Martina Kirbach

Aus smarter Silbermöwensicht


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      »Und da ist noch etwas. Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie Absprachen mit Mitarbeitern häufig nicht einhalten.«

      »Wie meinen Sie das?« Anja war vollkommen perplex.

      »Na, Frau Beutel ist Ihnen gegenüber zwar nicht direkt weisungsberechtigt, aber Sie sollten die Hinweise einer so erfahrenen Kraft nicht ignorieren.«

      Anja war fassungslos. Wie sehr hätte sie sich über ein paar Hilfestellungen und Ratschläge der älteren Kollegen gefreut! Nie im Leben hätte sie diese ignoriert!.

      »Bedenken Sie«, fuhr Frau Krieß fort, »Sie sind als Letzte eingestellt worden. Ich nehme an, Sie wissen, was das bedeutet .... Andererseits ... habe ich auch Gutes von Ihnen gehört. Die Patienten schätzen Sie, und Leute wie Sie möchte ich nicht verlieren.«

      Das klang wie eine Drohung, der fast zeitgleich die Schärfe genommen wurde. Übernahm Frau Krieß doch nicht unreflektiert Margas Meinung? Anja verabschiedete sich höflich und freundlich, aber zutiefst verunsichert. Was hatte Marga über sie verbreitet?

      Bevor sie das Seniorenheim verließ, klopfte Anja, wie versprochen, bei Herrn Steger an die Tür und trat ein.

      Ein Fotoalbum lag auf seinem Schoß und er bat Anja zu sich. Es hatte den Anschein, dass er schon seit geraumer Zeit auf sie gewartet hatte.

      Anja, noch in Gedanken beim Gespräch mit der Chefin, war froh, einmal nicht für die Gesprächsführung zuständig zu sein. Sie setzte sich neben ihn und betrachtete die Fotos.

      Zunächst sah sie nur eine Reihe schneebedeckter Berge zu verschiedenen Tageszeiten und bei unterschiedlichen Wetterverhältnissen. Dann erkannte sie anhand der wiederkehrenden Formen, dass es sich um ein und denselben Berg zu handeln schien, einen ziemlich hohen.

      »Ist das der Mount Everest?« fragte sie vorsichtig.

      »Nicht schlecht, nein, der Mount Everest ist es nicht, aber der Cho Oyo.«

      »Nie gehört.«

      »Der Cho Oyo« ist der Sechshöchste der vierzehn Achttausender der Welt und liegt nicht weit entfernt vom Mount Everest, ca. 20 km Luftlinie. In Wirklichkeit ist das aber sehr, sehr weit, Google Maps weigert sich zum Beispiel, diese Route zu berechnen. Raten Sie mal, warum!«

      »Na ja, weil wohl kaum jemand auf die Idee kommen wird, bei einem Trip beide erklimmen zu wollen. Diejenigen, die auf dem Everest waren, kann man ja wohl an der Hand abzählen.«

      »So wenige sind das nicht. Fünftausend mindestens seit der Erstbesteigung, nur ein Bruchteil von ihnen ohne künstlichen Sauerstoff. Viele, sehr viele geben auf, obwohl…«

      »Und auf dem Cho Oyo?«

      »Etwas mehr als die Hälfte davon. Der Cho Oyo wurde erst in den Sechzigern erfolgreich bezwungen. Nicht, weil er eine größere Herausforderung darstellt, sondern eher, weil er halt nicht der Höchste ist und damit weniger spektakulär.«

      »Für mich klingt das spannend, Herr Steger, aber nun erzählen Sie mal, woher Sie das alles wissen und warum sie mir das erzählen. Waren Sie Geografielehrer?«

      »Nicht direkt, aber Sie liegen mit Ihren Vermutungen immer ganz nah an der Wahrheit. Nein, ich war Reisejournalist.«

      »Toll.«

      »Ja, das waren gute Jahre.«

      »Das kann ich mir lebhaft vorstellen: Reisen, Abenteuer erleben und mit den Berichten die nächste Reise finanzieren.«

      »So ähnlich war es schon, obwohl man am Ball bleiben muss, damit die Verleger mit immer ungewöhnlicheren Bildern und Unternehmungen auf dem Markt sich und ihre Produkte positionieren können.«

      »Die Konkurrenz, ich weiß. Stets ein beliebtes Argument, die Belegschaft zur Mehrarbeit anzutreiben.«

      »Oder freie Mitarbeiter zur Selbstausbeutung. Leider habe ich dabei auch ein wenig meine Frau verloren.«

      »Wie kann man seine Frau verlieren und dann nur ‚ein wenig‘?«

      »Das sind zu viele Fragen.« Herr Steger rückte von Anja ab. Er sah grau aus im Gesicht und seine Augen wurden für einen Moment starr.

      »Nur zwei.«

      »Vielleicht erzähle ich das später einmal. Schauen Sie mal, hier war unser Basislager.«

      »Basislager? Wollen Sie mir erzählen, dass Sie so einen Trip gemacht haben?

      »Das hieß und heißt immer noch Expedition.«

      »Okay ‚Expedition‘ , ich bin baff. «

      »In den sechziger und siebziger Jahren gab es noch kaum kommerzielle Expeditionen in den Himalaja, und mehr als heute war es eine immense Herausforderung, einen Achttausender in Angriff zu nehmen, körperlich wie mental.«

      »Das kann ich mir vorstellen.«

      »Wie alt waren sie damals?«

      »Sechsunddreißig.«

      »Schauen Sie, hier, ein Bild von mir«

      »Wow, total dick eingepackt, fast nicht zu erkennen. Doch, doch, wenn man genau hinsieht. Die Gesichtszüge sind dieselben. Sie waren mal sehr sportlich, habe ich recht?«

      »Ich denke, ja.«

      »Irre. War das im Winter?«

      »Nein, das war im Sommer, die Schneegrenze lag bei ca. 6000 Metern. Vermutlich ändert sich das infolge des Klimawandels.«

      »Wahnsinn«

      »Ja, das war schon außergewöhnlich.«

      »Gab es Telefon und Kontakt zum Rest der Welt?«

      »Ja, vom Basislager aus, aber das ist heutzutage auch nicht anders.«

      »Apropos Telefon und Rest der Welt. Ich muss unbedingt zu meinen Kindern. Phillip schreibt morgen ein Deutschdiktat und, ach herrje …. Herr Steger, ich finde das wahnsinnig spannend, aber ... Ich bin mehr als zu lange hier.«

      »Ist schon gut, ich laufe ja nicht weg. «Das klang nicht zynisch, sondern eher ein wenig humorvoll, fand Anja und zog die Tür vorsichtig hinter sich zu.

      Leider lief ihr Marga ein weiteres Mal über den Weg, die es sich nicht nehmen ließ, eine weitere spitze Bemerkung loszuwerden: »Ach, immer noch da? Ich dachte, deine Kinder haben erste Priorität.«

      Die Bemerkung hatte wehtun sollen. Und das tat sie. Anja fühlte eine dunkle Welle unterschiedlichster Ansprüche auf sich zurollen. Ansprüche an sie als Kollegin, Ansprüche an sich selbst und die normalen Erfordernisse des Alltags. Eine unerklärliche Angst, dass diese Welle sie erfassen, überrollen und zerschellen lassen würde, stieg in ihr auf. Und sie brachte nicht die Kraft auf, Marga zur Rechenschaft zu ziehen.

      Auf dem Mitarbeiterparkplatz saß Anja hinter dem Steuer, ohne den Wagen zu starten. Sie ließ den Kopf sinken, wobei sie ihr Gesicht in beide Hände legte, um kurz die Augen zu schließen, als jemand energisch an die Scheibe klopfte.

      Es war Marga. Anja ließ die Autoscheibe herunter.

      »Ja?«

      »Ich wollte mich nur erkundigen, was Frau Krieß gesagt hat«, fragte sie scheinheilig. Ihr aufgesetztes Lächeln Gesicht verriet, wie sehr sie danach lechzte, von Anjas Zurechtweisung zu erfahren. Ihre Augen waren hämisch kalt.

      Anja drückte den Verriegelungsknopf und fuhr die Scheibe hoch. Marga begann wütend an die Scheibe zu trommeln, doch Anja startete ihr Auto und fuhr los. Wie gut, dass Marga zu alt war, um in sozialen Netzen unterwegs zu sein. Nicht auszudenken, was sie dort von sich geben würde.

      Reisevorbereitungen

      Es war keine Selbstausbeutung gewesen, wenn Marco Steger sich immer häufiger exotische oder riskante Reiseziele gewählt hatte. Und lange Zeit hatte seine Frau Birgit diese Reiseleidenschaft geteilt. Nach einigen Jahren waren ihr jedoch die ständigen