Michael Vahlenkamp

Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller


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Kosten für Telefon, Strom, Heizung und Müll, auch noch ihren Teil der Miete gezahlt. Dieser Posten entfiel dank der schuldenfreien Immobilie immerhin jetzt, aber trotzdem war die Mahagoniplatte von Opas altem Schreibtisch unter den ausgebreiteten Rechnungen und Mahnungen kaum zu sehen.

      Sie zog ihre Beine unter ihr Gesäß und erzeugte dabei auf dem Leder des antiken Stuhls ein knarzendes Geräusch. Dem Schreiben der Telefongesellschaft, in dem der Betrag für den Telefon- und Internetanschluss angemahnt wurde, würdigte sie keines Blickes mehr. Sie legte es zu den anderen Papieren, in denen es um Versicherungen, Steuern und diverse Reparaturen ging.

      Wie sollte sie das alles bezahlen? Leider hatte Opa ihr kein Geld vermacht, das hatten Papa und Tante Gerda bekommen, was ja nur gerecht war. Sie konnte sich schon nicht erklären, womit sie das Haus verdient hatte. Von den 26 Jahren, die sie auf Erden weilte, hatte sie Opa maximal die ersten 15 Jahre zusammen mit Papa und Mutter dann und wann besucht. Sie konnte sich kaum erinnern, wann sie das letzte Mal von Hamburg nach Oldenburg gekommen war. Und dann hatte sie als Einzige der vier Enkel etwas von dem Kuchen abbekommen. Nur halt keine Barschaften.

      Sie schaute sich im Arbeitszimmer um. Die antiken Möbel, die im ganzen Haus herumstanden, würden sicher einiges einbringen, wenn sie die verkaufte. Das hatte sie schon erwogen, brachte es aber nicht übers Herz. Es wäre ihr wie Verrat vorgekommen. Opa hatte ihr das alles anvertraut, warum auch immer, dann konnte sie das doch nicht einfach verkaufen.

      Wenn sie sich also nicht auf Prostitution einlassen oder einen reichen Mann heiraten wollte, um Geld zu beschaffen - beides schloss sie aus - oder sich von Papa etwas leihen wollte - das schloss sie noch mehr aus - musste sie sich auf die Dinge besinnen, die sie konnte. Ihr Beruf als Journalistin brachte ihr allerdings zurzeit noch nicht genug ein, geschweige denn ihre Ambitionen als Schriftstellerin. Die Nebenbeschäftigung als Karatetrainerin, die sie überraschend schnell in Oldenburg gefunden hatte, verschaffte ihr allenfalls ein Zubrot.

      Gut, dass das Haus so groß war und sich ihr damit die Möglichkeit bot, einen Teil davon zu vermieten. Zu dumm nur, dass sich das alles so lange hinzog, bis sie die erste Miete kassieren konnte. Das Wohnungsangebot war am nächsten Tag in der Nordwest-Zeitung, im Samstagsteil. Und die Renovierungsarbeiten hatten noch nicht mal begonnen.

      »Oh Gott«, sagte sie, als ihr einfiel, dass ihr auch dafür wieder Rechnungen ins Haus flattern würden. Die erste Miete konnte sie wahrscheinlich komplett für diese Dinge aufwenden. Wenn das so weiter ging, hatte sie bald den Gerichtsvollzieher am Hals. Aber noch mussten ihre Gläubiger warten. Sie hoffte, dass sie das auch taten.

      Ein Knacken aus dem Babyfone riss sie aus ihren Gedanken. Offenbar hatte Timo ein Geräusch gemacht. Mit seinen drei Jahren schlief ihr Sohn schon längst durch, und das Babyfone war nur zur Sicherheit.

      Editha stand auf, raffte das Papier zusammen und legte es in die Schublade, die am meisten Platz bot. Überall waren noch Opas Sachen drin. Mit dem Babyfone in der Hand verließ sie das Arbeitszimmer und begab sich ins obere Stockwerk, wo noch Arbeit auf sie wartete. Bevor die Zimmer oben für die Vermietung renoviert werden konnten, mussten sie leer geräumt werden, und das konnte sie am besten machen, wenn Timo schlief.

      Im größten Raum, der am ehesten als Wohnzimmer für den Mieter geeignet war, herrschte das meiste Chaos. Die Sachen, die sie schon aus Schränken und Regalen herausgeholt hatte, waren größtenteils in Kartons verstaut, aber zum Teil lagen sie noch auf dem Fußboden herum. Editha blieb im Türrahmen zwischen dem Zimmer und dem oberen Flur stehen und seufzte bei dem Anblick des Schlachtfeldes. Hier hatte sie sich am Vortag festgearbeitet, weil sie keinen Schritt mehr gehen konnte, ohne irgendwo drauf zu treten, und dann hatte sie die Lust verloren.

      Zuerst mussten die Kartons verschwinden, damit sie wieder Platz hatte. Die konnte sie bestimmt auf dem Dachboden verstauen. Sie wandte den Blick zur Flurdecke, in der sich der herunterklappbare Zugang befand. In diesem Teil des Hauses war sie noch nicht gewesen. Dann wurde es ja mal Zeit. Bevor sie gleich einen Karton mitschleppte, war es sinnvoll, sich dort erst umzuschauen.

      Nachdem sie Luke und Leiter heruntergeklappt hatte, machte sie sich ans Hochsteigen. Jede einzelne Stufe knarrte unter ihrem Gewicht. Als sie halb durch die Öffnung der Bodenluke gestiegen war, blieb sie auf der Klappleiter stehen, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Es wurde jetzt, Mitte September, schon recht früh dunkel, sodass durch die vereinzelten gläsernen Dachschindeln wenig Licht von außen hereindrang. Aber genug, um zu erkennen, dass der Dachboden sehr groß und mit allerlei Gegenständen vollgestellt war. Rechts vom Aufgang erkannte sie einen Lichtschalter. Sie erklomm die Leiter vollends und schaltete die Beleuchtung ein. Zwei einfache Lampen, die an den Dachbalken befestigt waren, leuchteten auf und spendeten zwar nicht viel aber ausreichend Licht, um sich auf dem Dachboden zu bewegen.

      Als Editha sich zur anderen Seite der Bodenluke wandte, wäre sie vor Schreck beinahe zurück in die Öffnung gefallen, denn eine große, schlanke Frau sah ihr mit aufgerissenen Augen und Mund entgegen. Dann musste sie lachen und den verzierten Holzrahmen des antiken Standspiegels bewundern. Welche Schätze hier oben wohl noch unbeachtet herumlagen?

      Sie begab sich zu der großen Seite des Dachbodens. Hier war alles vollgestellt, nur in der Mitte befand sich ein schmaler Gang. Dort ging Editha hinein und an den vielen Dingen vorbei. Sie sah noch mehr alte Möbelstücke, die mit weißen Laken überdeckt waren, ausgestopfte Tiere, einige Koffer und Kartons, einen Christbaumständer, Schachteln mit Christbaumkugeln und weitere unzählige Kleinigkeiten. Das übliche Bild eines Dachbodens: Die anfangs vorhanden gewesene Ordnung verlor sich nach und nach durch mehrfaches Umräumen.

      Wo konnte sie in diesem Gewühl ihre Kartons unterbringen? Musste sie hier etwa erst aufräumen und die Sperrmüllabfuhr bestellen? Sie ging weiter in den Gang und sah sich suchend um.

      Ganz hinten stand eine alte, massive Truhe. Dort konnte sie die Kartons vielleicht draufstellen. Editha bückte sich und pustete einen Teil des Staubes von der Truhe, einen weiteren Teil wischte sie mit der Hand weg. Kunstvolle Holzschnitzereien kamen zum Vorschein. Lächelnd fuhr Editha mit den Fingern daran entlang. Dann befreite sie die Truhe weiter vom Staub und musste dabei mehrmals husten, weil die Luft inzwischen kaum noch atembar war. Mit der Hand vor dem Gesicht wedelnd zog sie sich ein Stück zurück und wartete, bis sich das Gewusel in der Luft wieder einigermaßen gelegt hatte.

      Was sich ihr dann offenbarte, erinnerte sie ein wenig an die Schatztruhen, die sie aus Filmen kannte. Rundherum war sie mit Schnitzereien bedeckt, die verschiedene Szenen darstellten. In einer saß ein König auf seinem Thron und zu seinen Füßen knieten seine Untertanen, in einer anderen Szene wurde von zwei Männern Korn gedroschen und eine weitere zeigte, wie Krieger mit Schwertern kämpften. Die Truhe war viel zu schade, um hier zu verstauben, sie gehörte nach unten in die Wohnung.

      Editha klappte den eisernen Riegel hoch und öffnete den Deckel. Ein muffiger Geruch schlug ihr entgegen, sodass sie erneut husten musste. Zuoberst lagen in der Truhe Unmengen an Briefumschlägen. Sie nahm ein paar in die Hand: Sie enthielten alle Briefe. Das war vielleicht auch mal interessant, die alten Briefe zu lesen, aber das würde jetzt zu lange dauern. Sie schob die Umschläge beiseite und entdeckte mehrere Bücher, außerdem noch eine Tasche aus Fell, ein Fläschchen mit schwarzem Inhalt, der früher wohl Tinte war, ein kleines Säckchen und eine Feder. Die Bücher sahen sehr alt aus, es waren Klassiker aus dem 18. und 19. Jahrhundert; da sie Sprache und Medien studiert hatte und sich für Literatur interessierte, kannte sie sich ein wenig damit aus. Nur eines der Bücher fiel aus dem Rahmen. Es war ein schlichter, hellbrauner Einband, auf dessen Deckel sich zwei verschnörkelte Buchstaben befanden. Sie war keine Expertin für Schriften, aber scheinbar handelte es sich dabei um ein »J« und ein »R«, in altdeutscher Druckschrift geschrieben. Als sie das Buch aufschlug, war es mit dem Lesen allerdings vorbei, denn im Inneren war es handschriftlich in altdeutscher Schreibschrift beschrieben. Einige der leicht verblassten Buchstaben konnte sie erahnen, aber viel zu wenige, um irgendeinen Zusammenhang erfassen zu können. Was sie erkennen konnte, war, dass jeder Abschnitt chronologisch aufsteigend mit einem Datum des 18. Jahrhunderts versehen war, denn die Zahlen waren lesbar. Ein Tagebuch vielleicht?

      Interessant, dachte sie. Damit musste sie sich mal beschäftigen.

      Sie klemmte das Buch unter ihren Arm und