Walther Nithack-Stahn

Der letzte Tag


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zieht es zu dem Verfemten hin, sie tritt ihm in den Weg: »Muß es Ihnen nicht lieb sein, daß es zu Ende geht – unglücklich, wie Sie sind?«

      Aus dem blassen Faltengesicht stechen schwarze Augen zu ihr hinauf. »Meinen Sie? Was verstehen Sie davon – hübsches Mädel –?«

      Ein schiefes Lächeln verzieht ihm die Mundwinkel. Sie kämpft einen Widerwillen nieder. »Ich meine, wir sollten uns alle verstehn, da wir das gleiche Schicksal haben.«

      Er sieht ernst zu Boden. »Wenn's mir am Ende gelegen wäre, das hätt' ich jeden Tag haben können. Ich hab' aufs Glück gepaßt wie tausend andre Narren – nun ist's verspielt. Jetzt bin ich nur noch neugierig, wie das ganze Ding in die Luft fliegen wird. Schade, daß man sich nicht den Spektakel von außen ansehen kann.« Er faßt an den Hut und setzt sich mit langen Schritten in Bewegung, sie folgt ihm unwillkürlich.

      »Sie sollten nicht so bitter sein.«

      »Bin ich schon nicht mehr. Ich ärgerte mich nur über den Pfaffen, wie der seinen Gott herausstrich und uns Würmer schlecht machte. Uns hat der liebe Gott dumm geschaffen, damit er uns besser anführen kann. Irgendwo in der Bibel steht: ›Es reute ihn, daß er die Menschen gemacht hatte‹. Glaube ich wohl, es war ein Fehler, aber nicht von uns. Hahaha ...«

      Sigrid durchschauert es, aber sie bleibt ihm an der Seite. »Mir war auch nicht wohl bei allem, was der Prediger sagte. Kann man dies Ende nicht auch anders verstehen – als einen neuen Anfang?«

      Wieder schnellt ein Blick zu ihr auf und haftet prüfend: »Sie sind wohl sehr fromm? Na ja, das steht jungen Mädchen immer gut – wie ein weißes Kleid.«

      Jetzt ist sie nahe daran, ihn laufen zu lassen, aber ein tiefes Mitleid hält sie fest. Sie gehen eine Weile stumm nebeneinander, verwunderte Blicke streifen das seltsame Paar.

      Da fängt er von selber an: »Wenn ich Sie wäre – ich wüßte schon, was ich heute und morgen täte. Sie haben gewiß einen Liebsten, und wenn Sie noch keinen hätten, könnten Sie bald einen haben. Wissen Sie – ich würde das Leben austrinken bis auf den Grund.«

      Sie macht eine Bewegung, als wolle sie umdrehen, aber es zieht sie zu dem kleinen, häßlichen Menschen zurück. Ein Hustenanfall erschüttert ihn. Er speit ohne Scheu auf das Pflaster. Dann lächelt er sie verschmitzt an: »Ich habe wohl eine große Sünde gesagt? Aber sehen Sie: wenn doch alles zu Ende ist – und es ist einmal so, trotz Ihres Glaubens – dann ist auch die Sünde aufgehoben. Sterbende nehmen sich untereinander nichts mehr übel. Man macht seine Abrechnung und zieht alle Forderungen ein, die man noch ans Leben hat. Ja, wenn ich so könnte!« Er lacht in sich hinein. »Spotten Sie mich nicht aus: ich habe nur einmal in meinem Leben Wein getrunken, als ich im Krankenhause lag. Das tat gut. Ich möchte zum Schluß noch eine einzige Flasche Wein trinken. Stehlen? Ich weiß nicht, was das in mir ist – es gibt ja kein Eigentum mehr –, aber es würde mir nicht schmecken.«

      Sigrid nestelt ihre Handtasche auf, sie hat gerade ihren Monatslohn darin, und holt einen Schein heraus. »Würden Sie das annehmen?«

      »Von Ihnen, ja. Ich danke.« Er bleibt stehen und sieht mit einer Weichheit zu ihr auf, die seine Unschönheit mildert. »Wie soll man nun sagen: Leben Sie wohl oder sterben Sie wohl? Ich sage: Leben Sie wohl.«

      Sie kann sich nicht enthalten zu fragen: »Wer sind Sie eigentlich?«

      »Ich heiße Philander. Alles übrige ist gleichgültig.«

      Er ist in einer Nebengasse verschwunden. Sigrid fühlt noch seine schweißig-kalte Hand; sie muß ein Grauen abschütteln, und doch, der Armselige hat sie im Innersten getroffen. Sie geht wie betäubt die breite Straße hinunter, die, wie immer, von Wagen und Spaziergängern belebt ist. Hinter dem Triumphtor alter Könige, das von Siegen und ewigem Ruhme redet, glüht das Abendgewölk. Die Sonne samt ihrem unheimlichen Widersacher ist verschwunden – für diese Nacht. Es ist, als atme man hier unten auf, und jeder gäbe sich noch einmal sorglos dem geliebten Leben hin.

      Plötzlich durchglüht es sie: wenn es die letzte Nacht wäre? Und wie ein Dieb in der Nacht das Verderben käme! Dorther, wo es in grauen Wolken glimmt und schwelt! Geliebter – wenn wir uns nicht mehr erreichten! Wie sagtest du doch? »Das Letzte gehört uns allein!« Rufe mich, rufe mich, eh es zu spät ist, daß wir das Leben austrinken bis auf den Grund!

       * * *

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