Martina Kirbach

Aus smarter Silbermöwensicht


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      Inhaltsverzeichnis

      Fragen

      Seb

      Herr Steger

      Zuviel Alltag

      Ein roter Pullover

      Helfersyndrom

      Die Sache mit den Versprechungen

      Stereotype

      Albtraum

      Männer

      Schulpflicht

      Bewegung

      Eine Frage der Kollegialität

      Reisevorbereitungen

      Beim Italiener

      Die Expedition

      Eine Sprachnachricht

      Mona

      Max

      Distanzen

      Warum nicht Stockholm

      Alles im Fluß

      Zeichen im Eis

      Kino

      Nebel

      Der Pullover

      Anspruche

      Gletscherspalte

      Notoperation

      Schweden

      Entschleunigung

      Telefonate I

      Telefonate II

      Jakob

      Gefühlschaos

      Flughavenbegegnung

      Hausverbot

      Kleine Schritte

      Einblicke

      Zuhören

      Unbeeindruckt

      Müde

      Verfolgt

      Sturm- und Silbermöwen

      Assozieiert

      In der Nacht

      Vorsätze I

      Vorsätze II

      Haltung

      Intrige

      Perspektiven

      Frischer Wind

      Im Badezimmer

      Keine Panik!

      Rollentausch

      Selbstbilder

      Ein Ziel

      Wieder einmal Jakob

      

      

       Aus smarter Silbermöwensicht

      

      Roman

      Martina Kirbach

      Fragen

      »Ich kann mir was Besseres denken, als täglich alten Leuten den Hintern abzuwischen!« So hatte Anjas Mitschülerin Melanie abschätzig getönt, als Anja erwähnte, sie könne sich vorstellen, als Altenpflegerin zu arbeiten. ›Und ich kann mir etwas Angenehmeres erträumen, als ständig irgendwelchen Fotografen meinen Busen oder Po zu präsentieren‹, hätte Anja kontern können, denn Melanies Berufswunsch war, ein Model zu werden. Doch anders als diese hatte Anja ihre Gedanken für sich behalten.

       Ein kaltblaues Licht kam von der einzigen funktionierenden Neonleuchte des Badezimmerschranks, in dessen Spiegel Anja sich jetzt begegnete.

      Die kühle Beleuchtung ließ sie blasser und erschöpfter aussehen, als sie sich fühlte. Anja erschrak, obwohl sie um den wenig schmeichelhaften Effekt der Lampe wusste.

      Wieso gelang es ihr nie, rechtzeitig ins Bett zu gehen, um morgens ausgeschlafen aufzustehen? Warum hatte sie mal wieder den Geburtstag ihrer besten Schulfreundin vergessen? Wie konnte es sein, dass sie auf der Arbeit fast immer länger blieb als ihre Kollegen?

      Anja versuchte, die Gedanken zurückzudrängen, sich auf die morgendliche Routine zu konzentrieren, aber ihre Arbeitssituation ging ihr nicht aus dem Kopf. Sollte es einen Zusammenhang geben zwischen ihren unkalkulierbaren Arbeitszeiten und der Tatsache, dass ihre Kollegin Martha in jüngster Zeit extrem wortkarg war? Und, aus welchem Grund wurde der Dienstplan neuerdings immer wieder in letzter Minute umgeschrieben?

      Wieso beschäftigte sie sich überhaupt mit diesen Fragen? Sie hatte ihr Leben doch im Griff. Das Arbeitsklima war angenehm, die meisten Kollegen einfühlsam, hilfsbereit und nett. So manche kritische Situation wurde gemeistert, weil man die Stärken wie die Schwächen der anderen kannte und sich gegenseitig ergänzte. So schien es zumindest.

      Sie selbst sah sich als eine starke Frau, die wusste, was sie tat und auf welchem Weg sie war: auf dem Pfad zu einem endlich selbstbestimmten Leben. Nur, warum hatte Mona sie am Freitag so besorgt angeblickt? Anja sah ihre resolute Freundin vor sich, mit ihren kurzen, dunklen Haaren, in denen sich vereinzelt graue Strähnen fanden, ohne dass zu erkennen war, ob sie naturbelassen oder getönt waren. Mona hatte ihre Hornbrille ein wenig zurückgeruckelt und gesagt: »Anja, pass auf dich auf!« Ohne, dass diese nachfragen konnte, hatte der Pager geklingelt und jeder war zu seiner Aufgabe geeilt.

      »Mama? Wir sind fertig«, sagte ihre Tochter Clara leise. Sie war verunsichert, wie sie mit den, sich in letzter Zeit häufenden, Tagträumereien ihrer Mutter umgehen sollte. Anja zuckte zusammen, dann verließ sie hastig das Badezimmer.

      »Clara, Phillip, sorry, ich habe geträumt. Habt ihr alle Schulsachen? Hier sind eure Pausensnacks und etwas zum Trinken. Macht’s gut und überquert die Straßen bitte nur an den Ampeln, ja?«

      »Aber Mama, das musst du uns nicht jedes Mal sagen«, antwortete Phillip vorwurfsvoll, packte die Sachen ein und zog mit seiner Schwester los.

      Als die Tür ins Schloss fiel, lauschte Anja für einen Moment, wie die Schritte ihrer Kinder im Treppenhaus verhallten. Nun war sie mit ihren Gedanken erneut allein.

      Warum nur hatte ihre Freundin und Kollegin ihr geraten, auf sich aufzupassen? Die Frage ließ sie nicht los. Trotz der anstrengenden Arbeit konnte man auf ihrer Station doch gemeinsam herzlich lachen. Zum Beispiel, wenn es der sehbehinderten, im Rollstuhl sitzenden Frau Weber mit Hilfe einer anderen Mitbewohnerin wieder gelungen war, sich unbemerkt auf den Weg zu machen, um ihre Weinvorräte aufzustocken. Hierzu hatte sie sich mit Frau Keimer verbündet. Diese hatte eine noch milde Ausprägung von Alzheimer und war begeistert, sich mit ihrer neuen Freundin unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Was gar nicht heimlich hätte geschehen müssen, da keine der beiden sich in einer geschlossenen Abteilung befand. Dennoch spürten sie, dass das Pflegepersonal es ungern sah, wenn sie das Haus unbeaufsichtigt verließen. Folglich machten sich die zwei Damen regelmäßig durch einen Notausgang aus dem Staub, ohne sich abzumelden. Frau Keimer kicherte dann pausenlos, Frau Webers sonst angespanntes Gesicht wurde weich und gelöst. Frau Keimers Tochter waren diese Umtriebe ihrer Mutter zu Ohren gekommen und sie hatte eine Verabredung mit dem nahegelegenen Taxibetrieb getroffen: Wann immer die Fahrer dieser beiden Damen gewahr wurden, chauffierten sie diese nach einer gewissen Zeit zurück ins Seniorenheim. Unter der Voraussetzung, dass es sich um Heimfahrten und keine Ausflüge handelte, beglich die Tochter umgehend die Rechnung – eine Vereinbarung, mit der alle gut leben konnten.

      Amüsant war auch, wie manche Leute einfache Dinge verkomplizieren konnten: beispielsweise der Kollege Peer, der ständig versuchte, die Medikamentenausgabe zu perfektionieren, aber regelmäßig länger brauchte als alle anderen.

      Anja konnte ehrlich über sich selbst lachen, weil sie sich in den Marotten der Mitarbeiter oder Bewohner wiedererkannte. Da war die verträumte Frau Senser, die immer wieder vergaß, sich für die Nacht fertig zu machen, weil sie so gerne dem Abendgesang