Sonya Mosimann

Ausgerastet!


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kann explosiv wirken, lähmend, sie kann zerstörerisch sein oder die Kontrolle rauben. Genauso kann sie enorm wichtig und aktivierend sein, denn wer Wut darüber empfindet, ungerecht behandelt zu werden, darf dieser Wut nachgeben. Dies ist ein Teil des Erwachsenwerdens, ein Teil davon, seinen Platz in der Familie zu finden und der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen. Seiner Wut in diesem Fall Ausdruck zu geben kann zwar unangenehm sein, ist aber dennoch wichtig – und erlaubt! Wie alles im Leben hat auch Wut ihre zwei Seiten. Beim Lesen dieses Buches wirst du erkennen, dass es Wutausbrüche gibt, die du gutheißen und aushalten solltest, aber auch Wut, die von einer tiefen Ohnmacht oder einem unkontrollierbaren Reflex zeugen.

      Wir möchten dich ermuntern, dich der Wut deines Kindes zu stellen. Ja, auch sie auszuhalten. Wie oft hört man Mütter, die zu ihren Kindern sagen: «Deshalb musst du nicht gleich wütend werden!» Wie, wenn man anderen Menschen per Befehl sagen könnte, was sie gerade zu fühlen haben. Das Kind ist wütend und Punkt. Wir laden dich ein dich zu fragen: Ist die Wut deines Kindes gerade berechtigt? Ist es okay wütend zu sein, wenn es gerade von seinem Schulfreund gedemütigt wurde? Ja – es ist okay! Wut ist nicht gleich Wut, wie du im Verlaufe dieses Buches erkennen wirst. Wut kann gesund und wichtig sein, sie kann aber auch energieraubend und destruktiv sein. Wut kann eine versteckte Botschaft haben, sie kann ein Weg sein, um zu bekommen, was man will, oder sie kann ein Hilfeschrei sein. Es ist daher wichtig, die Form und Bedeutung der Wut deines Kindes zu erkennen.

      Im Folgenden findest du acht Formen der Wut und ihre dazu gehörigen Fallgeschichten aus unseren Praxen. Sie dienen als Stellvertreter für viele, viele Sitzungen, die wir beide mit solchen Wut-Johnnys schon erlebt haben. Vielleicht erkennst du dein Kind in der einen oder anderen Geschichte wieder. Du findest Antworten auf deine Fragen und wichtige Ansätze, um deinem Wut-Johnny zuhause zu begegnen, versprochen.

      Viel Spaß, deine

      Sonya & Claudia

      Lasst die Spiele beginnen!

      Wut ist eine Superkraft, mit der ich bekomme, was ich will.

      Claudia erzählt aus ihrer Praxis

      Denise, 11 Jahre

      Die zarte, blonde Denise sitzt mir gegenüber und lächelt freundlich. Kaum vorstellbar, dass dieses hübsche Mädchen wie eine Furie ausrasten kann. Aber sie kann – und wie! Wie schrieb mir die Mutter im Datenblatt: «Denise ist äußerst beliebt im Freundeskreis und hat viele Ideen. Wehe aber, wenn sie ihren Willen nicht kriegt! Da flippt sie komplett aus, knallt Türen, schreit, weint, wirft Gegenstände an die Wand und ist überhaupt nicht ansprechbar. Sie tobt, bis sie erreicht hat, was sie wollte.» Beim Lesen dieser Zeilen muss ich grinsen: Da setzt sich jemand aber lauthals durch! Doch der Leidensdruck in der Familie ist groß. Die Mutter erzählt im Vorgespräch, dass sogar schon die Nachbarn an der Haustüre geklingelt haben, um zu erfahren, was hier los sei. Das Geschrei und Gezeter der kleinen Denise durchdringt also mehrere Wände. Für die Eltern ist dieses Verhalten verständlicherweise nicht nur äußerst anstrengend, sondern ab und zu auch peinlich: «Die Leute denken ja, wir hätten unsere Tochter überhaupt nicht im Griff!»

      Neuerdings zeigt Denise dieses Verhalten auch in der Schule. Die Mutter fiel aus allen Wolken, als sie eines Nachmittags einen Anruf der Schulleitung bekam: «Mir wurde mitgeteilt, dass Denise sich gegenüber Schulkollegen und Lehrern oft sehr fordernd und laut verhält. Das führe schon dazu, dass sich Freundinnen abwenden und Lehrer sie hart sanktionieren müssen. Der Schulleiter empfahl mir, mit Denise einen Kinderpsychiater aufzusuchen, aber das will ich nicht.»

      Denise hört unserem Gespräch zu und lächelt etwas verschämt. Ich spüre, dass ihr durchaus bewusst ist, dass es ihr eigenes Verhalten ist, das ihr immer wieder Steine in den Weg legt. Ich zwinkere ihr zu und sage: «Was meinst denn du zu dem Ganzen? Weshalb brichst du so heftig aus?» Sie zuckt nur mit den Schultern und meint: «Ich weiss es nicht.» Genau diese Antwort habe ich erwartet, denn ich höre sie oft im Vorgespräch. «Wollen wir es zusammen herausfinden?»

      Wie immer, wenn die Mutter den Raum verlässt, bespreche ich mich nochmals mit dem Kind. «Sag mal, möchtest du denn deine Wutausbrüche in den Griff bekommen? Magst du mir mal erzählen, was geschehen ist, als du das letzte Mal so explodiert bist?» Denise erzählt: «Ich wollte nach der Schule unbedingt was Süßes haben. Im Küchenschrank steht eine große Tüte Gummibärchen, die wollte ich haben. Aber ich durfte nicht.» «Aha, und dann bist du ausgeflippt?» «Genau.» Ich spürte, dass ich hier mehr erfahren musste.

      «Manchmal muss ich ganz lange schreien und toben, bis sie nachgibt.»

      «Was passiert denn, wenn du so ausflippst?» frage ich. «Meine Mama brüllt zurück.» «Und dann?» «Brülle ich weiter. Manchmal knalle ich Türen zu und schimpfe ganz laut mit ihr. Oder ich werfe was zu Boden oder an die Wand. Bananen zum Beispiel, manchmal auch ein Glas oder so.» Hoppla. «Okay, und was passiert dann?», bohre ich weiter. «Dann packt mich meine Mutter am Arm und versucht, mich ins Zimmer zu bringen.» «Und das klappt?» «Nein. Ich wehre mich. Und ich bin schneller und wendiger als Mama. Dann schließe ich mich im Bad ein.» «Und was machst du dort?» «Ich schreie und brülle und schlage gegen die Tür. Manchmal drücke ich das Shampoo aus der Flasche in die Badewanne. Oder räume den Schrank aus und werfe alles zu Boden. Und Mama schreit mich an, dass ich sofort die Türe wieder aufschließen soll.» «Und das machst du dann auch?» «Irgendwann schon. Aber erst, wenn Mama sagt, dass ich Gummibärchen kriege.» «Aha. Und das funktioniert?» «Irgendwann immer. Aber manchmal muss ich ganz lange schreien und toben, bis sie nachgibt.»

      Die Wut loslassen? Schön blöd!

      Aha, denke ich, hier liegt der Hund begraben. Sie hat herausgefunden, dass ihre Wut stärker ist als die Disziplin ihrer Eltern. Sie fand ein Schlupfloch in der Erziehung und nutzte dies zu ihrem Vorteil. Ihre Wut wurde zu einer Superkraft, die es ihr erlaubt, alles zu bekommen, was sie wollte. Denises Wut führt also zum Ziel! Zu einem blöden und ungesunden zwar, aber sie kommt damit ans Ziel. Und damit ist klar: Denise wäre schön blöd, wenn sie ihre Wut nicht mehr ausleben würde! Keine Gummibärchen! Was also jetzt?

      «Sag mal, Denise, was glaubst du, warum dir deine Mutter nach der Schule nicht einfach Gummibärchen geben mag?» «Keine Ahnung. Sie will, dass ich einen Apfel esse oder sonst was Gesundes.» «Ach. Und wieso glaubst du, tut sie das?» «Keine Ahnung! Weil es eben gesünder ist, vermutlich.» «Vermutlich, ja. Und was glaubst du, weshalb es deiner Mutter wichtig ist, dass du was Gesundes isst?» «Weil Mütter halt so sind.» «Ach so! Mütter sind einfach so, okay. Sag mal, wie würdest du dich fühlen, wenn deine Mutter dir alles einfach erlauben würde? Wenn sie allen deinen Gelüsten einfach nachgibt, obwohl sie weiss, dass dir das schadet?» «Hm, weiss nicht.» «Denk mal einen Moment darüber nach.» Denise denkt sichtlich nach. «Okay, vielleicht würde ich mich fragen, ob es meiner Mama egal ist, wenn ich krank werde?» «Ja, das könnte sein. Wäre denn das ein gutes Gefühl für dich?» «Nein, eher nicht.» «Also glaubst du, dass deine Mama dir einen Apfel anbietet, weil es ihr wichtig ist, dass du gesund und stark bist?» «Ja, könnte sein.» «Und was glaubst du, warum es deiner Mama wichtig ist, dass du gesund bleibst?» «Ja, das ist halt einfach so bei Müttern.» «Meinst du?» «Ja, glaube schon.» «Aber deiner Mama könnte es doch egal sein, ob du dick und krank wirst, solange sie dabei gesund bleibt, meinst du nicht?» Jetzt schaut mich Denise entsetzt an. «Sicher nicht! Ich bin ja schließlich ihr Kind!» Wir kommen der Sache näher. «Aha, und was bedeutet das, dass du ihr Kind bist?» «Ja, dass sie mich liebt und will, dass es mir gut geht.» «Ach, komm jetzt! Tatsächlich? Verweigert sie dir deshalb die Gummibärchen?» Denise guckt verschmitzt: «Ja, vermutlich.» «Und denk mal darüber nach, wie würde ein Kind aussehen, wenn sich seine Eltern einfach nicht um es kümmern würden? Wenn es sich nie die Zähne putzen, duschen, pünktlich ins Bett gehen oder sich gesund ernähren müsste? Was denkst du, wie dieses Kind aussehen würde?» frage ich weiter. «Wie ein obdachloses Kind, ungepflegt, müde, ungesund und wahrscheinlich stinkend.» sagt Denise. «Eben! Weißt du eigentlich, dass es viel einfacher ist für Eltern, wenn sie ihr Kind einfach machen lassen und nie nein sagen? Es braucht viel mehr Zeit und Energie zu erziehen, Regeln aufzustellen und dafür zu sorgen, dass du gesund bleibst. Es sind die fürsorglichen Eltern, die liebevollen Eltern und eben die besten