, die anders sprechen, als sie denken, um Gewinnes willen?«

      »Mag es die geben, ich kenne solche Elenden nicht.«

      »Ist es denkbar, daß andere Leute, die gewohnt sind, Geldgeschäfte zu machen, aus der großen Not dieser Tage einen Vorteil ziehen – können – wollen?«

      »Das verstehe ich nicht.«

      Sigrid gibt das Gespräch wieder, das sie im Bahnwagen gehört.

      »Schon im Scherze dergleichen zu reden, dünkt mich ein Verbrechen. Im Ernste es tun – ich bin auf diesen Gedanken noch nicht gekommen, daß gemeine Habgier solches Spiel mit dem Erhabensten treiben könnte. Undenkbar ist es nicht – jener klägliche Geselle hat recht – daß die Menschheit sich auch noch damit befleckte. Dann allerdings verdiente sie unterzugehn.«

      Wiederum tiefe Stille, Sigrids Pulse klopfen, daß es sie schmerzt. Ganz gedämpft, aus weiter Ferne, summt es verworren. Er nickt: »Totengeläut. Das ist der rechte Ton, bevor wir ins feurige Grab sinken. Der sollte alles übertönen.«

      »So sprichst du?«

      »Wofür hältst du mich?«

      »Ich dachte immer, du kenntest nur den Himmel, den man messen und ausrechnen kann.«

      »Da ist das Unberechenbare, Unermessene. Das, was größer ist, als alle unsre Gedanken jemals sein werden.«

      »Und wie nennst du dieses Unbegreifliche?«

      »So, wie du es nennst.«

      »Du hast es vor mir noch niemals ausgesprochen.«

      »Ich hebe es mir auf für eine ganz heilige Stunde.«

      »Archibald – ich wollte eigentlich zur Betstunde gehen – ich kann es nicht. Nun wird uns alles zerstört, das Schönste und Reinste auf der Welt, durch ein grausames Mißgeschick.«

      »Bist du so kleingläubig – weil es uns trifft?«

      »Nein, nein. Ich denke an all das herrliche blühende Leben, das da vernichtet werden soll. Wozu? Warum?«

      »Mir ist es sehr wahrscheinlich, daß unsre Sterneninsel durch einen ähnlichen Untergang einer früheren Welt entstanden ist. Würdest du auch dieses Ergebnis grausam, sinnlos schelten? Diese Ursache, ohne die wir nicht da wären?«

      »Du gibst Schweres zu denken auf.«

      »Wenn uns das eine ehrfürchtig dankbar stimmt, dürfen wir das andere schmähen?«

      »Aber daß Gott seine Welt so verderben soll!«

      »Steht das nicht schon in den Heiligen Schriften? Und was bedeutet diese ›Welt‹? Wenn auf fernen Gestirnen sehende Augen sind, dann werden sie nur ein schwaches Aufleuchten wahrnehmen, etwas wie einen neuen Stern, dessen Glanz bald wieder verblaßt. Was ist das im All?«

      Wieder die knackenden, zuckenden Geräusche des unverrückbaren Zeitlaufs und dahinter das dumpfe Flehen der Glocken. Sigrid hat den Kopf tief gesenkt.

      »Sprich weiter, bitte. Ich frage nichts mehr.«

      »Sieh, was die Menschen an dem Kommenden erregt, ist seine verhältnismäßige Größe. Hier im Walde, unweit der Warte, ist ein kleiner, versumpfter Teich, der jeden Sommer einmal austrocknet. Das ist für die Milliarden Wesen, die ihn bevölkern, auch ein Weltende, und wenn die denken könnten – und wer weiß, ob sie es nicht tun? – so würden sie dieselben Betrachtungen anstellen wie jetzt du und ich ... Es ist wahr: uns liegt es nah, dem scheinbaren Zufall zu grollen, dem wir zum Opfer fallen. Aber nennen wir auch das ein blindes Kräftespiel, was uns im Tiefsten selig macht? Ich entsinne mich eines Tages im letzten Winter: ich ging durch die Stadt, eine gleichgültige Besorgung zu machen. An einer Straßenkreuzung blieb ich stehen, unschlüssig, ob ich rechts oder links am besten zu meinem Ziele käme. Irgendein nebensächlicher Gedanke führte mich rechts.

      Wenige Schritte später kommt mir ein unbekanntes Mädchen entgegen, hoch, stattlich, ich sehe sie noch in schlichter, pelzverbrämter Jacke, die Wangen von der Kälte hold gerötet, sieht mich mit ihren leuchtenden Augen an, nur so im Vorüberschreiten. Mir stockt unwillkürlich der Fuß, ich stelle mich unkundig und frage nach dem Wege, nur um ihre Stimme zu hören. Sie antwortet unbefangen, geht davon, ich ihr unbemerkt nach, erkunde ihre Wohnung – war das nun blöder Zufall – oder heilige Fügung?«

      Sie hebt seine Hand zu den Lippen und küßt sie. »Ich habe schon einmal gedacht, dies Haus sähe einem Tempel ähnlich. Es ist wirklich einer, du brauchst keinen anderen.« Sie sitzen fest umschlungen, und ihre Seelen finden sich wie noch niemals in heißer Berührung ...

      Plötzlich ist sie aufgestanden: »Sie erwarten mich zu Hause. Ich muß den Kindern die Schulhefte durchsehen, der Mutter helfen. Und morgen gehe ich wieder in die Schreibstube.«

      »Das ist recht. So habe ich meine Sigrid lieben und ehren lernen. So laß uns diese Tage durchleben: ausharren bei dem Gebot der Stunde. Aber das Letzte gehört uns allein.«

      Noch einmal reißt er sie in seine Arme. All die unerfüllte Sehnsucht kraftvoller Jugend glüht in ihren Adern und drängt zueinander.

      Dann geleitet er sie ritterlich, beinahe ehrfürchtig die Treppe hinunter bis zur Ausgangstür, wo die Posten ihm wie dem Burgherrn Gruß bezeugen. Und winkt ihr nach, solange die weiße Erscheinung zu sehen ist.

      *

      Wie ein glühender Sternenring schwebt der Kronleuchter unter den dunklen Gewölben des Domes, während in den Fensterrosen die Abendsonne das Gewimmel der Heiligen und Seligen entbrennen läßt. Hier unten schattenhafte Wesen der Tiefe, Kopf an Kopf gedrängt, in allen Gängen zu dunklen Mauern erstarrt, mit bleichen Gesichtern.

      »Bald aber nach der Trübsal derselbigen Zeit werden Sonne und Mond ihren Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden sich bewegen. Und alsdann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohnes im Himmel. Und alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden und werden sehen kommen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit. Und er wird senden seine Engel mit hellen Posaunen, und sie werden sammeln seine Auserwählten von den vier Winden, von einem Ende