Arkadi Petrowitsch Gaidar

Russische Kindheit bis 1917


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man nur könnte, dann wäre einem alles egal, und man würde einfach nach Hause laufen. Soll doch Krieg führen, wer will! Ich hab dem Deutschen nichts genommen, und er mir auch nicht! Das Gesicht des Soldaten war ganz rot geworden, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und stärker und immer stärker roch es im Zimmer nach Jodoform. Ich machte das Fenster auf, und mit einem Male war die Frische des Abends im Zimmer und der Duft von Heu und überreifen Kirschen. Ich saß auf der Fensterbank, malte mit dem Finger auf der Scheibe herum und hörte dem Soldaten zu. Seine Worte drangen in mich ein wie beißender, trockener Staub. Und dieser Staub legte sich als dicke Schicht auf all meine so klaren Vorstellungen vom Krieg, von seinen Helden und seinen hehren Zielen. Beinahe Hasste ich den Soldaten. Er schnallte sein Koppel ab und knöpfte den schweißnassen Kragen des Hemdes auf. Er schien betrunken und fuhr fort: “Sterben, das ist natürlich schlecht. Aber nicht das Sterben hat den Krieg schlecht gemacht. Der Krieg ist eine Schande. Aber der Tod ist keine Schande. Früher oder später muss der Mensch sterben, das ist ein Gesetz. Aber wer hat ein Gesetz erfunden, dass der Mensch Krieg führen muss? Ich hab es nicht erfunden, du hast es nicht erfunden, er auch nicht, aber wer war‘s denn? Der Soldat schwieg, zog die Augenbrauen zusammen und sah meine Mutter finster an. Sie hatte unverwandt auf die Tischdecke geschaut und kein Wort gesagt. Er stand auf, langte nach dem Teller mit dem Hering und sagte begütigend und mit einem leisen Vorwurf: “Was hast du denn…? Ja, von so was haben wir draußen gesprochen. Lauter dummes Zeug. … Kommt Zeit, kommt Rat, auch der Krieg geht mal zu Ende. Aber … vielleicht ist noch was in der Flasche, wie?” Mutter hob nicht einmal den Blick, als sie ihm die letzten Tropfen des warmen, duftenden Alkohols ins Glas goss. Die ganze Nacht hindurch hörte ich sie hinter der Wand weinen, hörte das Papier rascheln, als sie Vaters Briefe las. Dann leuchtete durch eine Ritze das trübe grüne Licht des Lämpchens vor dem Heiligenbild. Ich wusste, jetzt betete meine Mutter. Vaters Briefe hat sie mir nie gezeigt. Was er geschrieben hatte und warum sie weinte in jener Nacht, ich hätte es damals sowieso nicht verstanden. Am anderen Morgen verließ uns der Soldat. Als er ging, klopfte er mir auf die Schulter und sagte, so als hätte ich ihn nach etwas gefragt: “Nimm‘s nicht so schwer, Junge … Du bist noch jung. Ach, warte noch ein bisschen, und du siehst alles klarer als wir!”

      6. Kapitel

      Der Sommer ging zu Ende. Fedka musste seine Prüfung noch einmal wiederholen und arbeitete fleißig, Jaschka Zuckerstein hatte Fieber bekommen, und so war ich auf einmal ganz allein. Ich lag auf dem Bett und las in Vaters Büchern und Zeitungen. Vom Ende des Krieges war nichts zu hören. Die Deutschen rückten immer weiter vor und hatten schon über die Hälfte Polens besetzt. Sehr viele Flüchtlinge trafen jetzt in unserer Stadt ein. Die reicheren von ihnen mieteten sich Wohnungen, aber davon gab es nicht viele. Unsere wohlhabenden Kaufleute, die Mönche und die Geistlichkeit waren sehr fromme Leute und nahmen nicht gern Flüchtlinge auf, da das meist arme, kinderreiche Juden waren. So wohnten diese Flüchtlinge vor allem in Baracken am Wäldchen vor der Stadt. Um diese Zeit wurden aus den Dörfern die gesamte Jugend und alle gesunden Männer an die Front getrieben. Viele Bauernwirtschaften brachen zusammen – es war niemand mehr da, der auf den Feldern arbeiten konnte: die Älteren, die Frauen und die Kinder zogen in die Stadt und bettelten. Ging man früher durch die Straßen unserer Stadt, traf man den ganzen Tag keinen einzigen Fremden. Kannte man auch nicht jeden mit Namen, so war man ihm doch schon irgendwo begegnet. Jetzt aber sah man auf Schritt und Tritt unbekannte Gesichter: Juden, Rumänen, Polen, kriegsgefangene Österreicher und verwundete Soldaten aus dem Lazarett des Roten Kreuzes. Die Lebensmittel waren knapp. Butter, Eier und Milch wurden schon frühmorgens zu teuren Preisen auf dem Markt weggekauft. Vor den Bäckereien standen die Menschen Schlange, Weißbrot gab es nicht mehr, selbst Schwarzbrot reichte nicht für alle. Rücksichtslos erhöhten die Kaufleute die Preise für alle Waren, nicht nur für Lebensmittel. Die Leute erzählten sich, Bebeschin habe allein im vergangenen Jahr so viel verdient wie in den fünf vorhergehenden Jahren zusammen. Sinjugin gar wurde so reich, dass er sechstausend Rubel für die Kirche stiftete. Sein Aussichtsturm mit dem Teleskop war ihm langweilig geworden. Er hatte sich aus Moskau ein richtiges, lebendes Krokodil kommen lassen, das in einem großen Becken herumschwamm.

      *

      Zwei Tage später begann wieder die Schule. Die Klassenzimmer hallten wider vom Lärm und Stimmengewirr. Jeder berichtete, was er im Sommer gemacht, Wie viel Fische, Krebse, Eidechsen und Igel er gefangen hatte. Der eine prahlte mit seinem erlegten Habicht, der andere erzählte von Pilzen und Erdbeeren, der dritte schwor, er habe eine lebendige Schlange gefangen. Einige von uns waren im Sommer zur Erholung auf die Krim und in den Kaukasus gefahren. Aber das waren nicht viele. Sie blieben unter sich, sie sprachen nicht von Igeln und Erdbeeren, sondern redeten wie selbstverständlich von Palmen, vom Baden und von Reitpferden. Zum ersten Mal erklärte man uns in diesem Jahr, wegen der Teuerung habe der Kurator erlaubt, anstatt der Tuchuniform eine Schülerkleidung aus billigerem Material zu tragen. Meine Mutter nähte mir eine Bluse und Hosen aus irgendeinem Material, das Teufelshaut genannt wurde. Es gab aber noch etwas Neues bei uns. Ein Offizier wurde an die Schule abkommandiert, wir erhielten hölzerne Gewehre, die wie richtige aussahen, und man begann mit uns zu exerzieren.

      *

      Nach dem Brief, den uns der Soldat mit dem Holzbein gebracht hatte, bekamen wir keine Post mehr von Vater. Jedes Mal, wenn Fedkas Vater mit seiner Tasche über die Straße ging, streckte meine kleine Schwester, die lange schon auf ihn gewartet hatte, den Kopf zum Fenster hinaus und rief mit ihrem dünnen Stimmchen: ‚Onkel Sergej, hast du was von Pappi für uns?” Seine Antwort war immer die gleiche: ‚Nein, Kindchen, heute nicht! Aber morgen bestimmt!” Doch am nächsten Tag hatte er wieder nichts für uns.

      7. Kapitel

      Eines Tages, es war schon im Monat September, saß Fedka bis zum Abend bei mir zu Hause. Wir machten gemeinsam unsere Schularbeiten. Wir waren gerade fertig geworden, und Fedka packte schon seine Bücher und Hefte zusammen und wollte nach Hause gehen. Da prasselte auf einmal ein mächtiger Platzregen herab. Ich sprang auf und wollte rasch das Fenster zum Garten schließen. Der Wind pfiff und wirbelte mit jedem Stoß ganze Haufen verwelkten Laubs vom Boden auf; einige dicke Regentropfen schlugen mir ins Gesicht. Nur mit Mühe konnte ich einen Fensterflügel zumachen. Als ich mich hinauslehnte, um auch den anderen heranzuziehen, flog plötzlich ein dicker Lehmbrocken auf das Fensterbrett. Ein ganz schöner Wind! dachte ich. Der kann ja Bäume ausreißen. Ich trat wieder ins Zimmer zu Fedka zurück. “Ein richtiger Sturm! Und da willst du jetzt nach Hause gehen? Es gießt nur so. Sieh mal den Klumpen Lehm hier, der ist gerade ans Fenster geflogen!” Fedka schaute ihn sich ungläubig an. “Den Brocken da soll der Wind reingeworfen haben? Du kohlst ja.” “Was denn sonst?” Ich ärgerte mich. “Ist schon so, wie ich gesagt habe. Ich wollte gerade das Fenster zumachen, da knallte es auf die Fensterbank.” Ich schaute mir den Lehmklumpen etwas genauer an… Sollte ihn doch jemand absichtlich geworfen haben? Doch das konnte ja nicht sein, und so fuhr ich fort: “Blödsinn! Da war doch niemand. Wer soll schon bei dem Wetter im Garten gewesen sein? Das war der Wind, klar!” Mutter saß im Zimmer nebenan und nähte. Mein Schwesterchen schlief schon. Fedka blieb noch eine halbe Stunde da. Schließlich klärte sich der Himmel auf, und durch die regennassen Scheiben schaute der Mond ins Zimmer. Der Wind hatte nachgelassen. “Ich geh jetzt”, sagte Fedka. “Ist gut, ich schließ nicht hinter dir ab, mach die Tür fest zu! Das Schloss schnappt dann von selbst ein.” Fedka zog seine Mütze in die Stirn, steckte die Bücher unter die Jacke, damit sie nicht nass würden, und ging. Ich hörte noch, wie die Tür laut hinter ihm zufiel. Ich zog die Schuhe aus und wollte schlafen gehen. Da sah ich auf dem Boden ein Heft liegen, das Fedka vergessen hatte. Es war sein Heft mit den Aufgaben, die wir gelöst hatten. So ein Dussel! Dachte ich. Morgen in der ersten Stunde haben wir Algebra… na, ich nehme es ihm mit. Ich zog mich aus und kroch unter die Decke, hatte mich aber noch nicht einmal umgedreht, als es im Flur leise und vorsichtig läutete.

      “Wer kommt denn da noch?” fragte Mutter erstaunt. “Doch wohl kein Telegramm von Vater…? Nein, der Briefträger rüttelt immer so stark an der Klinke. Mach mal auf!” “Ich bin schon ausgezogen. Das ist bestimmt der Fedka, er hat sein Heft liegenlassen, und das hat er wohl unterwegs gemerkt.” “Ausgerechnet der!” Sie war ärgerlich. “Konnte er denn nicht morgen früh vorbeikommen? Wo ist denn sein Heft?” Sie