Martina Kirbach

Aus smarter Silbermöwensicht


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erinnert. Wie oft war er eingesprungen, wenn Max seine Arbeiten auf den letzten Drücker zusammengeschrieben und alle Leute um Hilfe angefleht hatte. Auf Seb war Verlass und seine schwarze Liste bislang nicht mehr als eine Idee. Und überhaupt, was war das? Ein Bewerbungsgespräch am Samstag?

      »Eh... Eigentlich passt es mir gar nicht. Eh… okay. Auf keinen Fall vor 12:00 Uhr.«

      »Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann, Seb, bis nachher.« Schon hatte Max aufgelegt.

      Seb überlegte. So ein Mist. Wie vertraut war das Gefühl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Erst neulich hatte er der Nachbarin versprochen, ihre Pflanzen während ihres Urlaubs zu gießen. Spontan war er dann aber zu seinen Eltern gefahren, um ihnen mit der Installation einer neuen Telefonanlage zu helfen. Bei seiner Rückkehr fand er die Hälfte der empfindlichen Gewächse vertrocknet, und bei dem Versuch, Unterbliebenes wieder gutzumachen, hatte er viele der restlichen Pflanzen ertränkt. Die Nachbarin hatte seine Erklärungen kommentarlos zur Kenntnis genommen und Seb vermied es seitdem, ihr auf der Treppe zu begegnen.

      Sebs Gedanken überschlugen sich. Was sollte er mit den Kiddies jetzt tun? Wem fühlte er sich mehr verpflichtet? Anja oder Max? Seb schaute an die Küchendecke und presste seine Lippen zusammen.

      »Kinder, ich hab` hier ein Problem.«

      »Und das sind wir. Das sieht doch jeder. Stimmt`s?« Die Ellenbogen auf dem Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, sah Clara Seb herausfordernd an.

      »Blödsinn.«

      »Das ist ja nichts Neues«, fuhr Clara fort. »Lass mich raten. Du hast Anja versprochen, auf uns aufzupassen, und jetzt ruft wieder so‘n Hansel an, der mit seinem PC nicht klarkommt. Natürlich ist das gaaanz, gaaaanz dringend«, folgerte Clara ernüchtert.

      »Sag, mal hast du mein Handy abgehört?«

      »Nein, aber dafür habe ich hellseherische Kräfte«, erwiderte Clara forsch.

      »Schon gut, Clara, du hast recht. Max hat mich um Hilfe gebeten und ich habe zugesagt.«

      »Not soll erfinderisch machen! Da bin ich ja mal gespannt«, spöttelte Clara.

      »Ich hätte da so eine Idee«, mischte sich Phillip ein. »Clara und ich kommen alleine klar. Du brauchst bestimmt nicht lange. Und in der Zwischenzeit dürfen wir ein bisschen an deinem PC spielen.« Phillip sah Seb erwartungsfroh an.

      Sebastian schwieg. Anjas PC war für die Kinder gesperrt und es wäre ein Leichtes für ihn, seinen so zu manipulieren, dass er sich nach einer Stunde unwiderruflich runterfahren würde.

      Andererseits wollte er Anja gegenüber loyal bleiben und die war in puncto Computernutzung bei ihren Kindern sehr restriktiv. Er respektierte das, weil er selbst immer wieder die Erfahrung machte, wie leicht man sich beim Programmieren oder im Netz verlieren konnte. Zu oft hatte er sich durch diverse Seiten geklickt und am Ende vergessen, was er ursprünglich suchte. Zurück blieben Frust und das sichere Gefühl, Zeit vergeudet zu haben.

      Einigen Andeutungen zufolge musste Anjas Ex in der Vergangenheit ausgesprochen nachgiebig in Hinblick auf den Medienkonsum der Kinder gewesen sein. So konnte Max nachvollziehen, warum Anja Clara und Phillip fortan schützen wollte. Die Versuchung, den PC als ›Babysitter‹ einzusetzen, war ungeheuer groß. Es wäre bequem gewesen!

      Clara und Phillip beobachteten ihn erwartungsvoll.

      »Ich nehm euch mit! Schließlich will Max etwas von mir!«

      Doch die Begeisterung der Geschwister hielt sich in Grenzen.

      »Hat Max Kinder?«

      »Nö.«

      »Was sollen wir dann da?«

      »Weiß ich auch nicht. Aber ich glaube, die haben einen Hund.«

      »Cool. Was für einen?«, erkundigte sich Phillip, doch Clara hakte sofort nach: »Warum glaubst du das nur?«

      »Ich glaub‘s gar nicht mehr. Die kommen nämlich gerade aus Australien.«

      »Glaubst du es nicht oder weißt du auch das nicht?«

      »Nun werd mal nicht kiebig.«

      »Hä?«

      »Kiebig. Frech. Also, okay. Vielleicht haben sie ja ein Känguru mitgebra….«, Seb stockte, als er sah, wie Clara mit den Augen rollte.

      »Okay. Wir kommen mit« sagte Phillip versöhnlich und auch Carla protestierte nicht weiter. Trotz der unvermittelten Zustimmung der Kinder wusste Seb, dass er, inmitten zweier lebendigen Kindern und gesprächigen Freunden, ein schwerwiegendes Computerproblem kaum würde lösen können. Hierfür brauchte er Ruhe!

      Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen. Wo hatte er das neulich gelesen?

      Stereotype

      Anja saß nach Dienstschluss regungslos in ihrem Auto. Statt den Wagen zu starten, ließ sie den Arbeitstag Revue passieren und merkte, wie sie körperlich in sich zusammensackte. Es war wieder einmal sehr anstrengend gewesen und eigentlich hätte sie das ganze Wochenende zum Erholen gebraucht. Hinzu kam, dass die wechselhafte Wetterlage sich in Stimmungshochs und -tiefs der Heimbewohner und Kollegen widerspiegelte.

      Es beunruhigte Anja, dass sich Herr Steger den ganzen Tag nicht gemeldet hatte. Ein wichtiger Aspekt des betreuten Wohnens war, den Menschen ein großes Maß an Eigenständigkeit zu ermöglichen, ohne sie ständig zu kontrollieren. Dennoch nahm sie sich vor, bei nächster Gelegenheit wieder bei ihm reinzuschauen. Ihre Arbeitstage schienen fließend ineinander überzugehen.

      Also, tief Luft holen und ab nach Hause. Anja war dabei, den Autoschlüssel ins Zündschloss zu stecken, als ihr Handy eine eingehende Textmessage meldete.

      >Mama, wir sind in Alice’s Restaurant, kommst du nach?<

      >Okay, ich mache mich auf den Weg<, schrieb sie zurück. Anja hatte den Namen des Restaurants nie gehört. Das hieß jedoch nichts, da sie selten essen gingen.

      Und sofort war es wieder da, das schlechte Gewissen. Ja, sie hatten ursprünglich geplant, dieses Wochenende ins Kino zu gehen. Und nun waren ihre Kinder nachmittags in einem Restaurant. Wie waren sie dorthin gekommen? Allein? Mit Seb? Der ging fast nie essen. Was für eine seltsame Idee!

      ›Das sieht ihm ähnlich!‹, schoss es ihr durch den Kopf. Vermutlich war ihm wieder mal nichts eingefallen. Kein Wunder, wenn man stunden-, nein tagelang vorm PC hockt! Anja selbst schmerzten die Augen schon nach dreißig Minuten vor dem Bildschirm.

      Bei ihren Internetrecherchen war sie schnell frustriert, wenn die Beiträge nicht gleich eine konkrete Antwort auf ihre Frage lieferten. Und, anstatt zur Ausgangsfrage zurückzukehren, sobald sie merkte, dass sie sich zu verzetteln begann, fuhr sie verärgert das Gerät ergebnislos herunter. Was blieb, war das Gefühl, unnütz verbrachter Zeit. Für Seb hingegen schienen Stunden vor dem PC Qualitätszeit zu sein. Hierbei half ihm seine Beharrlichkeit. Ob der Kombination von Fachwissen und der Fertigkeit, die Optionshierarchien streng systematisch und analytisch abzufragen, vermochte er auftretende Probleme erfolgreich zu lösen.

      Dennoch gab es Tage, an denen selbst Seb gedanklich festzuhängen schien. Anja hörte ihn dann laut in seinem Zimmer fluchen und den PC beleidigen. In solchen Momenten war sie froh, wenn seine Tür verschlossen war. Die Frage, ob sie ihn ansprechen oder alles ignorieren sollte, stellte sich nicht. Auch Seb konnte ungenießbar sein.

      Der PC schien definitiv Sebs Ding zu sein. Vermutlich hatte er den Kindern solange erlaubt, an seinem PC zu spielen, bis dieser ihm selbst wieder zu fehlen begann. Ja, jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Er hatte Clara und Phillip ins Kino geschickt hatte, um Ruhe zu haben. ‚Alice‘s Restaurant‘ war kein Restaurant, sondern ein Film, der in einer Retrospektive im CinemaxX lief – sie erinnerte sich dunkel an einen Artikel im Lokalteil der Zeitung.

      Wut stieg in ihr auf. Zeitgleich ein Bild von Clara und Phillip, wie sie ängstlich fragend den Blick auf ihre Mutter richteten und sie dann nicht mehr aus den Augen ließen. Jetzt