Isabella Kniest

Lavanda


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leben all ihre Freundinnen im Ausland.«

      Verfluchter Dreck!

      »Ab Mai wollen ihre Eltern sie nicht mehr bei sich haben. Sie meinen, sie müsse auf eigenen Füßen stehen und Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Können Sie sich das vorstellen?«

      Lilian nickte ihm nahezu unmerklich zu und ignorierte dieses bittere Gefühl der Unerwünschtheit.

      Er konnte sich dies nur zu gut vorstellen.

      Seine Mutter vertrat dieselbe These.

      Kinder müssen lernen, ihr Leben eigenständig in den Griff zu bekommen, hallte ihre Stimme besserwisserisch und verächtlich durch Lilians Gehirnwindungen. Ein jeder Mensch hat Verpflichtungen. Stelle dich diesen! Sei nicht wie dein Vater, mache deine Familie stolz! Ich investierte viele Jahre meines Lebens in deine Erziehung, verzichtete auf Freiheit und Spaß. Mit zwanzig Jahren ist es höchste Zeit, das Elternhaus zu verlassen und den Alltag selbst zu bestreiten.

      Auf der anderen Seite wurden Kinder verhätschelt und in Watte gepackt. Ein jeder Wunsch wurde ihnen von den Augen abgelesen, sämtliches Geld in Markenklamotten und Hightechkram gesteckt, damit die lieben Kinderlein wohl zufrieden waren.

      Existierte kein vernünftiger Mittelweg mehr? Was sollte in den nächsten Jahren aus dieser Gesellschaft werden? Eine Gesellschaft bestehend aus Verwöhnten und Verstoßenen?

      Es graute ihm, länger darüber nachzudenken. Ebenso graute es ihm davor, erneut auf Wohnungssuche gehen zu müssen.

      »Wäre es möglich, wenigstens drei Monate herauszuschlagen? Sie wissen, ich verfüge nicht über genügend finanzielle Mittel, um Kautionen oder Baukostenbeiträge zu zahlen. Ich verstehe das Dilemma, in welchem Ihre Nichte und Sie sich befinden. Doch bitte verstehen Sie auch mich. Ich weiß ernsthaft nicht, wohin ich gehen soll. Selbstverständlich werde ich versuchen, schnellstmöglich eine neue Wohnung zu finden, allerdings werde ich wohl etwas mehr Zeit benötigen.«

      »Ich kenne eine sehr engagierte Dame«, erwiderte der Vermieter optimistisch. »Welche in einer der hiesigen Genossenschaften arbeitet. Womöglich kann sie Ihnen etwas entgegenkommen.«

      »Meinen Sie?« Lilian straffte die Gestalt. »Das wäre wunderbar.«

      Dies klang zu gut, um wahr werden zu können! Er kannte die Realität, er kannte die Stolperfallen der Lebensstraße. Ein Entgegenkommen existierte vielleicht in Realitysoaps oder Liebesromanen und amerikanischen Serien, doch sicherlich nicht in der Wirklichkeit! Die Wirklichkeit griff nicht auf Drehbücher zurück – umso härter, grausamer und unberechenbarer war sie.

      »Ich werde Ihnen die Nummer aufschreiben. Haben Sie einen Zettel?«

      Lilian bejahte, trat zum quadratischen zur linken Ecke des drei mal zwei Quadratmeter großen Raumes geschobenen Esstisch, welchen er aufgrund akuten Platzmangels ebenfalls als provisorischen Bürotisch benutzte, zog ein leeres Blatt Papier aus dem sorgfältig aufeinandergelegten zur Wand gedrückten Zeitungsstapel, ergriff den daneben liegenden Kugelschreiber, platzierte beides ordentlich in die Mitte des Tisches und gab dem Vermieter mit einer Handgeste zum Verstehen, näherzutreten und die Daten aufzuschreiben.

      Herr Truppe tat wie verlangt.

      »Rufen Sie sie an und sagen Sie ihr, ich hätte Sie geschickt, und erzählen Sie ihr Ihre Notlage«, erklärte der übergewichtige Mann, währenddessen er die letzten Ziffern hinkritzelte. »Ich bin mir sicher, sie wird Ihnen helfen.«

      »Ich hoffe es.«

      Herr Truppe reichte Lilian den Zettel und die walrossartige Hand zur Verabschiedung. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Sie dürfen niemals vergessen, wie sehr Sie mir und meiner Nichte damit helfen. Sie sind ein wunderbarer, aufrichtiger, herzensguter Mensch.«

      Deine schleimigen Komplimente kannst du dir getrost sparen, dachte Lilian bitter. Ich habe ja gar keine Wahl! Hätte ich nicht nachgegeben, hättest du mich kurzerhand und ohne Gewissensbisse aus der Wohnung geworfen. So und nicht anders sieht es aus!

      Lilian wollte irgendetwas Schlagfertiges und Sarkastisches entgegnen, ließ es letztlich aufgrund mangelnder Argumente bleiben.

      Wie hätte er auf eine solche rotzfreche, berechnende Äußerung auch adäquat reagieren sollen?

      Stumm und sich sekündlich elender und zermürbter fühlend, begleitete Lilian den alternden Herren bis ins Stiegenhaus.

      »Geben Sie mir Bescheid, sobald sich etwas tut.«

      Damit du mich noch schneller loswerden kannst?, vermutete Lilian wütend wie verzweifelt.

      »Mache ich.«

      Der Vermieter lächelte ihn dankbar und frohgemut an. »Kopf hoch. Sie werden bestimmt eine wunderschöne Wohnung finden. Noch eine bessere als meine.« Grinsend lehnte er sich etwas in Lilians Richtung. »Dieses kleine Loch hier stellt keine Behausung für einen Mann wie Sie dar. Eine geräumige Wohnung im Speckgürtel wäre die passendere Umgebung, meinen Sie nicht?«

      Für diese letztklassige Meldung hätte Lilian diesem Gnom gerne Gewalt angetan. Zwanghaft beherrschte er sich – wie immer –, und verabschiedete sich freundlich.

      Alsbald er die Türe geschlossen hatte, gelang es ihm jedoch keine Sekunde länger, seine Verzweiflung in Form heißer Tränen zurückzudrängen.

      War das der Anfang vom Ende?

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