Martina Kirbach

Aus smarter Silbermöwensicht


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wann sie zurück sein würde.

      Wenn er schließlich die drei im Flur hörte, war es oft mit seiner Konzentration auf das Programmieren vorbei. Welch angenehme Unterbrechung! Überkam ihn doch in diesen Momenten ein Gefühl freudiger Erwartung. Erstaunlich, wie mühelos sich ihre beiden verschiedenen Lebensstile ergänzten. Anders als seine Mutter unterließ es Anja, sein völlig unvorhersagbares Schlaf- und Wachverhalten zu kommentieren. Vormittags hatte er die Wohnung für sich und nachmittags kamen ihm Phillips Ablenkungen nicht selten gelegen. Dessen unverblümte Fragen durchbrachen seine unsinnigen Gedankenspiralen. So hatte tags zuvor der Besitzer eines Onlineshops Seb gefragt, ob er ihm bei der Steigerung seiner Umsatzzahlen helfen könne. Voreilig hatte Seb geantwortet, dass sich mit Hilfe einer Auswertung der Besucherdaten der Website etwas machen ließe. Den ganzen Vormittag über hatte dann Seb ergebnislos über die konkreten Realisierungsmöglichkeiten gegrübelt. So war er heilfroh, als Phillip in sein Zimmer kam und ihn unterbrach: »Hi Seb.«

      »Hallo Phillip. Ist dir langweilig?«

      »Nein, aber was ist mit dir los? Du fluchst mal wieder wie nichts Gutes.«

      »Stimmt, tut mir leid«, entschuldigte sich Seb. »Habe ich gar nicht gemerkt.«

      »Außerdem siehst du aus, als ob dein Kopf gleich platzt.«

      »So ähnlich fühlt sich das an«, gab Seb zu. »Ich muss unbedingt herausfinden, wieso die Besucher dieses Onlineshops hier so früh und oft ihre begonnenen Bestellvorgänge abbrechen. Theoretisch müsste ich das aus den vorliegenden Datensätzen herauslesen können. Nur, es gelingt mir nicht«.

      »Frag die Leute doch direkt!«

      Seb schlug sich mit der Hand vor die Stirn und brummte: »Danke, Phillip, das macht Sinn!«, bestens gelaunt begann er umgehend, ein Pop-up Tool zu programmieren, welches bei einem Abbruch des Bestellvorgangs sofort einen individuellen Kundenkontakt ermöglichte.

      »Phillip, du bist genial!«, rief er ihm zu. Dieser nahm das Kompliment eher irritiert zur Kenntnis, runzelte die Stirn und verschwand aus Sebs Zimmer, denn Seb war schon in seine ureigene PC-Welt abgetaucht.

      Clara, war nicht distanziert abweisend, doch in ihrer Art weitaus zurückhaltender. Seit ihrem Einzug beobachtete sie Seb abwartend. Sebastian fand das okay. Mädchen waren ihm bislang oft als Kunstprodukte erschienen, und was Clara anbetraf, war ihm nicht klar, ob sie ebenfalls in diese Kategorie fiel. Was ihn heute beschäftigte, war die Frage, ob Anja ihn wieder zum Abendbrot bitten würde. Zugegebenermaßen wartete er nur darauf. Bei Anjas Einzug hatten sie über das Thema »gemeinsame Mahlzeit« versus »Jeder kocht sein eigenes Süppchen« nicht gesprochen. In letzter Zeit trafen sie sich jedoch häufiger ›zufällig‹ in der Küche.

      »Gab‘s was Neues?«, fragte Anja in die Runde, als sie alle vier beim Abendbrot saßen.

      »Na ja«, murmelte Seb, »Phillips Klassenlehrerin bittet um einen Rückruf.«

      »Oh nein, nicht schon wieder« stöhnte Anja. »Heute kann ich nicht mehr auf Stress, das mach‘ ich morgen in der Frühstückspause, ich bin jetzt zu k.o.«

      Beide Kinder blickten auf ihre Mutter. Phillip überrascht und irritiert, Clara mitfühlend und besorgt. Sebastian verhielt sich neutral.

      Ein roter Pullover

      Als Marco Steger morgens die Augen aufschlug, zeigte sein Wecker bereits 9:00 Uhr an. Er hätte sich mit dem Anziehen beeilen müssen, um noch rechtzeitig im Restaurant der Seniorenresidenz zu frühstücken. Doch an die frische Kleidung im Schrank reichte er nicht heran. Er hatte Angst, sich zu strecken oder selbstständig zu stehen, um an das obere Fach zu gelangen. Jana hatte zwar seine Sachen in den Einbauschrank geräumt, aber nicht mitbedacht, wie eingeschränkt sein Handlungsradius inzwischen war.

      Nun überkam sie ihn wieder, diese Furcht zu stürzen, denn es war bei einer ähnlichen Aktion vor zwei Monaten, dass er mitsamt Rollstuhl umgekippt war. Aus eigener Kraft war es ihm nicht gelungen, sich zu befreien oder aufzurichten.

      Welch Glück, dass der Briefträger mit dem Einschreiben an der Wohnungstür geklingelt und länger gewartet hatte als üblich. Wer weiß, wann ihn sonst jemand aus seiner misslichen Lage befreit hätte. Die einsamen Stunden auf dem Boden, die Schmerzen, die Verzweiflung und vor allem der Ärger über sich selbst, all das war zu allgegenwärtig, als dass er sich erneut in Gefahr begeben würde.

      Marco war durchaus bewusst, dass er den Sozialdienst des Hauses rufen konnte. Diese Hilfsmöglichkeit hatte ihm Jonas mehrfach vor Augen geführt, als er die Vorteile der Unterbringung im betreuten Wohnen andeutete. Aber nein, er wollte so lange wie möglich selbstständig bleiben, auch hier.

      Andererseits, auf sich allein gestellt, müsste er jetzt die Wäsche von gestern anziehen. In einem Gefühlsmix aus Frust, Enttäuschung und Resignation griff Marco zur Klingel.

      Anja sagte zu Mona: »Ich geh schon«, und machte sich auf zu Herrn Steger. Gerade hatte Mona sie mit den Kindern zum Grillen eingeladen und dementsprechend gut war Anja gelaunt. Kein Interessenkonflikt, keine schwierige Entscheidung, alles schien heute zu passen.

      »Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Steger. Was kann ich für Sie tun?«, fragte Anja gutgelaunt.

      Marco war es sehr peinlich, vor einer fremden Frau noch im Schlafanzug zu sein, doch er hatte nachts lange grübelnd wachgelegen, und war erst mit dem beginnenden Vogelgezwitscher eingeschlafen.

      »Guten Morgen, schön, dass Sie es sind. Es tut mir leid, dass ich Sie bemühen muss, aber ich komme nicht ohne Hilfe an meine Kleidung. Können Sie mir helfen?«

      »Klar, dafür bin ich doch da.«

      »Danke, bitte geben Sie mir einen Pullover von oben, ja?«

      »Gerne, hier, meinen Sie den roten, kuscheligen?«

      »Auf keinen Fall.«

      »Sie mögen kein Rot?«

      »Doch, nur dieser erinnert mich an ….« Marco Steger verstummte abrupt.

      »Ja?«

      »Ist nicht wichtig!«, sagte Herr Steger schnell und bestimmt.

      »Was halten Sie von diesem braunen Seelenwärmer?«

      »Genau den meine ich, herzlichen Dank.«

      »Brauchen Sie sonst noch etwas?«

      »Nein, danke, den Rest kann ich allein.«

      »Wunderbar, ansonsten melden Sie sich bitte. Ja? Haben Sie eigentlich schon gefrühstückt?«

      »Nein, ich habe keinen Hunger«, sagte Marco und fuhr mit dem Rollstuhl rasch in Richtung Badezelle, damit Anja nicht hörte, wie sehr sein Magen knurrte.

      Kaum zu glauben! Frühstückspause und es hatte den Anschein, dass die Kollegen heute alle gemeinsam zusammen essen würden. Zwei Bewohner waren zur Dialyse abgeholt worden, eine dritte hatte Besuch von ihrer Tochter, die gerne die Pflege ihrer Mutter für einige Stunden übernahm. All dies bedeutete weniger Hektik.

      Der Sozialraum war nicht sonderlich behaglich. Das graublaue Neonlicht, die Schleiflackschränke, die fahlgrünen Gardinen, luden nicht zum Verweilen ein. Und dennoch, wie dankbar waren alle Mitarbeiter für einen solch seltenen Moment des Innehaltens. Mona war die Einzige, die gelegentlich den Tisch mit Blümchen dekorierte. Ansonsten überwogen angefangene Konfekt- und Kekspackungen, in welche die Mitarbeiter hektisch griffen, um kurzfristig ihren Heißhunger zu lindern.

      »Und wie geht es deinen Kindern?«, wandte sich Emma an Anja. Siedend heiß fiel Anja der anstehende Anruf bei Phillips Klassenlehrerin ein.

      »Es geht so, aber ich muss jetzt schnell telefonieren«, antwortete Anja kurz und verließ eilig das Dienstzimmer.

      »War ja klar, die hat ja immer was anderes zu tun«, zischelte Marga zu ihrer Nachbarin, sodass Anja die Bemerkung nicht mehr hörte.

      Was mochte die Lehrerin wohl von ihr wollen? In Anjas Augen war Phillip ein aufgewecktes, an vielem