Selma Lagerlöf

Anna das Mädchen aus Dalarne


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geworden, und er mußte sich beeilen, wenn er ungesehen wegkommen wollte. Aber immer gab es noch etwas, das er gerne zum letztenmal sehen wollte. Alles hatte einen ganz neuen Wert für ihn bekommen. Ich wußte gar nicht, wie lieb mir das alles ist, dachte er.

      Zu gleicher Zeit mußte er aber über seine eigene Kindlichkeit lächeln. Es wäre ihm unlieb gewesen, wenn ihn Thea Sundler jetzt gesehen hätte, die vor ein paar Tagen die heldenmütigen Worte, mit denen er sich von Eltern und Heimat lossagte, so sehr bewundert hatte. Schließlich kam ihm der Verdacht, das, was ihn hier festhalte, sei die geheime Hoffnung, jemand könnte ihn sehen und ihn hineinlassen. Aber als er sich das klarmachte, faßte er einen raschen Entschluß und ging seines Weges.

      Er war am Ende des Sandweges angelangt und stand an der Gartentür, als er in dem verschlossenen Wohnhaus ein Fenster öffnen hörte.

      Nun konnte er es nicht lassen, er mußte sich umdrehen. Das Fenster des Schlafzimmers seiner Mutter war geöffnet worden, und seine Schwester Jaquette beugte sich heraus, um die frische Morgenluft einzuatmen.

      Im nächsten Augenblick hatte sie ihn auch schon entdeckt, und sofort nickte sie ihm zu und winkte ihm. Und gegen seinen Willen tat er dasselbe. Er nickte und winkte wieder und deutete auf die verschlossene Haustür. Da verschwand Jaquette vom Fenster, und nach wenigen Minuten hörte er Schloß und Riegel klirren. Die Tür ging auf, die Schwester erschien auf der Schwelle und streckte ihm beide Hände entgegen.

      Er schämte sich vor Thea und vor sich selbst, denn in diesem Augenblick glaubte er nicht, die Mutter werde ihn um Verzeihung bitten. Nein, er hatte in der Heimat nichts mehr verloren, aber er konnte es nicht lassen, er lief auf Jaquette zu, erfaßte ihre Hände, zog sie an sich und war herzensfroh darüber, daß sie ihm aufgemacht hatte. Unwillkürlich traten ihm die Tränen in die Augen.

      Jaquette war überglücklich. Als sie ihn weinen sah, umarmte und küßte sie ihn. »Karl Artur, Karl Artur, Gott sei Dank, daß du gekommen bist!«

      Er war vollständig überzeugt gewesen, man werde ihn nicht ins Haus hineinlassen. Nun überraschte ihn dieser freundliche Empfang so sehr, daß er nur stotternd fragen konnte: »Sag, Jaquette, ist die Mutter wach? Kann ich mit ihr sprechen?«

      »Gewiß kannst du mit der lieben Mutter reden. Es ist ihr in den letzten Tagen besser gegangen, und heute nacht hat sie wirklich gut geschlafen.«

      Sie ging vor ihm her die Treppe hinauf, und er folgte ihr etwas langsamer nach. Niemals hätte er glauben können, daß er sich so glücklich fühlen würde, wieder daheim zu sein! Er legte die Hand auf das glatte Treppengeländer, nicht um sich darauf zu stützen, sondern um es zu streicheln.

      Als er die Treppe hinaufgekommen war, erwartete er nichts anderes, als daß jemand kommen und ihn davonjagen werde. Allein nichts dergleichen geschah. Da ging ihm ein Licht auf. Der Vater hatte augenscheinlich der Familie von dem großen Zerwürfnis gar nichts mitgeteilt. Nein, nein, er hatte das ja gar nicht tun können, weil die Mutter krank war!

      Ja, so mußte es zusammenhängen, das war klar. Und nun ging Karl Artur mit mehr innerer Ruhe weiter.

      Wie schön war es hier in den Zimmern! Dieser Ansicht war er zwar schon immer gewesen, aber doch nicht so entschieden wie heute. Die Möbel standen nicht nur so an den Wänden herum wie anderwärts. Hier innen war es angenehm und behaglich. Sie, die hier wohnte, hatte allem ihr Gepräge aufgedrückt.

      Die beiden Geschwister hatten nun den Salon und das Kabinett durchschritten und waren an der Schlafzimmertür angelangt. Hier machte Jaquette ihrem Bruder ein Zeichen zu warten, während sie allein in das Schlafzimmer glitt.

      Er strich sich über die Stirn und suchte sich zu erinnern, warum er hierhergekommen war. Aber er konnte an nichts anderes denken, als daß er zu Hause war und seine Mutter sehen würde.

      Dann kam Jaquette wieder heraus und holte ihn. Als er seine Mutter sah, die bleich, mit verbundenem Arm und verbundener Stirn im Bette lag, war ihm das wie ein Stoß vor die Brust, und er warf sich am Bett auf die Knie. Sie stieß einen Freudenruf aus, faßte ihn mit dem gesunden Arm um den Hals, zog ihn zu sich heran in einer langen Umarmung und küßte ihn.

      Sie schauten einander in die Augen und waren überglücklich. In diesem Augenblick gab es nichts, was sie trennte. Alles war vergessen.

      Das hatte sich Karl Artur vorher nicht klargemacht, wie schwach und gebrechlich die Mutter jetzt war, und er konnte seine Rührung kaum beherrschen. Sehr zärtlich erkundigte er sich nach ihrem Zustand. Da war es unmöglich, daß sie nicht merkte, wie sehr er sie liebte. Aber dies war das beste Heilmittel für die Kranke, und sie zog ihn noch einmal an sich.

      »Es hat gar nichts zu bedeuten. Jetzt ist alles wieder gut. Ich weiß gar nicht mehr, wie die Schmerzen gewesen sind.«

      Aus dieser Antwort ersah er, daß sie ihn noch genauso liebte wie früher. Ja, nun war ihm alles wiedergegeben, was er schon als verloren betrauert hatte. Das merkte er jetzt genau. Er durfte sich wieder als der Sohn dieses prächtigen Hauses fühlen. Es blieb ihm nichts mehr zu wünschen übrig.

      Allein während er sich am glücklichsten fühlte, überkam ihn plötzlich eine seltsame Unruhe. Er hatte das nicht erreicht, weswegen er ausgezogen war. Seine Mutter hatte ihn nicht um Verzeihung gebeten, und es sah auch gar nicht so aus, als ob sie es zu tun gedächte. Eine starke Versuchung überkam ihn, sich gar nicht um eine Verzeihung zu kümmern. Aber dies war eben doch eine sehr wichtige Sache für ihn. Wenn seine Mutter einsah, daß sie ihm unrecht getan hatte, dann bekam er ja eine ganz andere Stellung hier im Hause, und die Eltern würden gezwungen sein, in der Frage seiner Heirat mit Anna Svärd nachzugeben.

      Nachdem ihn die Mutter so wohl empfangen hatte, fühlte er sich außerdem ganz sicher und auch ein wenig übermütig. Es wird am besten sein, wenn ich diese Frage gleich aus der Welt schaffe, dachte er. Es ist nicht sicher, ob Mutter an einem anderen Tag ebenso mild und zärtlich sein wird.

      Bis jetzt hatte er auf den Knien gelegen, nun aber stand er auf und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett.

      Es machte ihn etwas verlegen, daß er jetzt mit seiner Mutter ins Gericht gehen sollte. Aber da kam ihm ein Einfall, der ihn ganz vergnügt machte. Er erinnerte sich an früher: wenn er oder die Schwester etwas Unrechtes getan hatte, wegen dessen die Mutter eine Bitte um Verzeihung erwartete, dann hatte sie allezeit den Übeltäter mit den Worten angeredet: »Nun, mein Kind, hast du mir nichts zu sagen?«

      Um nun auf eine leichte Weise auf das heikle Thema zu kommen, runzelte Karl Artur die Stirn und erhob den Zeigefinger, lächelte aber dazu, damit die Mutter begreifen sollte, daß er lustig und scherzhaft gestimmt sei, und sagte:

      »Nun, liebe Mutter, hast du mir nichts zu sagen?«

      Seine Mutter schien durchaus nichts zu begreifen. Sie lag still da und schaute fragend zu ihm auf.

      Die arme Schwester dagegen, die seither ganz glücklich danebengestanden und die freudige Begrüßung zwischen Mutter und Bruder mit angesehen hatte, sah nun höchst erschrocken aus und hob verstohlen die Hand, um ihn zu warnen.

      Allein Karl Artur war ganz fest überzeugt, seine Mutter werde über seinen Einfall entzückt sein und ihm in demselben Tone antworten, sobald sie seine Meinung erfaßt habe. Er wollte sich nicht warnen lassen, sondern fuhr in seiner Rede fort:

      »Du hast wohl bemerkt, Mutter, daß ich am Donnerstag etwas ärgerlich war, weil du den Versuch gemacht hattest, mich und meine Braut zu trennen. Ich hätte niemals gedacht, daß meine liebe Mutter so unfreundlich gegen mich sein könnte, und ich war so verstimmt, daß ich auf und davon ging mit der Absicht, dich nie wiederzusehen.«

      Die Frau Oberst lag immer noch still da. Karl Artur konnte nicht die geringste Spur von Zorn oder Mißbilligung an ihr wahrnehmen.

      Die Schwester dagegen wurde immer unruhiger. Sie schlich sich näher heran und kniff ihn vom Fußende des Bettes her fest in den Arm.

      Er begriff wohl, was sie meinte, aber er war seiner Sache vollkommen sicher. Viel besser als Jaquette wußte er, wie die Mutter genommen werden mußte, und so fuhr er wie vorher fort: