Sven Elvestad

Die Faust


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      »Ich sah ganz deutlich, daß der Mann einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf hatte.«

      »Nun, das ist wohl möglich«, warf das Mädchen rasch ein. »Es war so dunkel, daß ich es nicht so genau unterscheiden konnte.«

      »Und er hielt einen Stock in der Hand?«

      »Ja, ich sah deutlich, daß er einen Stock hatte.«

       »Einen Stock aus Elfenbein?«

      Das Mädchen wurde immer unruhiger. Es schien eine Qual für sie zu sein, die Fragen beantworten zu müssen.

      »Ja, wenigstens war ein weißer Griff daran«, erwiderte sie leise.

      In diesem Augenblick wandte sich der schlanke Herr, der plötzlich von dem Stuhl an der Tür aufgestanden war, an den Chef und fragte:

      »Gestatten Sie, daß ich das Verhör einen Moment übernehme?«

      »Bitte, Herr Krag«, lautete die Antwort.

      Das junge Mädchen zuckte zusammen, als sie den Namen des berühmten Detektivs hörte.

      »Ich habe nichts weiter zu sagen«, stammelte sie.

      »Ich will auch nur noch ein paar Fragen stellen«, erklärte Krag. »Sie sahen deutlich, daß der Stock weiß war?«

      »Ja, der Griff war weiß.«

      »Aber wie kamen Sie darauf, daß es Elfenbein sei? Als Sie den Schutzmann sahen, riefen Sie ja aus, der Mann habe einen Elfenbeinstock.«

      »Ich glaubte es, weil er weiß war.«

       Der Detektiv überlegte einen Augenblick.

      »Waren Sie es auch gewesen, die geschrien hatte?« fragte er dann. »Der Schutzmann hatte mehrere Schreie gehört.«

      »Ja, ich war es gewesen. Ich ängstigte mich, als der Mann aus der Finsternis gerade auf mich zugegangen kam.«

      »War der Mann gut gekleidet?«

      »Ja, ziemlich gut.«

      »Und Sie kannten ihn nicht?«

      »Nein, ich habe ihn nie zuvor gesehen. Das kann ich beschwören.«

      »Danke, das ist nicht nötig. Wo wohnen Sie?«

      Das Mädchen gab eine Adresse an – offenbar erleichtert, weil das Verhör zu Ende war.

      Als sie gegangen war, schickte Krag nach einem Kriminalbeamten. Er trat mit ihm an das Fenster und wies auf die Straße hinunter.

      »Sehen Sie das Mädchen dort unten mit dem blauen Hutband?« fragte er ihn. Sie ist soeben hier vernommen worden.«

      »Jawohl, ich sehe sie.«

      »Gut. So gehen Sie ihr nach, und lassen Sie sie nicht aus dem Auge. Aber sie darf nicht merken, daß sie verfolgt wird.«

      Der Beamte verschwand sofort. Und einen Augenblick später konnte man ihn die Straße hinunterschlendern sehen – auf demselben Wege, den das junge Mädchen genommen hatte.

      Der Chef blieb mit Krag allein zurück.

      »Was halten Sie von dem Mädchen?« fragte der erstere.

      »Ich bin überzeugt, daß sie uns etwas verbirgt. Es ist ja ganz klar, daß sie den Mann mit dem Elfenbeinstock kennt.«

      »Es kann doch aber nicht wohl einer ihrer Freunde gewesen sein.«

      Krag zuckte die Schultern.

      »Wer weiß«, sagte er. »Ich glaube, das Mädchen war ebenso überrascht wie erschrocken. Sicher ist jedenfalls, daß sie einem Manne begegnet ist, den zu sehen sie unter keinen Umständen erwartet hat.«

      »Meinen Sie, daß die Sache für uns von Interesse ist?«

      »Möglich«, antwortete Krag, indem er zur Tür ging. »Es verhält sich ja stets so, daß wer etwas vor der Polizei zu verbergen hat, auch etwas von ihr zu fürchten hat.«

       »Aber es läßt sich doch kaum annehmen, daß die Geschichte mit dem Überfall von neulich nacht in Verbindung steht?«

      »Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts. Wir wollen nun zunächst abwarten, was für Nachrichten uns der ausgesandte Detektiv bringen wird. Hat das Mädchen uns eine falsche Adresse aufgegeben, so ist es um so schlimmer für sie. Wir wollen sie jedenfalls fortan Schritt für Schritt verfolgen, und ich werde mich wohl kaum in meiner Annahme irren, daß sie uns schließlich selbst zu dem Manne mit dem Elfenbeinstock führen wird.«

      Damit ging Krag.

      Am nächsten Tage legte der dem Mädchen nachgesandte Detektiv Bericht ab. Sie war direkt nach ihrer Wohnung gegangen; die Adresse stimmte mit der von ihr angegebenen überein.

      Asbjörn Krag war schon im Begriff, die Angelegenheit als völlig gleichgültig aufzugeben, als etwas eintraf, was ihn veranlaßte, mit seinem ganzen Interesse und seiner ganzen Energie einzugreifen.

      Am 8. März wurde ein neuer Überfall aus der Christian Kroghsgate gemeldet, genau von der gleichen Stelle, an der der Bauernbursche aus Elverum ausgeplündert worden war und das junge Madchen den Zusammenstoß mit dem geheimnisvollen Manne gehabt hatte. Dieses Mal war der Überfallene ein Matrose. Er war von zwei Männern, mit denen er Karten gespielt hatte, in der Nacht an jenen Platz gelockt worden. Sie hatten im Laufe des Abends zwar sehr viel getrunken, aber der Matrose wußte sich dennoch aller Einzelheiten des Geschehnisses zu erinnern.

      In der dunkeln Straße war plötzlich ein großer, grobknochiger Mann aus einem Torweg herausgestürzt und hatte mit einem Knüppel auf ihn losgeschlagen. Der Matrose war sofort bewußtlos zusammengebrochen. Beim Erwachen hatte er dann etwas Warmes über das Gesicht rieseln gefühlt, sich an den Kopf gegriffen und die ganze Hand voller Blut gehabt. Man hatte ihm ein großes Loch geschlagen. Fast bewußtlos war er dann durch die Straßen geschwankt, bis er einen Schutzmann gefunden, der ihn in eine Sanitätswache gebracht hatte, wo er verbunden worden war.

      Der Matrose gab ein genaues Signalement von den beiden Männern, die den Abend über mit ihm zusammen gewesen waren. Aber dieses paßte auf keine der zweifelhaften Existenzen, die der Polizei von ähnlichen Überfällen her bekannt waren.

      Der Überfallene war an jenem Tage ausgemustert worden und hatte daher ziemlich viel Geld, etwa 400 Kronen bei sich gehabt. Diese waren fort.

      Die Geschichte beunruhigte die Polizei. Sie hatte absolut keine Anhaltspunkte. Man nahm einige überstürzte Verhaftungen vor, die zu keinem Ergebnis führten. Die Zeitungen schrieben und schalten über grauenvolle Zustände in der Stadt und über die Schlappheit der Polizei.

      Diese nahm schließlich eine vollständige Durchsuchung der Christian Koghsgate vor. Haussuchungen in allen Wohnungen, Verhöre aller Bewohner. Doch nicht um einen Schritt kam man der Lösung näher.

      Wer waren die Verbrecher? Warum geschahen die Überfälle stets an derselben Stelle und in derselben Straße? Stand der Mann mit dem Elfenbeinstock irgendwie mit diesen Dingen in Verbindung?

      Vorläufig konnte man nicht anderes tun, als die Straße und die Gegend ringsum während der Nacht mit doppelten Patrouillen besetzen.

      Inzwischen arbeitete Asbjörn Krag, der sich die Sache sofort hatte übergeben lassen. Aber auch ihm gelang es nicht, die geringste Klarheit herbeizuführen.

      Als er eines Vormittags in seinem Kontor saß, wurde eine Dame mittleren Alters zu ihm hereingeführt.

      »Wie ich höre, sucht die Polizei einen geheimnisvollen Mann mit einem Elfenbeinstock«, sagte sie.

      »Jawohl«, antwortete Krag interessiert. »Können Sie uns vielleicht etwas von ihm berichten?«

      »Er muß nun wohl tot sein«, meinte die Dame. »Ich kann Ihnen eine merkwürdige Geschichte erzählen.«

      II.

      Asbjörn Krag betrachtete die