Martina Kirbach

Aus smarter Silbermöwensicht


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ist höchst unterschiedlich. Manchmal fliehe ich schon nach einer Woche. Neulich hat mich eine Pflegekraft ‚Pantoffelheld‘ genannt, dann aber keifend das Zimmer verlassen, als ich mit ‚Pippi Langstrumpf‘ dagegen gehalten habe. In solchen Fällen ahnt man, was auf einen zukommt, wenn man sich nicht mehr selbst versorgen kann.«

      »Das ist ja spannend.«

      »Ja, und manchmal bleibe ich länger als geplant. Wenn zum Beispiel viel Sonnenschein ins Zimmer kommt. Damit meine ich nicht nur die Lage und Helligkeit der Räume, sondern - im übertragenen Sinne - das Pflegepersonal. Sie verstehen schon.«

      »Ich verstehe Sie sehr gut«, pflichtete ihm Marco Steger bei.

      »Aber letztendlich bin ich auf der Suche. Ich war von jeher ein Reisender, nur die Form des Reisens hat sich halt geändert.«

      »Ich bin früher ebenfalls viel gereist, war freischaffender Reisejournalist, was mir gestattete Leidenschaft, Hobby und Broterwerb erfolgreich miteinander zu verbinden, bis…. Aber essen Sie, ihr Essen wird kalt«, unterbrach Herr Steger sich selber.

      »Ihrs auch«, sagte Herr Hummer augenzwinkernd. » Guten Appetit! Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«

      »89 und Sie?«

      »75«

      Marco Steger war sich nicht sicher, ob er sich über den neuen Bewohner freuen sollte. Ein wenig ärgerte er sich darüber, dass er nicht selber auf die Idee des Heimsurfens gekommen war. Und dennoch, interessant war der Mann auf jeden Fall.

      Schulpflicht

      Anjas Dienst war fast zu Ende, als Marga auf sie zustürzte. »Du, es tut mir echt leid, dass ich dich heute Morgen so angepampt habe, aber bei mir geht‘s zuhause drunter und drüber.«

      Anja konnte sich nicht so recht vorstellen, wie es bei Marga drunter und drüber gehen sollte, da sie kinderlos, alleinstehend und eine perfekt organisierte Frau war.

      »Ist okay, vergiss es. Das kann jedem passieren, dass er mit dem falschen Bein aufsteht.«

      Marga sah sie prüfend an. »Sag mal Anja, ich bekomme unerwarteten Besuch von meiner Schwester aus München, könnten wir morgen die Schichten tauschen? Wenn du meine Spätschicht übernimmst, kann ich mich besser um sie kümmern.«

      Das war also der Grund für den plötzlichen Gesinnungswandel. Anja verkniff sich ein ›Ach, daher weht der Wind‹, schwieg und schaute Marga nur lange an. Ein wenig zu lange vielleicht, bevor sie sagte: »Meinetwegen« und ging.

      Dieser Schichtwechsel passte ihr überhaupt nicht, weil sie sich fest vorgenommen hatte, Phillip mehr im Auge zu behalten. Verflixt, erneut hatte sie ihre eigenen Interessen hintangestellt. Oder war sie schlichtweg zu feige, ›Nein‹ zu sagen?

      Auf dem Weg zum Auto kreuzte Emma ihren Weg.

      »Sag mal, ist alles okay? Marga hat eben groß heraushängen lassen, wie unkooperativ du wieder seist. Was ist mit euch beiden?«

      »Das frage ich mich auch«, sagte Anja, »denn ich habe soeben auf ihren Wunsch hin den Dienst morgen mit ihr getauscht. So viel zum Thema Kooperation und Solidarität.«

      »Au Mann, das klingt nicht gut.«

      »Finde ich auch, aber was soll‘s. Ich muss jetzt nach Hause.«

      »Und, erhol‘ dich ein bisschen. Ich hoffe, du kannst abschalten.«

      »Danke, ebenfalls.«

      Im Auto hielt Anja für einen Augenblick inne. Lange Zeit war sie nachts schweißgebadet hochgeschreckt, zitternd mit dem Gefühl Jakob stünde vor oder – noch schlimmer – hinter ihr, kurz davor, sie anzubrüllen. Ein anderes Mal schien er sie aus der Ferne zu observieren – wie eine stumme Bedrohung. Diese Momente wurden erfreulicherweise seltener, dafür war es nun Marga, die eine dunkle Kraft in ihren Träumen verkörperte und einem erholsamen Tiefschlaf im Wege stand.

      Wieder kreisten Anjas Gedanken um die Begegnung mit Marga. Sie hatte sich von dieser falschen Schlange breitschlagen lassen. Nicht nur ihre eigenen Interessen hatte sie zurückgestellt, nein, auch die ihrer Kinder, was viel unverzeihlicher war.

      Fest nahm sie sich vor, sich in einer solchen Situation nie mehr überrumpeln zu lassen, und schon gar nicht von einer Frau wie ihr. Warum hatte es Marga, deren Einkommen als gelernte Altenpflegerin bedeutend höher war als ihrs, auf sie abgesehen? Sie hatte als ältere mehr Mitspracherechte bei der Dienstplangestaltung und überdies einen guten Draht zur Pflegedienstleitung. Anja wünschte sich, selbstbewusster auftreten zu können, sich anderen gegenüber besser zu behaupten. Nachdenklich fuhr sie nach Hause.

      Dort angekommen, erwarteten Clara und Phillip sie wie immer im Treppenhaus. ›Es gibt nichts Schöneres als freudig begrüßt zu werden, wenn man heimkommt‹, durchfuhr sie der Gedanke. Und genau aus diesem Grund mochte sie nicht gleich nach den Hausaufgaben fragen, sondern setzte sich in die Küche, atmete durch und versuchte Nacken und Schultern zu entspannen.

      Nach zehn Minuten kam Clara und erzählte von einem Gespräch mit der Klassenlehrerin.

      »Meine Leistungen in Deutsch und Mathe liegen oberhalb des…. Ich glaube ‚Regelstandards‘ hat sie gesagt und sie würde mir raten, zum Gymnasium zu gehen. Soll ich das?«

      »Na klar, und ich bin überzeugt, dass du es schaffst, wenn du so weitermachst. Ich bin stolz auf dich und werde dich unterstützen, so gut ich kann. Aber, arbeiten musst du alleine. Du weißt, ich muss die Brötchen verdienen.«

      »Warst du auch auf dem Gymnasium?«

      »Nur kurze Zeit.«

      »Warum?«

      »Nach meiner Grundschulzeit sind wir wegen Opas Arbeit oft umgezogen, und es ist mir jedes Mal schwerer gefallen, mich an eine neue Klasse zu gewöhnen. Es dauerte nicht lange und meine Noten gingen den Bach runter. Ich hatte in der Klasse keine Freundinnen und wurde zunehmend gleichgültig.«

      »Ich freue mich über gute Noten.«

      »Das kannst du auch und ich freue mich mit dir. Weißt du, ich bereue, damals so schnell aufgegeben zu haben.«

      »Was hast du aufgegeben?« Phillip hatte sich von hinten in die Küche geschlichen und dem Gespräch der beiden gelauscht.

      »Die Schule und alles.« Wie gerne hätte Anja vermieden, mit Phillip über ihre eigenen Schulerfahrungen zu reden. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter mehrmals gesagt hatte, dass Kinder punktgenau die Schwächen ihrer Eltern orteten. Und genau so würde Phillip sich nicht mit ausweichenden Antworten zufriedengeben.

      »Die kann man so aufgeben, die Schule? Das will ich auch.«

      »Nein, kann man nicht. Alle Kinder müssen zur Schule gehen, es gibt die Schulpflicht bei uns. Nur, ich habe irgendwann aufgehört, mich anzustrengen, und das war ganz, ganz dumm.«

      Bloß das Thema wechseln!, dachte Anja und erkundigte sich bei Phillip, was bei ihm gerade in der Schule dran war. Zum Glück bemerkte er das Manöver seiner Mutter nicht, sondern antwortete wahrheitsgemäß.

      »Wir üben für die nächste Rechtschreibkontrolle. Das ist langweilig und nervig. Frau Vittel gibt uns immer so viele Übungsblätter. Die sollen wir dann ganz schnell die schwierigen Wörter in die Lücken übertragen. Manchmal stehen die Worte an der Tafel, manchmal müssen wir sie aus der Erinnerung aufschreiben. Da komme ich am Ende nicht mehr mit.« Phillip stand mit verschränkten Armen und leicht eingezogenen Kopf in der Mitte des Raumes und blickte teils trotzig, teils kleinlaut seine Mutter an.

      »So, so. Wann schreibt ihr diese Rechtschreibkontrolle?«

      »Übermorgen.«

      »Mist, dann bleibt uns nur heute zum Üben. Morgen habe ich nachmittags Dienst. Komm, zeig mir mal deine Sachen.«

      Wenig begeistert stapfte Phillip in sein Zimmer, um sein Heft zu holen. Es dauerte mehr als zehn Minuten, bis er mit einem zusammengeknüllten Papier in der Hand erschien.

      »Ist