Martina Kirbach

Aus smarter Silbermöwensicht


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sich. Das war fünf Jahre her. Phillip war knapp anderthalb Jahre alt gewesen. Anja zog mit beiden Händen die Kopfhaut am Haaransatz zurück, wie andere sich die Augen reiben, um eine gewisse Müdigkeit zu beherrschen.

      »Seb ist nicht Jakob«, sagte sie laut zu sich selbst. Nur, hoffentlich hat er die Kinder wenigstens hingefahren. Aber, verdammt, sein Auto war ja in der Werkstatt.

      Schneller als erlaubt fuhr Anja in Richtung Kino, fand jedoch erst nach der dritten Runde um den Block einen winzigen Parkplatz und hetzte in die Kinoeingangshalle.

      Tatsächlich lief ‚Alice‘s Restaurant‘ aus den 70ern im Augenblick. Irritiert löste Anja eine Karte und machte sich auf die Suche. Als sie im Kinosaal nach ihnen rief, erntete sie nichts als missbilligende Bemerkungen der Zuschauer.

      Ihre Panik hatte sich zwar gelegt, aber dennoch war sie ratlos. Wo waren Clara und Phillip? Erneut schickte sie eine Nachricht raus und fragte, wo sie nun seien. Sie waren in einer Parallelvorstellung, in einer Wiederholung von ‚Flutsch und weg‘. Der Film war fast zu Ende. Anja beschloss, in der Eingangshalle auf sie zu warten. Schnell schrieb sie eine wütende Textmessage an Seb. < Wie kannst du nur die Kinder allein ins Kino schicken? > und fügte ein dunkelrotes wütendes Emoji hinzu.

      Als sich die Kinosaaltüren öffneten, traute Anja ihren Augen nicht, denn etwas seltsam wirkten die drei schon. Aber sie waren ausgespochen gut drauf. Phillip steckte in einer schlotterigen Cordhose mit gestickter Bordüre, die ihm etwas zu groß war und Carla in einem schrillen, orange-roten Poncho im Ethnolook. Sie war behängt mit diversen langen Ketten und Armreifen. Seb trug ausgefranste Jeans und Jesuslatschen. Ihre Kinder waren nicht allein!

      Es trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht, als sie Seb sah, versuchte, sich aber zu fangen.

      »Moment mal, Fasching ist doch vorbei. Habt ihr euch das nur für den Kinobesuch ausgedacht?«

      »Nö, das hat sich so ergeben«, antwortete Clara etwas kühl.

      »Was heißt, das hat sich so ergeben? Worher habt ihr das Zeug?«

      »Von Max und Inge, Freunden von Seb.«

      »Nie gehört, von denen hast du noch nie etwas erzählt.«

      »Die sind auch gerade erst aus Australien zurück und haben ein Känguru mitgebracht!«, prustete Phillip.

      »Sehr witzig und der Koala kommt nächste Woche, stimmt‘s?«

      »Erst in einem Monat«, raunte Phillip verschwörerisch.

      »Nein, das Känguru ist aus Plastik, aufblasbar und noch nicht Inges Aufräumaktion zum Opfer gefallen«, ließ sich Sebastian gnädig zu einer Erklärung herab.

      »Na gut, nur, warum lauft ihr hier so seltsam gekleidet herum?«

      »Inge räumt auf. Sie möchte ihre Wohnung völlig umgestalten: mit am besten gar nichts, viel weiß, klaren einfachen Formen und mit einigen wenigen exklusiven Möbelstücken«, erläuterte er weiter.

      »Und beim Aufräumen stieß sie auf zwei Kisten mit den Lieblingsklamotten ihrer Oma, die war voll mit Klamotten aus den 70er Jahren«, unterbrach Clara begeistert.

      »He, he, Mädel, auf einmal modebewusst und geschichtlich bewandert, Hut ab, Clara!«

      »Sebastian hatte sowieso vorgehabt, mit uns zum 70er Jahre Straßenfest zu gehen. Den Rest kannst du dir denken.«

      »Kann ich – ehrlich gesagt – nicht.«

      »Ich konnte doch Max nicht mit seinen Computerproblemen allein lassen. Für ihn stand Einiges auf dem Spiel und er war unter Zeitdruck, seine Präsentation für das Vorstellungsgespräch fertigstellen zu müssen«.

      »Der hat vielleicht komisch gekuckt, als wir zu dritt in der Tür standen«, mischte sich Phillip ein.

      »Ja, Begeisterung ist etwas anderes, aber er hat schnell begriffen, dass es keine Alternative gab. So hat er dann den Kindern grünes Licht gegeben, die Kisten seiner Schwiegermutter zu durchstöbern und damit den Tag gerettet.«

      »Ohne seine Frau zu fragen?«, erkundigte sich Anja ungläubig.

      »Mir war es egal und ihm – glaube ich – auch. Auf jeden Fall waren die Kinder beschäftigt und ich hatte ausreichend Zeit für die Fehlerdiagnose am PC.«

      »Und Clara und Phillip konnten sich selbst beschäftigen?«

      »Na ja. Die fantasievollen Outfits gaben den beiden Anlass zu vielen Fragen, doch sie versuchten, sich zurückzuhalten. Ihre Neugier auf das Straßenfest war damit auf jeden Fall geweckt!«

      »Was für ein Tagesprogramm! Wie seid ihr auf diesen etwas eigentümlichen Film gekommen?«

      »Einer der Straßenfestorganisatoren war von Clara und Phillips Verkleidung so angetan, dass er sie angesprochen und ihnen dann den Floh ins Ohr gesetzt hatte, sich diesen Film unbedingt anzuschauen«, erklärte Seb. »Und mir war so, als ob da jemand den Kindern einen Kinobesuch für das Wochenende versprochen hatte«, rechtfertigte sich Seb. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Ironie.

      Verlegenes Schweigen.

      »Wir haben uns dann aber doch für ‚Flutsch und weg‘ entschieden«, ergänzte Phillip zufrieden.

      Ein unbehaglicher Gefühlsmix aus Scham, Erleichterung und Dankbarkeit mit einem Hauch von Neid über den für sie verlorenen Tag erfasste Anja. Nachdenklich schaute sie die drei an.

      »Ist was?«, fragte Seb.

      Albtraum

      Jeden Morgen dasselbe. Clara stand nach dem Weckerklingeln ohne Probleme auf. Phillip kam schwer auf Touren, obwohl er sich bemühte. Im Badezimmer putzte er sich stundenlang summend die Zähne und hatte folglich nur wenig Zeit für das Frühstück. Dabei sollte er sich die Zähne nach dem Essen putzen. Es kam vor, dass er sich nicht entscheiden konnte, welches T-Shirt er anziehen sollte. Ein anderes Mal wollte er vier Tage in der Woche dasselbe tragen.

      Aber, nun hatten sie es geschafft. Die Kinder waren auf dem Weg. Anja zog die Autotüre zu und schaltete die Zündung ein. Da sah sie Phillip zurück ins Haus rennen. Was war denn bloß wieder los?

      Sie stieg aus dem Auto. »Turnzeug vergessen?«

      »Ja, und wir sollen 3,50 € für den Tagesausflug nächste Woche mitbringen.«

      »Konntest du nicht früher daran denken?«, fragte Anja vorwurfsvoll.

      Dann sah sie Phillips betretenes Gesicht und es schoss ihr durch den Kopf, dass es ihre Aufgabe war, nachzufragen, ob etwas anläge. Schließlich war er erst in der zweiten Klasse! Sie selbst hatte sich gestern nur mit enormer Anstrengung aufraffen können, mit Phillip die Hausaufgaben durchzusprechen.

      »Hier ist das Geld. Kommt, ich fahre euch zur Schule, sonst seid ihr zu spät. Es wird schon nicht so schlimm sein, wenn ich mal nicht pünktlich bin.«

      »Frau Sonnenfeld kann es sich leisten, jeden Tag ein paar Minuten später zu kommen«, tönte es Anja entgegen, als sie den Umkleidungsraum betrat.

      Anja war geschockt von dem drohenden Unterton ihrer Kollegin Marga, bemühte sich aber, ihn zu ignorieren. »Hallo allerseits«, sagte sie. »Es tut mir leid, aber die Kinder waren spät dran. Da habe ich sie zur Schule gefahren.«

      »Noch so eine Super-Mama, die ihren Kindern die Hand unter den Hintern hält und sich nachher wundert, dass…. Und überhaupt, wenn die Kinder zu spät kommen, dann liegt das doch an den Eltern, oder?«

      Wortlos betrachtete Anja die mürrische Frau mit den zusammengezogenen Augenbrauen und heruntergezogenen Mundwinkeln, schwang sich in den Kittel und verschwand, um ihren Schützlingen bei der Morgentoilette zu helfen. Die meisten waren froh, sie zu sehen, völlig unabhängig davon, dass es etwas später war als sonst.

      Frau Duderstett war in ihrer Nasszelle und hatte schon mit dem Waschen begonnen. Anja lobte sie dafür überschwänglich, denn normalerweise wollte Frau Duderstett nur in Ruhe gelassen werden. Ein