Martina Kirbach

Aus smarter Silbermöwensicht


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und machte ihr Freude! Punkt! Wären da nicht der Zeitdruck und vor allem diese subtilen Anfeindungen von Marga, die sie langsam zu fürchten begann.

      Warum hatte Marga kürzlich vor allen Mitarbeitern darüber gelästert, dass Anja angeblich in letzter Zeit so häufig über ihre Kopfschmerzen jammern würde. Es stimmte, dass ihr hin und wieder der Schädel brummte, aber sie war überzeugt, dass sie nicht mehr als andere Kollegen darüber geklagt hatte.

      Und Seb? Wie weit wollte sie ihn kennenlernen? Sich auf ihn verlassen? Tat sie das bereits?

      Bewegung

      Macus Steger hatte, außer zu den Mahlzeiten, über mehrere Tage sein Zimmer nicht verlassen. Damit sollte jetzt Schluss sein. Er hatte sich in den Rollstuhl geschwungen in der Absicht, das Haus zu erkunden. Nachdem er die Tür zu seinem kleinen Apartment zugezogen hatte, rollte er den breiten Flur entlang in Richtung auf den Eingangsbereich. Dort fiel sein Blick auf das Leitbild der Pflegeeinrichtung, welches auf jeder Etage aushing.

      ‚Uns liegen eine selbstbestimmte Lebensführung und das Wohlbefinden unserer Bewohner am Herzen, wir bemühen uns um ein Gleichgewicht zwischen ihrer Teilhabe am Gemeinschaftsleben und ihrer Privatsphäre ....‘

      Für Marco klang das alles positiv und vielversprechend, doch zu allgemein und abstrakt, beinahe inhaltslos. Ja, in seiner Privatsphäre fühlte er sich respektiert und zugleich, über viele Stunden hin, auch sehr allein.

      Aber, wie man in den Wald hineinruft, so ... Ja, er konnte von den Mitarbeitern tatsächlich nicht erwarten, dass sie täglich einen neuen Versuch machten, ihn für die angebotenen Aktivitäten zu motivieren. Hatte er sich womöglich wie ein trotzendes Kleinkind verhalten? Sollte er Anjas Rat aufgreifen und sich einer der Spiele- oder Gesangsgruppe anschließen? Vielleicht würde er sich morgen dazu aufraffen.

      Doch ganz untätig wollte er schon heute nicht sein und so beschloss er, erst mal die Räumlichkeiten des Hauses zu erkunden, und dann würde er eventuell demnächst ...

      Mit seinem Rollstuhl erkundete er die verschiednen Etagen und ertappte sich dabei, gelegentlich nach Anja Ausschau zu halten. Vergeblich, und dennoch fühlte es sich gut an, wieder etwas aus eigenem Antrieb zu tun. Morgen, so nahm er es sich vor, würde er seine Erkundungen ausweiten.

      Beim Abendbrot im Hausrestaurant traf Marco erneut auf Herrn Hummer, dessen joviale Art ihn leicht befremdete. Dennoch fand er es weitaus angenehmer, Belanglosigkeiten auszutauschen als allein auf dem Zimmer zu Abend zu essen.

      »Na, Herr Hummer, was macht die Kunst? Sind Sie schon zu einem Urteil über dieses Haus gekommen?«

      »Nicht endgültig, wissen Sie, es gibt da noch das ein oder andere, was ich abklären muss. Neulich sah ich eine etwas ältere Pflegerin, wie sie recht grob bei einer Bewohnerin Blutdruck gemessen hat. Sie hatte nicht bemerkt, dass ich hinter ihr stand.«

      »Da gibt es aber auch andere!«, hielt Marco Steger dagegen. Ihn interessierten solche Beobachtungen nur bedingt, fürchtete er doch, dass sie ihn herunterziehen würden. Zugleich war er froh, einen Tischpartner zu haben, mit dem er halbwegs auf einer Wellenlänge lag. Die Frauen im Haus waren in der Überzahl, und bislang war ihm keine begegnet, mit der er sich gerne länger unterhalten hätte. Marco Steger war offen, sich an Herrn Hummer zu gewöhnen, bereit, ihn ein wenig ins Herz zu schließen.

      Eine Frage der Kollegialität

      Kaum hatte Anja die Stationstür aufgestoßen, dass Marga sie mit den Worten begrüßte: »Na das scheint ja einzureißen, dein ‚Zu-spät-Kommen‘«. Es traf zu, Anja hatte tanken müssen und war dann auf der Autobahn in einen Stau geraten. Folglich war sie 20 Minuten zu spät und Marga und Emma waren mit dem Übergabegespräch bereits fertig.

      »Nur weil du hier als ungelernte Kraft arbeitest, glaubst du, bei den Besprechungen nicht dabei sein zu müssen! Versuchst es dir so angenehm, wie möglich zu machen, während wir uns hier abrackern!«

      Anja schnappte nach Luft. Das Letzte, was sie wollte, war, sich vor Arbeit zu drücken. Gerne hätte sie mehr Verantwortung übernommen, aber Emma und Marga sorgten schon dafür, dass die Zuständigkeitsbereiche sauber getrennt blieben.

      »Tut mir leid«, brachte sie nur heraus.

      »Das fällt mir schwer zu glauben. Mal seh‘n, was für eine Ausrede dir heute einfällt!«, setzte Marga noch eins drauf.

      Mit Verständnis war offensichtlich nicht zu rechnen. Deshalb schwieg Anja und war froh, als sie zum Bettwäsche wechseln in ein Patientenzimmer geschickt wurde und den Raum verlassen konnte.

      »Ach ja. Und wenn Sie damit fertig sind, Anja« , rief Marga ihr hinterher, »gehen Sie bitte zu Herrn Steger, der hat ausdrücklich nach Ihnen gefragt. Weiß der Kuckuck, warum.« Der süffisant-missbilligende Ton war Anja nicht verborgen geblieben, doch sie schwieg.

      Als 16-Jährige hatte Anja während eines längeren Klinikaufenthaltes erfahren, wie unangenehm es ist, sich bei den einfachsten Handhabungen der persönlichen Hygiene helfen lassen zu müssen. Sie wusste, wie die Heimbewohner ihre eigene zunehmende Bedürftigkeit erlebten und konnte deren Verzweiflung gut nachempfinden. Deshalb bemühte sie sich, möglichst diskret zu helfen.

      »Guten Morgen Frau Anja, schön, dass Sie da sind. Wie heißen Sie eigentlich mit Nachnamen?«

      »Sonnenfeld.«

      »Ein schöner Name, der passt zu Ihnen.

      »Danke. Ja, anläßlich meiner Scheidung habe ich meinen Mädchennamen wieder angenommen und fühle mich gut dabei.«

      »Ich hab Sie schon vermisst!«

      »Ja, gestern hatte ich frei, weil ich letzten Samstag für eine Kollegin eingesprungen bin.«

      »Was man so alles für die anderen macht, nicht wahr? Arbeiten Sie gerne hier? Ich meine, das ist doch anstrengend. Sie sind hauptsächlich auf der Pflegestation eingesetzt, stimmt‘s?«

      »Stimmt.«

      »Ist das nicht bisweilen frustrierend?«

      »Kommt drauf an, wie man das sieht. Manchmal schon, ja, aber wenn ich sehe, wie einige Heimbewohner trotz ihrer Einschränkungen sich anstrengen, körperlich und geistig fit zu bleiben oder sich an kleinen Dingen freuen, finde ich das bewundernswert. Dann nehme ich mir vor, es später ähnlich zu halten.« Anja hielt inne und wurde ernst. Ihr Blick wanderte wie geistesabwesend zum Fenster.

      »Sie sehen jetzt aber sehr nachdenklich aus. Ist was?«, erkundigte sich Herr Steger vorsichtig.

      »Mich frustrieren ganz andere Sachen, aber lassen wir das. Was haben Sie für heute geplant?

      »Noch gar nichts«, musste Herr Steger zugeben und wechselte schnell das Thema. »Mit Ihnen kann ich mich am besten unterhalten. Nur heute, bitte nehmen Sie es mir nicht übel, heute wirken Sie genauso gehetzt wie Ihre Kollegen.«

      »Stimmt, Herr Steger, ich muss jetzt tatsächlich leider zurück auf die Station und meine Kollegen ... «, Anja hielt für einen Moment inne. »Da ist viel zu erledigen, aber ich komme nach dem Dienst kurz bei Ihnen vorbei. Okay?«

      »Dann warte ich, bis nachher.«

      Wie verständnisvoll er war, und was für Gedanken er sich machte!

      Als Anja nach Dienstschluss die Station verließ, rief Marga ihr nach: «Ach, du möchtest bitte einmal kurz bei der Pflegedienstleitung vorbeischauen.« Auch das noch!

      Die Chefin stand schon in der Tür und bat Anja, sich hinzusetzen. Anja nahm auf dem vorderen Rand des Stuhles Platz.

      »Frau Sonnenfeld, mir ist leider zu Ohren gekommen, dass Sie in letzter Zeit immer häufiger unpünktlich Ihren Dienst antreten. Ich weise Sie darauf hin, dass dies bei Wiederholung zu einer Abmahnung führen kann.«

      »Es tut mir leid, ich habe im Augenblick etwas Stress mit den Kindern.« Das war zwar etwas übertrieben, aber Anja wusste, dass die Chefin und Marga befreundet waren und vermied es, Negatives über ihre Kollegin zu sagen.