Edgar Wallace

Die gelbe Schlange


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nicht genauer kannte als die irgendeines Arbeiters, dem er heute nachmittag mit seinem Auto begegnet war. »Dies ist das größte Glück, das uns jemals in den Weg gekommen ist. Tatsächlich«, sagte er vorsichtig, »ist dies nicht der einzige Brief, den ich von unserem alten Freund Joseph erhalten habe. Da ist nämlich noch ein anderes Schreiben, in dem er sich viel deutlicher ausdrückt.«

      Joan sah ihn an, als ob sie nun erwarte, daß er ihr diesen mysteriösen Brief zeigen würde. Aber er tat nichts dergleichen aus dem ganz einfachen Grunde, weil dieser Brief überhaupt nicht existierte, höchstens in seiner Phantasie.

      »Wirklich, liebe Joan, Joseph wünscht, daß du diesen Mann heiratest.«

      Langsam stand das Mädchen auf, ihre feingezogenen Augenbrauen schoben sich in die Höhe.

      »Er will, daß ich ihn heirate?« wiederholte sie. »Aber ich kenne doch den Mann gar nicht.«

      »Ebensowenig wie wir«, sagte Letty ganz ruhig. »Darum handelt es sich auch gar nicht, ob man jemand kennt. Überhaupt, wie willst du irgendeinen Mann genauer kennen, den du heiraten sollst? Du siehst eben einen Mann jeden Tag einige Minuten, und du hast nicht die geringste Ahnung, was sein eigentlicher Charakter ist. Erst wenn du später verheiratet bist, kommt sein wirkliches Wesen zum Vorschein.«

      Aber das alles machte Mr. Narth die Sache nicht leichter. Durch ein Zeichen bedeutete er Letty zu schweigen.

      »Joan,« sagte er, »ich bin immer gut zu dir gewesen. Ich habe dir ein Heim gegeben und habe noch mehr für dich getan, wie du wohl weißt.«

       Er sah seine Töchter an und gab ihnen ein Zeichen, sich zu entfernen. Als sich die Tür hinter Letty geschlossen hatte, begann er:

      »Joan, ich muß mich einmal ganz frei mit dir aussprechen.« Es war nicht das erstemal, daß er offen mit ihr redete, und sie wußte, was jetzt kommen würde. Sie hatte einen Bruder gehabt, einen wilden Jungen mit leichtsinnigem Charakter, der früher bei der Firma Narth Brothers angestellt war, dann aber mit der Kasse durchbrannte – es waren einige hundert Pfund Sterling – aber er hatte diese Entgleisung mit dem Leben bezahlt, als er zu einem Hafen fliehen wollte. Man fand ihn auf einer Chaussee in Kent tot unter den Trümmern seines Autos. Dann war da noch die Geschichte mit der alten kranken Mutter Joans, die in den letzten Lebensjahren von Mr. Narth unterhalten wurde (»Es ist doch unmöglich, daß wir sie ins Armenhaus gehen lassen, Vater«, hatte Mabel gesagt. »Wenn das in die Zeitungen kommt, wird es einen bösen Skandal geben« – Mabel war eben Mabel schon mit sechzehn Jahren).

      »Ich möchte dich nicht an alles erinnern, was ich für deine Familie getan habe«, begann Stephen und fing nun an, ihr alles ins Gedächtnis zurückzurufen. »Ich habe dich in mein Haus aufgenommen und habe dir eine gesellschaftliche Stellung gegeben, die du sonst nicht gehabt hättest. Jetzt hast du einmal Gelegenheit, mir deine Dankbarkeit dafür zu zeigen. Ich wünsche sehr, daß du diesen Mann heiratest.«

      Sie biß auf ihre Lippe, aber sie hob den Blick nicht von dem Teppich.

      »Hörst du, was ich sage?«

      Sie nickte und erhob sich langsam.

      »Wollen Sie wirklich, daß ich ihn heirate?«

       »Ich will, daß du eine reiche Frau wirst«, sagte er mit Nachdruck. »Ich fordere von dir gar nicht, daß du irgendein Opfer bringst; ich gebe dir eine Gelegenheit glücklich zu werden. Neun von zehn Mädchen würden sich nicht einen Augenblick besinnen.«

      Es klopfte an der Tür. Der Diener kam herein und brachte auf einem Silbertablett ein Telegramm. Mr. Narth öffnete es, las und war starr.

      »Er ist tot«, sagte er leise. »Der alte Joe Bray ist wirklich tot!«

      Aber schon kalkulierte er. Jetzt war der 1. Juni. Wenn er Joan in einem Monat verheiratete, konnte er den Konkurs der Firma North Brothers vermeiden. Ihre Augen trafen sich, ihr Blick war ruhig, sicher, aber fragend, der seine kalt, berechnend und gefühllos.

      »Willst du ihn also heiraten?« fragte er.

      Sie nickte.

      »Ja, ich glaube«, sagte sie ruhig.

      Der Seufzer der Erleichterung, mit dem er aufatmete, gab ihr einen Stich und ließ sie zum erstenmal die Bitterkeit des Lebens fühlen.

      »Du bist ein sehr kluges Mädchen, und du wirst es nicht bereuen«, sagte er eifrig, als er um den Tisch herum kam und ihre kalten Hände in die seinen nahm. »Ich kann dir versichern, Joan –«

      Er drehte sich um, denn es klopfte wieder. Der Diener trat ein:

      »Ein Herr wünscht Sie zu sehen.«

      Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als auch schon der Besucher hinter ihm ins Zimmer trat. Er war ein großer Mann und trug einen getüpfelten, schlechtsitzenden Anzug aus rauhem Stoff. Seine Schuhe waren aus rohem Leder und schienen selbstgefertigt zu sein. Er hatte nicht einmal einen Kragen um. Ein weiches Hemd wurde am Hals sichtbar. Ein zerbeulter Hut in seiner Hand vervollständigte das Bild. Aber Joan schaute nur sein Gesicht an. Noch niemals hatte sie einen solchen Mann gesehen. Sie konnte nur staunen. Seine langen, braunen Haare waren gewellt, er trug einen langen, ungepflegten Bart, der bis aus die Brust herabreichte.

      »Wer zum Teufel –« begann Mr. Narth erstaunt.

      »Mein Name ist Clifford Lynne«, sagte die Erscheinung. »Soviel ich weiß, soll ich hier jemand heiraten. Wo ist sie?«

      Sie starrten den wunderlichen Mann an und Letty, die ihm auf dem Fuß gefolgt war, lachte nervös auf.

      »Mr. Lynne –« stotterte Stephen Narth.

      Bevor der Mann antworten konnte, kam eine dramatische Unterbrechung. Draußen hörte man jemand leise mit dem Diener sprechen. Als Mr. Narth nachschaute, sah er eine Gestalt mit einem viereckigen Kasten.

      »Was ist das?« fragte er scharf.

      Der Diener streckte seine Hand aus der Tür und kam mit dem Kistchen ins Zimmer. Es war ganz nm und maß ungefähr eine Spanne im Quadrat. Es ließ sich durch einen Schiebedeckel öffnen.

      »Mr. Lynne?« fragte der Diener verlegen wie jemand, der sich in einer Lage befindet, in der er sich nicht zu helfen weiß.

      Der bärtige Mann drehte sich schnell herum. Alle seine Bewegungen hakten etwas Abgerissenes, wie Joan unbewußt beobachtete.

      »Für mich?«

      Er stellte den Kasten auf den Tisch und runzelte bedenklich die Stirn. Auf den Deckel waren fein säuberlich die Worte gemalt:

      Clifford Lynne, Esq. (bei seiner Ankunft zu überreichen).

       Als er seine Hand ausstreckte, um den Schiebedeckel zu öffnen, schauderte Joan zusammen. Es kam ihr eine unerklärliche Ahnung, daß dem Mann eine schreckliche Gefahr drohe, sie wußte aber nicht welche.

      »Was zum Teufel ist das?« fragte der erstaunte Fremde.

      Der Kasten stand offen, aber man konnte nichts sehen als eine Masse weicher Watte ... ab er sie bewegte sich in unheimlichen Windungen.

      Plötzlich aber kam aus dem weißen Lager ein Kopf mit zwei schwarzen, perlförmigen Augen hervor, die bösartig aufglühten.

      Im Bruchteil einer Sekunde schob sich hinter dem Kopf ein langer gewundener Körper hervor, schwankte hin und her, mit einmal zuckte er zurück und der häßliche Kopf schoß nach vorne.

      Die Schlange hatte aber die Entfernung unterschätzt – nun lag sie lang auf dem Tisch, der Kopf hing über die Kante, der Schwanz war noch in der Watte versteckt. Nur für kurze Zeit lag sie so ausgestreckt da.

      Während alle starr vor Schrecken standen, glitt sie geschmeidig auf den Fußboden. Wieder erhob sie ihr Haupt, ihr Körper wand sich hin und her, und dann holte sie aus zum Sprung ...

      Eine Explosion betäubte alle – durch einen Nebel von blauem Dunst sah Joan, wie sich die kopflose Schlange auf dem Boden in Todeskrämpfen wand.

      »Verdammte Höllenbande!« sagte Clifford Lynne