Narcia Kensing

Glutroter Mond


Скачать книгу

Polizei. Die Obersten schicken einige Auserwählte regelmäßig auf Streife in unsere Straßen, aber es sind viel zu wenige. Die Menschen sind schlecht und böse, sie stehlen und neiden sich ihre wenigen Habseligkeiten. Ich nehme es als unabdingbare Tatsache hin.

      Ich durchquere ein Viertel, in dem die Fassaden der Häuser bunter sind als im Rest der Stadt. Sie sind leuchtend rot oder gelb. Die Farben sind verblasst, aber immer noch wunderschön. An manchen Wänden prangen Schilder, einige sind voll davon. Sie ragen zwischen den Fenstern mit den zersplitterten Scheiben in die engen Gassen hinein. Mein bester Freund Neal hat mir einmal erzählt, es seien einst beleuchtete Werbeschilder gewesen. Ich kann mir nicht vorstellen, wofür jemand werben sollte und welcher Sinn dahinter steht. In meinen Büchern habe ich nichts dazu finden können.

      Lesen habe ich schon im Kindesalter gelernt, weil mein Mentor Carl es mir beigebracht hat, aber dennoch erschließen sich mir die wundersamen Zeichen auf den Schildern nicht. Sie sehen fremd aus, exotisch, eher wie Bilder als wie Schriftzeichen. Ich frage mich manchmal, ob die Menschen der alten Welt anders geschrieben oder gesprochen haben als wir heute. Das einzige Wort, das ich in gelben Buchstaben auf einer roten Wand lesen kann, ergibt für mich auch keinen Sinn. Chinatown. Ob meine Stadt einst so geheißen hat? Aber wer oder was ist China? Neal meint, früher hätte es für die Stadt einen Namen gegeben. Ich sehe keinen Sinn darin. Es gibt nur diese eine Stadt, weshalb ihr eine Bezeichnung geben? Menschen tragen Namen, ja, weil man sie rufen muss. Aber doch keine Orte! Andererseits ... Ich habe auch schon Schilder aus der alten Welt gesehen, die den Straßen einen Namen gegeben haben. Skurril!

      Ich gehe gern durch dieses Viertel, auch wenn es nicht der direkte Weg zurück zu meiner Kommune ist. Ich wohne weiter westlich, ungefähr in der Mitte der Stadt, wo die Häuserfassaden nicht so bunt sind, dafür aber mit Stuck verziert. Über den Fenstern gibt es Rundbögen, kein Haus hat mehr als drei oder vier Stockwerke. Ich mag das. Im Süden ist die Zerstörung viel größer. Viele der sehr hohen Häuser sind dem Erdbeben zum Opfer gefallen, einige Straßen kann man überhaupt nicht mehr benutzen, weil sie mit Schutt bedeckt sind. Manche Gebäude haben die Katastrophe überlebt. Sie sind so hoch, dass sie den Himmel berühren. Ich kann das Dach von unten sicht sehen, selbst, wenn ich den Kopf in den Nacken lege. Diese Häuser machen mir Angst. Ich weiß nicht, wozu die Menschen sie einst gebaut haben, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Stadt einmal so viele Einwohner gezählt haben soll. Solche Menschenmassen kann es überhaupt nicht geben. Die Riesenbauten schauen mich jedes Mal aus hässlichen leeren Fensterlöchern an, wenn ich durch die Häuserschluchten jogge. Ich meide den Süden der Stadt, aber leider führt mein Weg zu meinem Lieblingsplatz beim Wasser genau durch die Giganten hindurch. Neal lacht mich oft deswegen aus. Er hat keine Angst vor Häusern. Ich glaube, er hat vor überhaupt nichts Angst.

      Ich biege in die Straße ein, in der mein Wohnhaus liegt. Auf meinem Weg bin ich niemandem begegnet, auch nicht dem Mann, der mich wegen der Konservendose verfolgt hat. Es gibt viel zu viele Straßen. Es ist unmöglich, jemanden wiederzufinden, mit dem man weder Zeit noch Treffpunkt vereinbart hat, und wer sich einmal verliert, wird sich so schnell nicht wiederfinden. Oft habe ich mich schon über diesen Umstand geärgert, heute bin ich darüber sehr erleichtert.

      Das Haus, in dem ich wohne, ist nicht eines von denen, das zwischen anderen Häusern eingequetscht ist. Eine Seite ist sogar frei, weil eine über zwanzig Yards breite Lücke zwischen unserem und dem Nachbarhaus klafft. Diese Lücke ist nicht durch die Katastrophe entstanden, unsere Vorfahren müssen sie bewusst angelegt haben. Der Platz zwischen den Häusern ist gepflastert, weiße Linien unterteilen ihn in einzelne, etwa drei Yards lange und zwei Yards breite Rechtecke, deren Sinn sich mir nicht erschließt.

      Mein Wohnhaus ist komplett grau. Die große leere Fläche an der Seite weist keine Fenster auf, dafür einen riesigen verblassten Schriftzug. Hollister steht dort, darüber das Bild eines stilisierten Vogels. Neal sagt, auch das sei einst Werbung gewesen. Wir wissen nicht wofür.

      Ich presse meinen Daumen gegen die kleine Scheibe des Scanners neben der großen dunklen Eingangstür aus Holz. Sie riecht seltsam muffig. Das hat sie schon getan, seit ich denken kann. Nach ein paar Sekunden ertönt das vertraute Summen, und ich kann die Tür nach innen aufdrücken.

      Im Flur dahinter ist es immer kühl, auch im Sommer. Eine dicke Staubschicht bedeckt die grau geflieste Treppe. Das Geländer ist im letzten Jahr weggebrochen. Carl hat immer versprochen, es zu reparieren, aber er ist nicht mehr der Jüngste. Ich habe ihn nicht mehr daran erinnert. Natürlich könnte Neal sich darum kümmern, aber er ist ein Heißsporn und wird schnell wütend. Ich möchte mich mit ihm nicht wegen eines Treppengeländers streiten.

      Ich gehe hinauf in den ersten Stock. Schon von weitem höre ich die Stimmen meiner Mitbewohner. Suzies glockenreines Lachen, Neals tiefes Brummen und die gedämpfte Stimme von Carl. Als ich die Tür zu unserem Gemeinschaftsraum öffne, verstummen ihre Gespräche. Sie sitzen alle am Tisch. Carl sitzt vor Kopf, rechts neben ihm Neal und auf der anderen Seite Suzie und Candice. Es kommt selten vor, dass wir alle zusammen sind.

      »Holly, wo bist du gewesen?« Neal schiebt seinen Stuhl geräuschvoll zurück und kommt auf mich zu. Er legt seine Arme um mich und drückt mich an sich. Mir ist das ein wenig unangenehm vor den anderen. Er ist fast einen ganzen Kopf größer als ich. Sanft schiebe ich ihn von mir weg. Ich ziehe mir einen Stuhl heran und setze mich zwischen Suzie und Candice an den Tisch. Die Konserve stelle ich vor mir ab. Auch Neal lässt sich auf seinen Platz zurückfallen, seine Augen sehen mich fragend an.

      »Ich war im Südviertel«, sage ich.

      Sofort greift Suzie nach der Konserve und nimmt sie in die Hand. »Was ist das?«

      »Ich dachte, du bist nicht gerne dort«, sagt Carl und übergeht Suzies Frage. Seine Stirn legt sich in Falten. Sein ganzes Gesicht ist faltig, aber ich finde dennoch, dass er gut aussieht.

      »Meine Füße haben mich dorthin getragen. Unter dem Schutt habe ich die Konservendose gefunden.«

      »Woher weißt du, wie man es nennt?« Suzie stellt die Dose auf den Tisch und lehnt sich im Stuhl zurück, als wolle sie möglichst großen Abstand zwischen sich und die Büchse bringen.

      »Aus Büchern.«

      Ich wollte nicht herausfordernd klingen, aber dennoch stößt Neal die Luft zischend durch seine Zähne aus und schüttelt leicht den Kopf. »Fräulein Klugscheißer.«

      Er sagt es nicht unfreundlich, eher belustigt, aber dennoch merke ich, wie mir Blut in die Wangen schießt.

      Ich finde nicht, dass ich ein Klugscheißer bin. Ich kann lesen, was auf den Großteil der Bevölkerung nicht zutrifft. Aber innerhalb meiner Kommune können es alle. Carl hat es uns beigebracht. Ich weiß nicht, weshalb sie mich immer damit aufziehen, dass ich viel weiß. Ich lese nun einmal gerne.

      Carl zieht die Büchse zu sich heran. Er hält sie sich nah vor die Augen. Seine Sehkraft hat nachgelassen in den letzten Jahren. Wir haben ihm oft gesagt, er solle in der medizinischen Station nach einer neuen Brille fragen, aber Carl ist zu stolz. Er mag die Obersten nicht besonders, was ich nicht verstehen kann. Sie sichern unser Überleben.

      »Haltbar bis April 2088. Das ist 95 Jahre her.« Mit einem Schnauben stellt Carl die Dose zurück auf die Tischplatte.

      »Sie sieht aber noch unversehrt aus, bis auf die Beulen.« Jetzt nimmt Neal meine Beute in Augenschein. Er wiegt sie erst in der rechten, dann in der linken Hand. »Sollen wir sie mal öffnen?« Seine blauen Augen funkeln spitzbübisch. Ich wusste, dass Neal das größte Interesse an meinem Fund hegen würde. Er ist ein Entdecker und geht selbst gerne auf Erkundungstour durch die Stadt.

      »Womit willst du sie aufbekommen?« Jetzt meldet sich die stille Candice zu Wort. Ihre Stimme ist immer leise. Ich mag sie.

      »Ich habe hinreichend Werkzeug. Ich helfe beim Wiederaufbau, schon vergessen?« Neals Tonfall ist keineswegs unfreundlich, trotzdem wendet Candice den Blick ab und starrt auf ihre Füße.

      Suzie klatscht in die Hände. »Wie aufregend! Los, Neal, hol etwas, womit wir die Dose aufmachen können.« Sie wirft ihre langen blonden Haare in den Nacken, ihre Wangen sind vor Eifer gerötet.

      »Ich