Martina Kirbach

Aus smarter Silbermöwensicht


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Rollstuhl sitzen und einer jener ins Heim ‚Abgeschobenen‘ sein, dachte er bitter. Nein, dieser Gedanke war nicht okay, er war ungerecht, unfair Jonas und Jana gegenüber. Sein Sohn hatte ihn letztes Jahr zu sich holen wollen und ihm sogar die Umbaupläne gezeigt: eine helle Einliegerwohnung mit altersgerechtem Bad sowie einer eigenen kleinen Terrasse. Marco Steger hatte abgewinkt. Nun musste er zu seiner Entscheidung stehen.

      »Guten Tag, Herr Steger, meine anderen Kollegen haben sich ja schon vorgestellt. Ich bin die Anja und arbeite seit eineinhalb Jahren in diesem Haus. In der Regel bin ich zur Frühschicht auf der Pflegestation, doch momentan sind einige Mitarbeiter erkrankt und ich bleibe heute ein wenig länger. Wir helfen nämlich, bei Bedarf, auch hier in der Abteilung des betreuten Wohnens.«

      »Guten Tag.« Der weißhaarige, hagere Herr im Rollstuhl hob nur andeutungsweise den Kopf:

      »Ich sehe, Sie haben ja Ihren Kaffee gar nicht getrunken. Den trinken Sie sicherlich noch später. Ich habe hier auch eine Flasche Mineralwasser für Sie.«

      »Räumen Sie den Kaffee ruhig ab, er schmeckt mir sowieso nicht.«

      »Schade, bislang hat sich selten jemand über unseren Kaffee beschwert.«

      »Habe ich mich beschwert?«

      Zwei klare hellblaue Augen musterten Anja für den Bruchteil einer Sekunde. »Nein, haben Sie nicht. Entschuldigung, vielleicht müssen Sie hier erst mal richtig ankommen.«

      Marco schwieg.

      »Ankommen, ja, aber bisher hatte ›ankommen‹ für mich eine andere Bedeutung… Früher hieß ›ankommen‹ Unwegsamkeiten überwinden, Abenteuer erleben, ein Ziel haben und erreichen, um anschließend erneut aufzubrechen, ... aber jetzt? Wie war noch mal Ihr Name?«

      »Anja. Wir sehen uns nach dem Abendbrot. Da erzählen Sie mir genauer, was ›ankommen‹ für Sie bedeutet. Ich denke, Sie haben viel erlebt.«

      »Später vielleicht, nicht heute, ich bin sehr, sehr müde.«

      »Kein Problem. Das verstehe ich. Alles ist ja neu und ungewohnt, stimmt‘s?«

      Anja sah sich in Herrn Stegers Zimmer um. Es war so gut wie fertig eingerichtet. Die Regale an der rechten Wand waren bis unter die Decke voll mit Büchern und Bildbänden. Es gab einen kleinen Sekretär, an dem man vom Rollstuhl aus schreiben konnte. Darauf erkannte Anja das Bild eines circa dreißigjährigen Mannes. Unverkennbar ähnelten seine Gesichtszüge denen von Herrn Steger.

      Herr Steger folgte Anjas Blicken und erklärte: »Ja meine Kinder haben letzte Woche schon alles vorbereitet. Es war viel Arbeit!«

      »Ach, so. In der Regel klappt das nicht so schnell. Wie schön für Sie! Ich muss jetzt gehen. Sie haben unsere Rufnummer, für den Fall, dass Sie Hilfe brauchen?«

      »Die liegt auf dem Tisch, danke.«

      Wie erleichtert Anja war! Dies war heute der dritte Versuch, Herrn Steger aus seiner Reserve zu holen. Wie die Kollegen berichteten, hatte er bislang fast regungslos aus dem Fenster geschaut und die Bewegung der vorbeiziehenden Wolken beobachtet. Nun hatte er ihr geantwortet, in wenigen Worten, klar und stimmig. Zufrieden, dass es ihr gelungen war, ihm ein paar Sätze zu entlocken, zog Anja geräuschlos Herrn Stegers Tür ins Schloss. Ein kleiner Erfolg, sagte sie sich. Doch, wie lange würde sie diesen Job so noch durchhalten?

      Auf dem Heimweg waren sie wieder da, die Schuldgefühle. Zum wiederholten Male hatte sie nicht bei Dienstschluss sofort ihre Sachen genommen und war nach Hause gehetzt.

      Stattdessen hatte sie die Spätschicht darauf hingewiesen, dass Frau Xander wegen ihrer Pergamenthaut häufiger als bislang umgebettet werden müsse, und dass Herr Buck seine dritten Zähne seit neuestem im Schuhschrank versteckte. Tragik und Komik lagen in ihrem Beruf so nah beieinander. Doch ihr Eindruck war, dass ihr keiner der Kollegen zuhörte oder zuhören wollte. Würde sie nach vielen Jahren ebenso abstumpfen?

      Zuviel Alltag

      Kaum hatte Anja einen Parkplatz in der Nähe ihrer Wohnung gefunden, fiel ihr ein, dass einige Lebensmittel fehlten, und beschloss, noch schnell einen Abstecher zum Supermarkt zu machen. Sebastian dachte selten ans Einkaufen und ließ sich, wenn der Kühlschrank leer war, eine Fertigpizza bringen.

      Ein kurzer Blick aufs Handy. Gott sei Dank, keine Nachricht! Falls etwas mit Phillip vorgefallen wäre, hätte Clara sie informiert. Eine Mischung aus Erleichterung und Dankbarkeit durchflutete Anja bei dem Gedanken an ihre 10-jährige Tochter. Man sah dem zierlichen, blonden, auf den ersten Blick eher zurückhaltenden Mädchen nicht an, wie selbstbewusst es auftreten konnte. Zuhause übernahm sie Verantwortung für sich und ihren Bruder, in der Schule erledigte sie selbstständig und zielstrebig ihre Aufgaben. Ob das so bleiben würde? Wenn Anja an ihre eigene Kindheit zurückdachte… Wann hatte sie ihre Gradlinigkeit verloren?

      Anja war in Lilienthal, unweit von Bremen aufgewachsen. Der Ort hatte zwar teilweise dörflichen Charakter, war jedoch schon von den Gewohnheiten der täglich pendelnden Bewohner geprägt. In ihrer Grundschulzeit hatte Anja Freunde aus Familien, die im Alltag noch rudimentär ländliche Bräuche pflegten. Ihre Bodenständigkeit, die festen Essenszeiten und klaren Regeln schufen einen behütenden Rahmen, in dem Anja sich geborgen fühlte. An ihre ersten vier Schuljahre erinnerte sie sich gerne.

      Auf dem Gymnasium hingegen, das merkte Anja schnell, wehte ein anderer Wind. Die Klassen waren größer, in jedem Fach unterrichtete ein anderer Lehrer und es gab sehr viele Hausaufgaben. Anja konnte sich für Erdkunde, Biologie und Sport begeistern. Kunst und Deutsch waren okay. An Englisch und Mathematik verlor sie bald das Interesse. In Mathe schweiften ihre Gedanken wegen der umständlichen Erklärungen ab und in Englisch war sie jedes Mal überrascht, wenn ein Vokabeltest geschrieben wurde. Trotz Gymnasialempfehlung erreichte Anja das Klassenziel der fünften Klasse nicht. Als Einzige! Noch jetzt erinnerte sie sich an ihre Angst und das Gefühl der Scham in der Zeit nach diesen Sommerferien. Wie peinlich! Wie würden die neuen Mitschüler sie behandeln?

      Diese Furcht und Sorge, den Erwartungen anderer nicht zu entsprechen! Dieses lähmende Gefühl tiefer Verunsicherung zog sich wie ein roter Faden durch Anjas Leben.

      In ihrem neuen Zuhause, der WG mit Seb würde sie hoffentlich einiges davon hinter sich lassen. Es hatte sich als Ritual ergeben, dass sie unten an der Haupteingangstür klingelte und dann, wie erwartet, kurz darauf Clara und Phillip ihr ausgelassen entgegeneilen. Sie sprinteten um die Wette die Treppe herunter, und umarmten ihre Mutter: Phillip kurz und flüchtig, Clara hingegen hängte sich lachend an ihren Arm.

      »Du Mama, ich wünsch mir ein Pferd!«

      »Ich auch«, rutschte es Anja heraus, biss sich dann auf die Lippen. »Wie kommst du denn darauf?«

      »Pferde sind einfach toll. Wunderschön, klug und gute Freunde. Ich habe das gelesen.«

      Entgegen dem Impuls, ihrer Tochter Recht zu geben entgegnete Anja: »Ja, aber sie sind teuer und machen sehr viel Arbeit.«

      »Ach«, schmollte Clara, hing aber weiterhin an Anjas Arm, sodass diese nur mühsam die Stufen erklimmen konnte. Gerade jetzt wollte sie um nichts in der Welt eine Spielverderberin sein.

      Inzwischen war es 18:00 Uhr, als sie die Küche betraten. Die Spüle war voll mit dreckigem Geschirr, obwohl sie eine neue Spülmaschine angeschafft hatten. Anja spürte einen Anflug von Groll. Gewiss, Seb war die meiste Zeit zu Hause und hätte aufräumen können, aber sie verbiss es sich, herumzunörgeln. In ihrer Abwesenheit hatte sich Seb als ein zuverlässiger Ansprechpartner für die Kinder erwiesen, ohne dass sie ihn darum gebeten hatte. Sie wusste, dass, wenn sie auf der Arbeit war, seine Tür immer angelehnt war. Was für ein beruhigendes, neues Gefühl!

      Kaum hatte Seb Anja kommen gehört, tauchte sie auf vor seinem inneren Auge: Die halblangen, kastanienbraunen Haare locker hochgesteckt, für gewöhnlich in Jeans und Sweatshirt, mit einem strahlenden Gesicht, das die Freude über die Kinder widerspiegelte. In den bernsteinfarbenen Augen blitzten meist Neugier, Interesse und etwas Spitzbübisches. Dennoch gab es Tage, an denen Müdigkeit und Erschöpfung überwogen.