Arkadi Petrowitsch Gaidar

Russische Kindheit bis 1917


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Einbrecher hätten meine Mutter überfallen, und griff schon nach dem Kerzenleuchter auf dem Tisch. Damit wollte ich das Fenster einschlagen und auf die Straße hinaus um Hilfe rufen. Aber da klang es von unten her wie ein Lachen, wie Küsse… ich hörte lebhaftes, leises Sprechen, dann ein Scharren von Füßen auf der Treppe. Die Tür flog auf – ich stand wie gebannt vor meinem Bett, nackt und den Leuchter in der Hand. Tränen noch in den Augen, stand Mutter in der Tür, glücklich und mit lachendem Gesicht, und neben ihr – unrasiert und schmutzig, nass bis auf die Haut – ein Soldat, der liebste von allen, mein Vater. Ein Satz, und schon hatten mich seine starken, harten Hände gepackt. Hinter der Wand rührte sich mein Schwesterchen im Schlaf. Die Geräusche machten sie unruhig. Schon wollte ich zu ihr hineinstürzen und sie wecken, als mich Vater festhielt und mir zuflüsterte: “Lass sein, Boris…weck sie nicht auf… und macht auch nicht solchen Krach!” Dann schaute er Mutter an: “Warjuscha, wenn die Kleine wach wird, sag ihr nicht, dass ich da bin. Lass sie jetzt schlafen. Kannst du sie für drei Tage irgendwohin bringen?” Mutter antwortete: “Wir können sie morgen in aller Frühe nach Iwanowskoje bringen. Sie will schon so lange zur Großmutter. Und der Himmel ist wieder klar, scheint es. Boris kann sie ja morgen früh mitnehmen. Aber jetzt brauchst du nicht so leise zu sein, Aljoscha, sie hat einen festen Schlaf. Oft kommen nachts Leute und holen mich ins Krankenhaus, sie ist daran gewöhnt.” Ich stand da mit offenem Mund und konnte das alles gar nicht fassen. Wieso? Unsere kleine Tanjuschka wollen sie in aller Herrgottsfrühe zur Großmutter bringen, bloß damit sie nicht merkt, dass Vater gekommen ist? Was soll das bedeuten…? Wozu das alles? “Borja!” sagte Mutter zu mir. “Du schläfst in meinem Zimmer, und morgen früh um sechs nimmst du Tanjuschka und bringst sie zur Großmutter… erzählst aber niemandem, dass der Vater gekommen ist.” Ich schaute meinen Vater an. Er schloss mich fest in seine Arme, er wollte etwas sagen, zog mich aber nur umso fester an sich und schwieg. Ich legte mich in Mutters Bett. Vater und Mutter blieben im Esszimmer und schlossen die Tür. Lange fand ich keinen Schlaf. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, versuchte bis fünfzig zu zählen, bis hundert – ich konnte nicht einschlafen. Mir war ganz wirr im Kopf. Dachte ich an das, was geschehen war, stieß ich auf lauter Widersprüche, es war alles so seltsam… An den Schläfen spürte ich einen leichten Druck, als wäre ich lange Karussell gefahren. Erst spät in der Nacht fiel ich in einen leichten Schlaf, wurde aber gleich wieder wach, als leise die Dielen knarrten. Vater war mit einer brennenden Kerze ins Zimmer getreten. Die Stiefel hatte er ausgezogen und nur noch Socken an den Füßen. Er trat an Tanjuschkas Bett und hielt das Licht tiefer. So stand er eine Weile und betrachtete sein kleines schlafendes Kind mit dem hellen Haar und den roten Wangen. Er beugte sich über sie – zwei Gefühle in ihm kämpften miteinander, der Wunsch, sie nur einmal anzufassen, sie zu küssen, und die Furcht, sie könne dadurch wach werden. Diese Furcht aber war stärker. Rasch richtete er sich auf, wandte sich ab und ging hinaus. Noch einmal knarrte die Tür – es war wieder dunkel im Zimmer. … Die Uhr schlug sieben, da wurde ich wach. Durch die gelben Blätter der Birke vor dem Fenster schien hell die Sonne. Rasch zog ich mich an und blickte ins Zimmer nebenan. Dort schliefen sie noch. Ich machte die Tür wieder zu und weckte mein Schwesterchen. “Wo ist die Mammi?” fragte sie, rieb sich die Augen und schaute auf das leere Bett.

      “Mammi haben sie ins Krankenhaus gerufen. Sie hat mir gesagt, ich soll dich zur Großmutter bringen.” Mein Schwesterchen lachte und drohte schelmisch mit dem Finger. “Das ist ja gar nicht wahr, Borka! Großmutter hat doch erst gestern gesagt, ich soll kommen, aber Mammi hat es nicht gewollt.” “Ja, gestern, aber jetzt hat sie es sich anders überlegt. Zieh dich schnell an… Sieh mal, wie schön es heute ist. Da nimmt dich Großmutter bestimmt mit in den Wald.” Schließlich glaubte sie, dass es kein Scherz war, und richtete sich rasch auf. Während ich ihr beim Anziehen half, plauderte sie unentwegt: “Hat es sich Mammi doch anders überlegt? Das ist aber fein. Und unsere Katze, die Lissi, die nehmen wir auch mit, ja, Borka?… Wenn du die nicht willst, dann aber den Purzel. Der macht noch mehr Spaß… Gestern hat er mich im Gesicht geleckt, aber Mammi hat geschimpft. Sie hat das nicht gern, wenn man sie im Gesicht leckt. Einmal, da lag sie im Garten, und da hat sie der Purzel geleckt, und da hat er was mit dem Stock gekriegt.” Sie sprang aus dem Bett und lief zur Tür. “Borka, mach doch mal auf. Mein Tuch, das liegt da noch in der Ecke, da ist auch mein Wagen.” Ich zog sie von der Tür fort und setzte sie wieder aufs Bett. “Da darfst du jetzt nicht rein, Tanjuschka, da schläft ein fremder Onkel, der ist gestern gekommen.” “Was für‘n Onkel?” fragte sie. “Der vom letzten Mal?” “Ja, ja, der vom letzten Mal.” Der Weg nach Iwanowskoje führte an der Tescha entlang. Mein Schwesterchen lief voraus. Alle Augenblicke blieb sie stehen, hob ein Stöckchen auf, schaute den Gänsen zu, die im Wasser plantschten, oder hatte sonst irgendwas. Ich ging langsam hinterher. Die Frische des Morgens, die gelbgrüne Weite der herbstlichen Felder, das eintönige Glockengebimmel der weidenden Herde – das alles machte mich wieder ruhig. Ein Gedanke, der sich mir aufgedrängt und mich die ganze Nacht gequält hatte, er nahm jetzt Gestalt an; ich versuchte schon nicht mehr, ihn loszuwerden. Immer wieder musste ich an den Klumpen Erde denken, der auf das Fensterbrett geflogen war. Natürlich war es nicht der Wind gewesen. Wie hätte auch der Wind einen solchen Brocken, mit Wurzeln drin, aus dem Boden reißen können? Das hatte Vater getan, er wollte sich bemerkbar machen. Bei Sturm und Regen hatte er sich im Garten versteckt, hatte gewartet, dass Fedka nach Hause ging. Tanjuschka sollte ihn nicht sehen. Sie war noch zu klein und hätte sich verplappern können. Wenn aber ein Soldat auf Urlaub kam, brauchte er sich vor niemandem zu verstecken… Ich zweifelte nicht mehr daran, mein Vater war ein Deserteur.

      *

      Auf dem Rückweg lief ich ausgerechnet unserem Schulinspektor in den Weg. “Gorikow”, sagte er streng, “was soll das heißen…? Warum sind Sie während des Unterrichts nicht in der Schule?” “Ich bin krank”, erwiderte ich gedankenlos und ahnte nicht, wie dumm meine Antwort war. “Krank?” fragte er weiter. “Was reden Sie da für Unsinn? Wer krank ist, liegt zu Hause im Bett und marschiert nicht auf der Straße herum.” “Ich bin aber doch krank”, wiederholte ich hartnäckig, “ich habe Temperatur…” “Temperatur hat jeder Mensch”, entgegnete er aufgebracht. “Reden Sie keinen Unsinn, und marsch in die Schule!” Das hat mir noch gefehlt! Dachte ich und schritt hinter ihm her. – Warum habe ich nur gesagt, ich wäre krank? Hätte mir denn nichts Besseres einfallen können, etwas, was der Wahrheit näher gewesen wäre? Unser Schularzt, ein altes Männchen, brauchte gar nicht erst meine Temperatur zu messen – er legte mir bloß die Hand auf die Stirn und stellte gleich laut und vernehmlich die Diagnose: “Hat einen starken Anfall von Faulfieber. Anstelle von Medizin empfehle ich eine Fünf in Betragen und zwei Stunden Nachsitzen, ohne Mittagessen.” Mit der Miene eines erfahrenen Apothekers billigte der Inspektor dieses Rezept. Er rief Semjon, den Schuldiener, und befahl, mich in meine Klasse zu bringen. “Wie kann man nur seine Bücher und Hefte vergessen?” entrüstete sich die Deutschlehrer, Elsa Franziskowna entlud ihren ganzen Zorn in einem ellenlangen deutschen Satz, von dem ich gerade noch so viel verstehen konnte, dass Faulheit und Lügen bestraft werden müssen. Aber eines war mir völlig klar: dass ich um die dritte Stunde Nachsitzen nicht herumkam. In der Pause fragte mich Fedka: “Warum kommst du denn ohne Bücher, und warum hat dich der Semjon in die Klasse gebracht?” Ich log ihm irgendetwas vor. In der nächsten und letzten Stunde, in Geographie, war ich wie im Halbschlaf. Was der Lehrer sagte, was die Schüler antworteten – alles ging an meinem Bewusstsein vorüber. Ich kam erst wieder zu mir, als es klingelte. Unser Klassenältester hatte das Gebet gesprochen. Die Schüler klapperten mit den Bankdeckeln und rannten einer nach dem anderen zur Tür hinaus. Dann war die Klasse leer und ich allein. Mein Gott, dachte ich wehmütig, noch drei Stunden, geschlagene drei Stunden, und zu Hause sitzt jetzt mein Vater. Wie seltsam das alles ist! Ich ging nach unten. Neben dem Lehrerzimmer stand eine lange, schmale Bank, ganz von Taschenmessern zerschnitten. Dort saßen schon drei. Einer war aus der ersten Klasse. Er musste eine Stunde nachsitzen, weil er einen Kameraden mit Kügelchen aus zerkautem Papier beworfen hatte. Ein anderer saß da, weil er sich geprügelt, und ein dritter, weil er versucht hatte, vom dritten Stock aus einem anderen Schüler, der unten vorbeiging, auf den Kopf zu spucken. Ich setzte mich auf die Bank und dachte nach. Der Schuldiener Semjon ging vorüber. Laut klirrte sein Schlüsselbund. Der Aufsicht habende Lehrer ging hinaus. Von Zeit zu Zeit hatte er nach uns geschaut und verschwand nun mit einem trägen Gähnen. Vorsichtig stand ich auf und sah durch die Tür