die vereinte kapitalistische Welt entschlagen. Die neue Sowjet-Bourgeoisie schenkt ihrerseits dieser kapitalistischen Welt eine erneute, wenn auch beträchtlich geringere Hoffnung. Es ist unwahrscheinlich, dass die Sowjet-Führer diesen Krebsschaden früher oder später vollkommen auszuschneiden fähig sein werden.
Die Kommunistische Partei Russlands ist zahlenmäßig gering. Sie beträgt nach neuester Schätzung dreiviertel Millionen bei einer gesamten Volkszahl von 150 Millionen, und von dieser dreiviertel Million ist, gering bemessen ein Drittel, und zwar gerade das wertvollste, verlässlichste und opferwilligste Drittel an den Fronten, wo es in den vordersten Gräben die Sache der Sowjets verficht. Welches Maß von Heroismus an diesen Fronten von den überzeugungstreuen, opferwilligen Kommunisten stündlich bezeugt wird, kommt nie ans Tageslicht. Die letzte Woche des Wrangel-Abenteuers, die ich in Russland verlebt habe, weist auf eine Epopöe hin. Kämen diese verlässlichen, erprobten Menschen zurück, das Übel wäre über Nacht in nichts vergangen.
Es ist unzweifelhaft, dass eine Schwäche, nicht der Führer allein, sondern des ganzen Systems darin liegt, dass die konterrevolutionären, die sabotierenden, faulen und korrupten Elemente nicht radikal beseitigt werden können. Schwierig dürfte es ja sein, die „Spez“ hinauszuwerfen. „Spez“ ist ein ebensolches Schimpfwort wie „Spek“. „Spez“ ist der Spezialist, „Spek“ der Spekulant. Beide zugleich Spekulanten und Spezialisten der alten, nur unvollkommen vernichteten Wirtschaft und Gesinnung. Der Spez ist ehemaliger Kaufmann, Fabrikant, Kapitalist, Ausbeuter, aber gründlicher Kenner seines Produktions- oder Verteilungsgebietes. Er ist nicht leicht durch Männer der geraden Gesinnung, aber mangelnden Sachkenntnis zu ersetzen.
Eine Vereinfachung des Beamtenkörpers wäre indes wohl durchführbar, und dadurch könnte eine ungeheure Schar überflüssigen, herumlungernden, Witze und Zoten reißenden Gelichters aus den Ämtern entfernt werden. Sie tun ja doch nichts. Man gerät in gelinde Wut, wenn man auf sie angewiesen ist. Unsereiner, der nur wenige Wochen und Monate in den großen Zentren der Arbeit und Verwaltung verweilen kann, leidet Höllenqualen. Die Ämter sind in Villen oder Palästen untergebracht, die ehemals reichen Leuten gehört haben und so ziemlich an der Peripherie der Stadt gelegen sind, nur wenige im Zentrum. Telefon funktioniert nicht, oder, wenn es funktioniert, nur einseitig. Eine Maschine, d. h. ein Automobil, das einem nebst Sekretär, Übersetzer und anderen schönen Dingen versprochen worden ist, tritt nicht in Erscheinung. Man ist also gezwungen, entweder zu Fuß zwölf Werst zu laufen oder sich in eine Droschke zu setzen, deren Lenker für eine Strecke wie vom Brandenburger Tor nach dem Anhalter Bahnhof 5.000 Rubel verlangt und auch bekommt. Der Monatsgehalt eines Sowjet-Beamten, Arztes oder anderen Funktionärs macht selten mehr als diese Summe aus; daher kann sich nur ein Spekulant eine Droschke leisten; infolgedessen entzieht sich der Droschkenlenker, der früher 10 bis 15 Kopeken für die Fahrt bekommen hat, der irdischen Gerechtigkeit.
Man hat fest ein Stelldichein verabredet mit einem Funktionär zweiten, dritten oder fünften Grades; rast mit dem Iswostschik durch die Stadt. Der Funktionär ist nicht zugegen, verreist, noch nicht ins Büro gekommen, kommt wahrscheinlich auch nicht, hat vergessen oder – ist nicht aufgelegt. Aber das ist es nicht, was einem die heilige Wut gegen das Beamtentum allmählich in den Adern gerinnen lässt. Es sind nicht nur die Einzelnen, auch nicht Gruppen, wie jene Chemiker im Gouvernement Wiatka (?), die sich an die Zentralstelle in Moskau mit dem schamlosen Ersuchen gewendet haben, keine Kommunisten zu schicken, sondern Leute, die Chemie verstehen; es ist auch nicht eine Kreatur wie jene Oberärztin in dem Petersburger Gefängnis, die uns mit sadistischer Wollust in ihrem Bereich herumführte, dann mit unverhohlenem Zynismus ihre Vorgesetzten wegen ihrer kommunistischen Gesinnung verhöhnte und uns, als wir ihr aus unserer Gesinnung kein Hehl machten, mit naiver Miene fragte: wie kann man nur?
Es kann passieren, dass einem, nachdem man in einem Amt mehr oder weniger sichere und erschöpfende Auskunft bekommen hat und hoch befriedigt das Zimmer verlässt, ein kleines verdächtiges Lachen nachgesandt wird. Man wendet sich dann um, sieht eine Gruppe von vollkommenen unwissenden Leuten, die sich soeben eine Menge Lügen aus den Fingern gesogen haben und jetzt den Bauch halten über die Naivität des Fremdlings, der wirkliches Wissen vorausgesetzt hat und mit wirklichem Wissen abzuziehen vermeint. Gogolsche Revisorstimmung. All' das sind wohl Geringfügigkeiten, obzwar sie sich traurig genug anhören. Aber durch solche Unzuverlässigkeiten geschieht es, was ich einmal in einer mir interessant und wertvoll dünkenden Bildungsstätte in Moskau erlebt habe. Dort war eine Reihe von Werkstätten geschlossen, einfach, weil aus Nachlässigkeit der vorgesetzten Behörde die Grenzfrage der Belieferung mit Materialien durch das eine oder das andere Kommissariat, das Kommissariat für professionelle Arbeit oder das Kommissariat für Volksaufklärung ungefähr fünfviertel Jahr lang unentschieden geblieben war. Man wundert und ärgert sich schließlich nicht mehr, zieht seine Schlüsse und geht seiner Wege, d. h. man geht, wenn man überhaupt noch zu gehen imstande ist. Als ich infolge totaler Erschöpfung und des erbärmlichen Pflasters von Moskau in einer Nacht auf der Straße hingeflogen war und mir Knie und Ellenbogen blutig geschlagen hatte, war ich gezwungen, mich nach einem Stock oder irgendeiner Stütze umzusehen. Der normale Weg wäre gewesen, ein Gesuch an die mir übergeordnete Behörde, das Auswärtige Amt, einzureichen und zu begründen, weshalb ich einen Stock benötige. Dieser Instanzenweg hätte, wenn es an den städtischen Verteilungsstellen wirklich so etwas wie einen Stock gegeben hätte, was man mir aber sofort verneinte, ungefähr zwei Wochen gedauert ... Ebenso die Besohlung von Amts wegen meines zweiten Paares total durchgelaufener Stiefel. Ich zog es vor, auf den Markt zu gehen, von dem ich später ausführlich sprechen werde, wo aber keine Stöcke, sondern nur Besen zu haben waren. Ein Besen kostete 12.000 Rubel. Ich hätte den Besenstiel entzwei sägen müssen, und er wäre nur eine notdürftige Stütze gewesen. Infolgedessen brach ich von meinem Regenschirm das untere Holz ab und ging so mit einer etwas breiteren Basis wochenlang in Russland spazieren. Kleine Fehler der Organisation, aber man spürt sie am eigenen Leibe.
Was soll nun aus dieser maßlosen Zentralisation, aus diesem weiter und immer weiter überwuchernden Beamtenkörper, diesem parasitären wilden Fleisch an dem gesunden Leib eines Arbeitervolkes werden?
Oft fuhr ich nachts aus einem Alptraum auf. Ich sah die Menschheit der Zukunft in zwei Lager gespalten. Die eine Hälfte saß in den Ämtern, die andere wartete in Vorzimmern. Die ganze Entwicklung der Politik kam mir so vor: die in den Vorzimmern strebten danach, selbst die Macht an sich zu reißen, d. h. drin in den Amtszimmern zu sitzen, damit jene, die jetzt im Amt saßen, sich draußen in den Vorzimmern in Reihen stellen müssten. Am ersten Tage meiner Anwesenheit auf ehemals russischem Boden, in Reval, während ich auf das Visum meines Passes im Auswärtigen Amt der Republik Eesti wartete, habe ich mir ein Andenken an diese drei Stunden mitgenommen. Das Außenministerium der Republik Estland ist in einem wunderschönen ehemaligen Herrenhaus, einem großen Haus aus dunkelroten Holzstämmen mit schwarzen Ornamenten außen, weißen Räumen mit enormen Kachelöfen und Empiremöbeln innen untergebracht. Im Empfangszimmer, in dem ich auf meinen Pass wartete, drei Stunden lang wartete – es gingen derweil junge Beamte und Beamtinnen aus und ein, saßen auf den hübschen Empiremöbeln, erhielten von Leuten, die Anliegen hatten, Bonbonpakete, Blumen und anderes zugesteckt – in diesem schönen Vorzimmer habe ich eine Quaste von einem der Empiremöbel abgedreht. All' die Empiresessel und Fauteuils hatten seidene Borten, die von nervösen, stundenlang wartenden Vorzimmerkreaturen in unzählige Fasern zerpflückt und zerrissen über die Lehnen und Beine herunterhingen. Meine Verzweiflungstat vollendete nur das Zerstörungswerk ungezählter Vorgänger in den Empirefauteuils. Wenn ich nachher im Laufe der Monate in Ämtern zu tun und zu warten hatte, zupfte ich in der Tasche an dieser ersten Quaste, fühlte, dachte und betete. Ich betete: lieber Gott, man hat dich abgeschafft; ehe du aber vollkommen von der Erde verschwindest, erlöse uns von diesem Übel. Ich kenne keinen anderen Weg. An wen soll ich mich wenden? An einen Volkskommissar?
William Morris – 1834 – 1896
britischer Maler, Architekt, Dichter, Kunstgewerbler, Ingenieur und Drucker
Und dann dachte ich an William Morris und mein Lieblingsbuch „Märchen von Nirgendwo“. An den wunderbaren Traum, den vor Morris schon Fourier geträumt hat, von dem Schmetterlingstrieb im Menschen, dem Trieb, sich nicht in einer