Sonya Mosimann

Ausgerastet!


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Eltern dir alles erlauben, weil du ihnen egal bist? Oder möchtest du, dass sie ab und zu nein sagen, weil sie dich lieben?» «Lieber nein sagen» sagte Denise und grinst dabei verschmitzt.

      Weil Denise durch ihre Wutausbrüche zu ihrem Ziel kam, war es nötig, ihr zu einer neuen Sicht auf die Dinge zu verhelfen – wir haben die Perspektive gewechselt. So war es möglich, die Grundlage für die Zusammenarbeit zu schaffen. Denise darf lernen, es auszuhalten, wenn sie ihren Willen nicht kriegt. Sie darf spüren, dass es Regeln gibt, die sie schützen und aus Liebe geschaffen wurden. Wir starten in die Sitzung.

      Mit Visualisierung und unter Einbezug aller Sinne spürt Denise ihre Wut in beiden Händen. Wir betrachten sie genauer: Diese brodelnde Wut erscheint Denise wie zwei glühend heiße, feurige Kugeln in den Händen. Sie muss damit um sich schlagen, fuchteln und boxen, um diese brennende Hitze auszuhalten. Auch im Brustkorb spürt sie dieses heiße, aktive Gefühl: Sie erkennt einen roten Ballon, der kurz vor dem Platzen ist. Und das Gefühl muss raus! Wir erinnern uns an das vorangegangene Gespräch und Denise schafft es, ihre Wut aus dem Körper zu entfernen und durch Liebe und Gelassenheit zu ersetzen. Wir tauchen in ihrer Vorstellung nochmals in diesen Moment, wo sie getrieben vor Lust auf Gummibärchen das klare «Nein» ihrer Mutter hört. «Wie erlebst du diesen Moment jetzt, Denise?» Einige Sekunden vergehen. «Also, ich habe immer noch Lust auf Gummibärchen. Aber ich spüre auch gerade die Liebe meiner Mama, weil ich weiss, dass es ihr wichtig ist, dass ich gesund bleibe.» «Jetzt wo du weißt, dass Erziehung Liebe ist, kannst du denn jetzt gelassen bleiben, wenn du anstelle der Gummibärchen einen Apfel kriegst?» «Ja, es ist okay. Ich hätte zwar lieber Gummibärchen. Aber ich kriege ja jeweils nach dem Essen noch was Süßes. Ist okay so.»

      Im Film des Lebens suchen Denise und ich gezielt nach weiteren Situationen, in denen sie explodiert ist. Jede Erinnerung wird durch einen Perspektivenwechsel neutralisiert, bis Denise erkennt, dass sie ihre Lust nach Gummibärchen durchaus aushalten und sich mit einem Apfel begnügen kann. Sie spürt ihre explosive Wut nicht mehr, sie hat erkannt, dass Mamas Regeln gut für sie sind.

      Einige Wochen später erreicht mich eine Mail der Mutter: «Ich war ja eher skeptisch nach der Sitzung. Wieso soll eine einzige Sitzung das erreichen, was wir schon so lange versucht haben? Aber tatsächlich sind die lauten, schrecklichen Wutausbrüche Geschichte. Denise murrt zwar, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen kann, aber sie akzeptiert es. Als ich ihr vorgestern den Schokoriegel vor dem Nachtessen nicht erlaubte, sah sie mich an und sagte: Mama, das machst du nur, weil du mich lieb hast, nicht wahr?»

      Das Machtspiel

      Dieser Fall zeigt eindrücklich eine Form von Wut, wie sie viele Eltern kennen: das Machtspiel. Das Kind kriegt seinen Willen nicht und so kommt die Wut und schreit: «Lasst die Spiele beginnen!» Kann man es Eltern verübeln, dass sie einknicken, wenn das Kind in seiner lautstarken, explosiven Wut schon die ganze Nachbarschaft zusammenschreit? Nein, kann man nicht. Und dennoch passiert hier was, das entscheidend für diesen Machtkampf ist: Das Kind macht eine Erfahrung. Es erfährt, dass es sich durchsetzen kann, wenn es nur lange und laut genug zetert, brüllt und schreit. Es erfährt, dass die Ansagen der Erwachsenen nur so lange gelten, wie sie es aushalten. Und es lernt, dass es mit diesem Verhalten ans Ziel kommt.

      Eltern, die mit ihren Kindern in diese Situation geraten, schaffen es oft nicht, gelassen und ruhig zu bleiben. Dem eigenen (brüllenden) Kind dann in die Augen zu schauen und ihm verständlich zu machen, dass ihre Entscheidung aus Liebe passiert, ist kaum möglich. Doch genau dieser Perspektivenwechsel würde es dem Kind ermöglichen, seine Wut loszulassen und die Situation zu akzeptieren. So aber werden Eltern zu dem, was eine Grundvoraussetzung für das Machtspiel ist: zu einem Teil davon.

      In dieser Sitzung war es nur durch einen stimmigen Perspektivenwechsel möglich, Denise zur Mitarbeit zu bewegen. Eine ärgerliche Situation aus einer anderen Perspektive zu betrachten, zu verstehen weshalb und aus welchen Beweggründen es dazu gekommen ist, bringt nicht nur Verständnis und Akzeptanz in die ganze Geschichte, sondern ist die Grundlage für eine echte Veränderung. Diesen Perspektivenwechsel zu erwirken ist ein wichtiger Kernprozess beim Visualisierungscoaching. Das Kind lernt und versteht, weshalb es gewisse Regeln im Alltag gibt. Dieses Wissen ist ein guter Grundpfeiler für das ganze Leben.

      Es wäre vermessen zu behaupten, dass Kinder nach einem Visualisierungscoaching brave Lämmchen sind, die niemals wieder versuchen, ihren Willen durchzusetzen. Kinder wollen Sicherheit und auch immer wieder mal testen, ob «ihre» Erwachsenen es ernst meinen. Aus diesem Grund wirst du dich immer wieder mit deinem Kind auseinandersetzen dürfen und dir dabei bewusst sein, dass du gerade in diesem Moment deinem Kind den sicheren Rahmen gibst, in dem es sich bewegen kann. Gleichzeitig formst du die Resilienz deines Kindes: Es lernt, dass es auch Frust, Ungeduld, Langeweile oder andere, ungeliebte Gefühle aushalten kann. Wir Erwachsene wissen, dass Resilienz ein wichtiges Gut im Leben ist. Toll, wenn dein Kind das schon bei dir lernen kann!

      Ausstieg aus dem Game

      Im Folgenden geben wir dir vier Tipps, wie du aus dem Machtspiel aussteigen kannst. Erwarte bitte keinen Hokuspokus, hier bist du als Elternteil gefordert. Bisher warst du Teil des Spiels – dein Ausstieg könnte zu Beulen und Kratzern führen. Bereit?

      1. Konsequenz

      Das kommt jetzt nicht überraschend, nicht wahr? Und doch raten wir dir, deine Regeln konsequent durchzusetzen. Es geht nicht darum, zu beweisen, dass du am längeren Hebel sitzt. Im Gegenteil, du tust deinem Kind langfristig einen Gefallen.

      Wir laden dich ein, für einen Augenblick selbst einmal deine Perspektive zu wechseln. Stell dir vor, da wäre jemand, der für dein Wohlergehen, deine körperliche und geistige Entwicklung verantwortlich wäre. Vielleicht denkst du jetzt an deine eigene Kindheit zurück. Diese Person stellt Regeln für deinen Alltag auf unter dem Motto: «Weil ich will, dass es dir gut geht…»

      Das Ziel des Erwachsenen zeugt von Fürsorge und Liebe. Wie würdest du dich fühlen, wenn du deine ungesunden Wünsche einfach durchsetzen könntest? Wenn jedes Mal dein Erwachsener von seinem Vorhaben, gut für dich zu sorgen, abkommt, weil du deinen Wunsch laut und energisch genug äußerst? Du würdest vielleicht den Schluss ziehen, dass es gar nicht so wichtig ist, gesund und ausgewogen zu essen, sonst würde dein Erwachsener sich ja durchsetzen. Spätestens dann aber, wenn du kränklich und übergewichtig durchs Leben gehst, würde sich dieser Schluss als falsch entpuppen. Ganz sicher hättest du tief in deinem Inneren einen kleinen Zweifel: «Wenn meinem Erwachsenen meine Gesundheit und mein Wohlergehen so wichtig ist, warum gibt er mir die Gummibärchen trotzdem? Bin ich ihm nicht wichtig genug? Ist mein Erwachsener einfach zu bequem, sich engagiert mit mir auseinanderzusetzen?»

      Spürst du, worum es geht? Du gibst mit deinen Regeln deinem Kind die Sicherheit, dass es umsorgt, geliebt und geschützt ist – auch wenn ihm das ab und zu nicht in den Kram passt. Deine Regeln geben dem Kind den sicheren Rahmen, worin es sich bewegen kann. Natürlich darf es erfahren, was es bedeutet, über diesen Rahmen hinauszugehen. Und das wird es! Nicht nur, um zu testen, ob du es ernst meinst, sondern auch, um immer wieder auszuprobieren, ob dieser Rahmen noch groß genug ist. Und ab und zu ist es absolut angebracht, den Rahmen zu erweitern.

      Die Einhaltung deiner Regeln einzufordern, bedeutet auch, dass du dir bewusst bist, wozu diese Regel gut ist. Du darfst deinem Kind begründen, weshalb du diese Regel aufgestellt hast. Begründen ja, rechtfertigen nein. Es reicht, wenn du dafür deine Gründe hast. Kinder dürfen lernen, Regeln zu akzeptieren, sogar dann, wenn sie die Regel nicht gutheißen. Im späteren Leben werden sie sich auch mit Regeln anfreunden müssen, die sie nicht selbst aufgestellt haben oder gutheißen. Es reicht, wenn du deinem Kind erklärst, warum du ihm jetzt keine Gummibärchen auftischst: «Gummibärchen darfst du nach dem Essen haben. Jetzt möchte ich, dass du was Gesundes isst.» Punkt. Schreit, zetert und brüllt dein Kind deswegen nicht? Doch. Es wird versuchen, diese Regel außer Kraft zu setzen, dich unter Druck zu setzen und so dazu zu bringen, nachzugeben. So schnell gewinnst du wahrscheinlich nicht. Jetzt musst du aushalten! Bleib dabei, egal wie dein Kind explodiert. Du machst die Regeln und das aus gutem Grund. Deshalb bleibe gelassen und lass dein Kind toben. Für dein Kind sind solche Ausbrüche ungemein anstrengend und es wird nach einigen Malen erkennen, dass es damit nichts bewirken kann. Das Machtspiel ist vorbei.

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