Günther Dümler

Mords-Brocken


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was aber einen Vollblutpolitiker wie den Holzapfel in keinster Weise anfechten konnte. Ein paar ewig Unzufriedene gibt es schließlich immer und überall und einem jeden Recht getan ist eine Kunst, die niemand kann, wie der Volksmund schon seit alters her absolut richtig erkannt hat. Andererseits hatte er aber auch keine gravierenden Fehler auf seine Kappe nehmen müssen. Das musste nicht weiter verwundern, denn er gehörte zum Typus des allgegenwärtigen Vereinsmeiers und Gschafdlhubers, der sich in alles einmischte. Er tauchte unweigerlich auf den Veranstaltungen aller ortsansässigen Vereine auf, wobei er es meisterlich verstand, seine Verdienste allenthalben in den Vordergrund zu stellen. Wer erinnerte sich nicht an die protzige 900-Jahr-Feier des Ortes vor einigen Jahren. Diese hatte ihm eine willkommene Bühne für seine Selbstdarstellung geboten und er vergaß seither bei keiner seiner meist langatmigen Reden, den Bürgern die unbestreitbaren Verdienste ihres Bürgermeisters an diesem Jahrhundertereignis in Erinnerung zu rufen.

      Alles in Allem hätte er daher eher zuversichtlich in die kommende Auseinandersetzung mit seinem Gegenkandidaten gehen können, doch aus unerfindlichen Gründen erhielt dieser, ein gewisser Tobias Kanzler, seines Zeichens aktueller Oppositionsführer im Gemeinderat, einen enormen Zuspruch. Jede geplante Wahlkampfaktion Holzapfels schien er vorauszusehen und verstand sie zu unterlaufen. Es war wie beim Rennen zwischen Hase und Igel. Was immer er vorhatte, Kanzler war schon vorher da. Dazu kam, dass der Neubau des großen Einkaufszentrums am Ortsrand für viele ein Anlass zur Kritik war. Man konnte schwer einschätzen, inwieweit dies die Aussichten auf eine Wiederwahl beeinträchtigen würde. Eines war sicher, es hatte ihm nicht nur Freunde eingebracht.

      Vor allem die von Einigen als unerträglich empfundene Überflutung des Dorfs mit Ortsfremden, speziell an den Samstagen und die damit verbundenen Verkehrsbeeinträchtigungen und Verschmutzungen rund um die Parkplätze durch achtlos weggeworfene Zigarettenkippen, Eisverpackungen, Taschentücher und dergleichen brachten viele Alteingesessene auf die Palme. Seit die Metzgerei Bräunlein auch noch die Fleisch- und Wurstabteilung im Supermarkt übernommen hatte, war Röthenbach mehr oder weniger zu einem Ausflugsziel, ja zu einem Wallfahrtsort für Städter geworden, die sich vergleichsweise günstig und trotzdem mit bester Qualität für eine ganze Woche eindecken wollten. Früher war Röthenbach ein Ort der Idylle, argumentierten die Kritiker, nun aber rollten bis spät am Abend noch gefühlt unzählige Fahrzeuge polternd durch die Hauptstraße. Lärmbelästigung und Luftverschmutzung waren die Folge.

      Allen voran war es jener Tobias Kanzler, der sich zum Anwalt dieser Unzufriedenen aufgeschwungen hatte und der versuchte mit deren Stimmen im Rücken den selbstgefälligen Amtsinhaber, Bürgermeister Holzapfel, von seinem bequemen Sessel im Rathaus zu verdrängen. Wer ihn über seine eigene Person philosophieren hörte, was nicht gerade selten vorkam; der durfte getrost annehmen, dass hier der Familienname Programm war. Einer wie er konnte zweifellos auch Kanzler, ganz sicher aber Bürgermeister einer so unbedeutenden Gemeinde wie Röthenbach.

      Ein unübersehbarer Makel blieb aber trotz aller Redekunst und ungeachtet aller Hochglanzprospekte wie eine Erbsünde an ihm haften: Er war unbestreitbar kein reinrassiger Röthenbacher. Gerade erst einmal knapp fünfzehn Jahre wohnte er in der Gemeinde, was ihn für viele Röthenbacher nur wenig heimischer erscheinen ließ, als die wilden Horden, welche im dreißigjährigen Krieg das Dorf heimsuchten und mehrmals verwüsteten, wie aus den alten Kirchenchroniken hervorging. Röthenbach hätte wohl gut und gerne einen Integrationsbeauftragten vertragen können, auch ohne massenhaften Zuzug aus orientalischen Regionen.

      Tobias Kanzler machte vehement Stimmung gegen den Bau des BIGMA-Supermarkts und die damit verbundenen Störung der Dorfidylle. Er wollte damit den Makel seiner Herkunft aus der Großstadt wett machen, sich als aufrechter Anwalt der berechtigten Interessen der alteingesessenen Röthenbacher Bürger präsentieren und somit einen entscheidenden Schritt in Richtung einer gelungenen Integration machen.

      „Mir gfälld der aane so wenich wäi der andre“, ließ sich Simon vernehmen, „obwohl ich nix Schbezielles geecher die zwaa Herrn soong konn. Sie kaufen alle zwaa ihr Fleisch und Worschd bei mir, dess hassd ihre Frauen nadürlich und dou hodds nu nie woss gebn. Abber so richdi symbadisch kummers beide drotzdem nedd bei mir rüber. Der Aa is a Reigschmeggder, woss er drotz aller Gschafdlhuberei nedd verbergn konn und der Ander a eingebildeder Aff. Siebngscheid sinns alle zwaa. Dou wassd nedd, woss dassd wähln sollsd, Besd odder Cholera. Ich mach wahrscheinli für kann von dene zwaa mei Kreizler.“

      „Dess konnsd doch nedd machen“, warf Lothar ein, „mir leben ja Goddseidank in anner Demmogradie. Dass mer wähln derf iss doch unser höchsdes Gut. Wähln gäih iss für mich Bürgerpflichd!“

      „Ich gäih ja wähln“, korrigierte in Simon, „abber ich mach hald beim Burchermasder ka Kreizler. In Gemeinderad wähl ich nadürli scho, dou mou mer sich ja a nedd für aans von zwaa gleich große Übl endscheidn, dou konnsd dee achd Kandidadn quer über alle Bardeien aussoung, dee der gfalln und basda.“

      Peter lachte über den Schlagabtausch der beiden Freunde. Auch er tat sich schwer, sich für einen der beiden Bürgermeisterkandidaten zu entscheiden, aber so lange kein anderer Bewerber zur Verfügung stand musste es zwangsläufig einer der beiden Herren werden.

      Es war mittlerweile schon fast 20 Uhr und so fragte er die Freunde, ob sie etwas dagegen einzuwenden hätten, wenn er kurz für die Nachrichten den Fernseher anmachen würde. Die bevorstehende Coronakrise hatte ihn schon von Anbeginn an in eine gewisse Spannung versetzt und er wollte die neueste Entwicklung unbedingt verfolgen.

      Er hatte gerade zur rechten Zeit eingeschaltet. Die letzten Töne der Erkennungsmelodie der Tagesschau waren gerade verklungen, da verkündete der Sprecher auch schon die neuesten Meldungen von der Virusfront. In China griff die Seuche immer weiter um sich. Die gespenstischen Bilder zeigten menschenleere Straßen, nur ab und zu war eine einzelne dahin eilende Person mit Gesichtsmaske zu erkennen. Dann kam eine Stellungnahme des deutschen Gesundheitsministers. In Deutschland gäbe es bisher lediglich 16 Infizierte, verkündete er erleichtert. Viele davon stammten aus dem Ort Gangelt im nordrhein-westfälischen Landkreis Heinsberg. Anscheinend hatten sie sich allesamt bei einem Kappenabend, einer Karnevalsveranstaltung, angesteckt. Wer das Virus eingeschleppt hatte, war derzeit aber noch nicht geklärt. Der Minister versicherte, er sehe zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Gefahr für eine Pandemie. In Deutschland habe man die Lage vollständig im Griff, ließ er sich vernehmen. Das mochte für den Moment auch tatsächlich richtig sein. Anders verhielt es sich allerdings für die Passagiere eines Kreuzfahrtschiffs namens „diamond princess“, das mit 621 Coronainfizierten vor Yokohama in Quarantäne lag. 'Die Lage der 3711 Passagiere und der Besatzung ist verzweifelt', vermeldete der Sprecher mit ernster Miene.

      Auch die Gesichter auf dem Röthenbacher Kappenabend hatten plötzlich bedenkliche Züge angenommen, ganz im Gegensatz zu ihren Pappnasen und Faschingshütchen.

      Gut drei Wochen waren seit den beiden denkwürdigen Kappenabenden vergangen, dem recht harmlosen in Röthenbach und dem fatalen in Gangelt. Inzwischen hatte sich gezeigt, dass sich das Virus von dem kleinen Gangelt ausgehend in weite Teile Deutschlands ausgebreitet hatte. Auch in Baden-Württemberg schien sich ein Infektionsnest zu bilden. Die dort Erkrankten hatten ausnahmslos in Italien, genauer in Südtirol oder dem Piemont Urlaub gemacht. In Italien, dem ersten europäischen Hotspot, hatte die Epidemie bereits ein verheerendes Ausmaß erreicht. Die komplette Ausgangssperre, die zuvor nur in Norditalien gegolten hatte, war nun über ganz Italien ausgeweitet worden. Die Fernsehbilder zeigten leergefegte, von bewaffneten Militärstreifen kontrollierte Straßen.

      Gleichzeitig wurde in Spanien der Weltfrauentag mit Massendemonstrationen und großem Tamtam gefeiert, Verbrüderungs-, sorry, Verschwesterungsszenen eingeschlossen, mit fatalen Folgen. Wie sich bald herausstellte, hatten sich dabei Zehntausende infiziert und bildeten somit die Basis für eine todbringende Krankheitswelle, die nach einem weiteren Monat bereits mehr als 20000 Todesopfer gefordert haben würde.

      Die Unvernunft wurde aber auch hierzulande auf die Spitze getrieben. Als Italien bereits komplett abgeriegelt war, waren noch ganze Reisegruppen, vor allem aus der Tübinger Gegend, zum Skilaufen nach Südtirol aufgebrochen. Entsprechend hoch waren danach die Ansteckungszahlen. Den Vogel schoss jedoch