bekam, die Hände in die Hosentaschen steckte und gnauzend wie ein verwöhntes Kind sagte: »Ist denn noch nicht bald Schluß mit der Schinderei?« Daraufhin warf Höfgen ihm einen vernichtenden Blick zu aus seinen weichen und eiskalten Augen. Er sagte: »Wann aufgehört wird, das bestimme allein ich!« und hielt das schöne Kinn besonders hoch gereckt. Dem eingeschüchterten Ensemble zeigte er das Antlitz eines edlen und nervösen Tyrannen, welches aber gleichzeitig an das fahle Gesicht einer älteren, gereizten Gouvernante erinnert. Alle fürchteten sich; besonders der kleinen Angelika liefen süße und heftige Schauer über den Rücken. Einige Sekunden lang verblieb man in demütiger Regungslosigkeit; das Aufatmen war hörbar, mit dem die verängstigte Gruppe auf die nächste, befreiende Geste ihres Herrn reagierte. Hendrik geruhte in die Hände zu klatschen und das Haupt mit einer gnädigen Munterkeit in den Nacken zu werfen. »Weitermachen, Herrschaften!« rief er, wobei seine Stimme den hellen Metallton hatte, dem fast niemand widerstehen konnte. »Wo haben wir unterbrochen?«
Man probierte folgsam die nächste Szene, war aber kaum mit ihr zu Ende gekommen, als Hendrik seinerseits einen Blick auf die Armbanduhr warf. Sie zeigte ein Viertel vor vier Uhr: Während er es feststellte, erschrak er, und zwar so heftig, daß es weh im Magen tat. Ihm war eingefallen, daß er um vier Uhr eine Verabredung mit Juliette in seiner Wohnung hatte. Sein Lächeln war etwas krampfhaft, als er dem Ensemble mit hastig-freundlichen Worten mitteilte, nun müsse Schluß gemacht werden. Dem jungen Miklas, der sich ihm mürrischen Gesichtes nahte, um irgendeine Frage zu stellen, winkte er eilig ab. Er rannte durch das dunkle Parkett dem Ausgang zu; legte das steile Stück Weges, das zwischen dem Theaterportal und der Kantine lag, laufend zurück; langte atemlos im H.K. an; riß dort seinen braunen Ledermantel und den weichen grauen Hut vom Nagel und war schon davon.
In den Überzieher schlüpfte er erst auf der Straße. Gleichzeitig dachte er nach. ›Wenn ich zu Fuß gehe, werde ich ein paar Minuten zu spät kommen, so sehr ich mich auch beeile. Juliettchen wird mir einen furchtbaren Empfang bereiten. Mit dem Taxi käme ich zurecht, mit der Trambahn auch beinah noch. Aber ich habe nur ein Fünfmarkstück in der Tasche: Dies ist das geringste, was ich Juliette anbieten darf. An ein Taxi ist also überhaupt nicht zu denken; an die Trambahn aber auch eigentlich nicht, denn es blieben nur vier Mark fünfundachtzig – was zu wenig für Juliettchen ist – und auch diese Summe in kleiner Münze – was sie sich doch ein für allemal verbeten hat.‹
Während er diese Überlegung anstellte, war er auch schon weitergetrabt. Im Grunde hatte er wohl überhaupt nicht ernsthaft daran gedacht, sich einen Wagen oder auch nur die Trambahn zu leisten; denn über die angebrochenen fünf Mark würde seine Freundin sich wirklich geärgert haben, während ihr scheinbar so heftiger Zorn über seine kleine Verspätung zu den beinah unvermeidlichen Riten ihres Zusammenseins gehörte.
Der Wintertag war klar und sehr kalt; Hendrik fror in seinem leichten Ledermantel, den zu schließen er obendrein noch vergessen hatte. Besonders an den Händen und Füßen spürte er den Frost: Handschuhe besaß er nicht, und die sandalenartigen Spangenschuhe, die seine Fußbekleidung ausmachten, waren entschieden nicht das Passende für die Jahreszeit. Um wärmer zu werden und um Zeit zu sparen, machte er große Schritte, die eine Neigung hatten, in recht kuriose Sprünge und Hüpfer auszuarten. Viele Passanten schauten dem merkwürdigen jungen Mann mit Lächeln oder mit Mißbilligung nach: auf seinem leichten und originellen Schuhwerk bewegte er sich mit einer Behendigkeit, die halb närrischen, halb göttlichen Charakters schien. Übrigens sprang und hüpfte er nicht nur, sondern sang auch dazu, und zwar abwechselnd Mozart-Melodien und Operettenschlager. Singen und Hüpfen begleitete der Laufende mit allerlei Gesten, wie man sie auch nicht alle Tage sieht. Jetzt eben spielte er Fangball mit einem Veilchenstrauß. Diesen hatte er im obersten Knopfloch seines Mantels befestigt gefunden, er mußte das Geschenk einer Verehrerin aus dem Ensemble sein, wahrscheinlich kam die zarte Gabe von der kleinen Angelika.
Hendrik dachte an das kurzsichtige und liebenswürdige Geschöpf, während er, springend und singend, auf offener Straße zum Amüsement und Ärgernis der Leute wurde. Merkte er nicht, wie die eine Bürgersdame die andere anstieß, um ihr zuzuraunen: »Das muß doch einer vom Theater sein?!« Woraufhin die andere kicherte: »Freilich, das ist doch der, der immer im Künstlertheater mitspielt – dieser Höfgen. Sehen Sie doch nur, Liebste, was er für ulkige Bewegungen macht und wie er immerzu vor sich hin plappert!« Sie lachten beide, und auf der anderen Straßenseite lachten ein paar halbwüchsige Jungen mit. Aber Hendrik – obwohl doch aus Eitelkeit und von Berufes wegen darin geübt, die Reaktion der Menschen auf jede seiner Gesten zu beachten und zu registrieren – bemerkte diesmal weder die Damen noch die Gymnasiasten. Sein beschwingter Lauf durch die Kälte und die Vorfreude auf das Zusammensein mit Juliette hatten ihn in einen Zustand leichter Berauschtheit versetzt. Wie selten wurden so enthusiastische Stimmungen ihm jetzt noch zuteil! Früher – ja, früher war er oft, vielleicht beinahe immer so gewesen: so beflügelt und so selbstvergessen. Als er, zwanzigjährig, bei der Wanderbühne Väter und reife Helden spielte: damals hatte er lustige Tage gekannt. Damals waren sein Übermut, seine Verspieltheit stärker gewesen als sein Ehrgeiz – es war lange her, wenn auch vielleicht so unendlich lange noch nicht, wie es ihm jetzt meistens erscheinen wollte. Hatte er sich wirklich so verändert? War er nicht noch immer übermütig und verspielt? Auch jetzt, in dieser guten Stunde, wußte er nichts mehr vom Ehrgeiz. Wären die Begriffe des Ehrgeizes, der großen Karriere ihm jetzt gegenwärtig geworden, er hätte über sie nur lachen können. Gegenwärtig aber war ihm jetzt nur: daß die Luft frisch und durchsonnt und daß er selber noch jung war; weiterhin: daß er lief; daß sein Schal flatterte; daß er nun gleich bei seiner Liebsten sein würde.
Die schöne Stimmung ließ ihn wohlwollend werden, zum Beispiel gegenüber Angelika, die er so häufig demütigte und kränkte. Nun dachte er an sie beinah zärtlich. ›Ein liebes Kind, ein sehr liebes Kind, ich will ihr heute abend irgendwas schenken, damit sie sich auch einmal freut. Könnte man nicht mit Angelika zusammenleben? Ja, das wäre ein bequemes Dasein – ein viel bequemeres als das mit meiner Juliette.‹ Bei allem ergriffenen Wohlwollen des Augenblicks mußte er nun doch höhnisch kichern, weil er Angelika mit Juliette verglichen hatte – die arme kleine Siebert mit der großen Juliette, die auf eine schreckliche und genaue Art das war, was er brauchte. Für solchen Frevel bat er Juliette innerlich um Verzeihung, während er vor seiner Haustür angelangt war.
Die altmodische Villa, in deren Erdgeschoß er ein Zimmer bewohnte, lag in einer jener stillen Straßen, die vor dreißig Jahren zu den vornehmsten der Stadt gehört hatten. Mit der Inflation waren die meisten Bewohner der feinen Gegend arm geworden; ihre Villen mit den vielen Zinnen und Giebeln sahen schon recht heruntergekommen aus – verwahrlost, wie die großen Gärten, die sie umgaben. Auch Frau Konsul Mönkeberg, der Hendrik monatlich vierzig Mark für eine geräumige Stube bezahlte, fand sich in bedrängten Verhältnissen. Trotzdem war sie eine tadellose, stolze alte Dame geblieben, die ihre sonderbaren Kostüme mit Puffärmeln und Spitzenumhang würdevoll trug, auf deren glatten Scheitel niemals ein Haar sich widerspenstig zu zeigen wagte und um deren schmale Lippen ironische, aber nicht bittere Fältchen spielten. Die Witwe Mönkeberg war überlegen genug, an den Exzentrizitäten und diversen Unartigkeiten ihres Mieters keinen Anstoß zu nehmen, sondern ihnen eher die drolligen Seiten abzugewinnen. Im Kreise ihrer Freundinnen – alter Damen von ähnlicher Feinheit, ähnlicher Armut und fast dem gleichen Aussehen wie sie – pflegte sie mit trockenem Humor von den Narreteien ihres Untermieters zu berichten. »Manchmal springt er auf einem Bein die Treppe hinauf«, sagte sie und lächelte beinahe wehmütig. »Und wenn er spazierengeht, setzt er sich oft plötzlich aufs Trottoir – denken Sie sich doch: auf das schmutzige Pflaster – weil er fürchtet, er müsse sonst stolpern und hinfallen.« Während alle Damen ihre grauen Häupter schüttelten und, halb schockiert, halb amüsiert, mit den Mantillen raschelten, fügte die Konsulin versöhnlich hinzu: »Was wollen Sie, meine Lieben? Ein Künstler … Vielleicht ein bedeutender Künstler …« sprach die alte Patrizierin langsam und bewegte die hageren, weißen Finger, an denen sie seit zehn Jahren keine Ringe mehr trug, auf der verblichenen Spitzendecke des Teetisches.
Hendrik fühlte sich unsicher in der Gegenwart der Dame Mönkeberg; ihre vornehme Herkunft und Vergangenheit schüchterten ihn ein. So war es ihm auch jetzt durchaus nicht angenehm, der feinen Alten im Vestibül zu begegnen, nachdem er gerade die Haustür so krachend hinter sich ins Schloß geworfen hatte. Angesichts