Levi Krongold

Viktor


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zur Seite in die Stirn zu rutschen droht. Auch sie trägt diese Spule über der Stirn, doch ihr steht sie deutlich besser als mir, finde ich.

      Sie sitzt neben mir, ein wenig in sich zusammengesunken in ihrer unförmigen Armeejacke, die jede Körperform retuschiert. Ihre Augen suchen die Worte von meinen Lippen zu lesen, um einen Sinn in der Kakophonie von Lärm und Sprache zu finden. Ihr schlankes Gesicht mit den kurzen mittelbraunen Haaren wirkt fast unscheinbar, doch es sind die Bögen ihrer Augenbrauen und die weibliche Wangenpartie, der Ausdruck ihrer großen verwirrten Augen, die mich gefangen nehmen.

      Als sie mich anlächelt und dabei eine Reihe hübscher weißer Zähne entblößt, weiß ich, dass sie kein Wort verstanden hat oder so tut, als ob sie nichts verstanden hätte. Immerhin wird sie nicht böse und springt nicht mit einem Fluch auf den Lippen auf.

      »Können wir das jetzt wieder abnehmen?«, schreie ich und weise auf die Apparatur auf meinem Kopf. Sie winkt entschieden, fast panisch ab.

      Es ist immerhin erstaunlich, dass uns noch niemand aufgespürt hat, das muss ich zugeben. Sitzen wir doch nun schon mindestens eine halbe Ewigkeit an dieser exponierten Stelle. Wenigstens einer der versteckten Sensoren in der Umgebung hätte Alarm schlagen müssen, weil wir uns nicht ordnungsgemäß weiterbewegen. Sie hätten die Ordnungskräfte in unsere Richtung lenken müssen, um uns zum Weitergehen aufzufordern oder uns einer intensivierten Personenkontrolle zuzuführen.

      Aber nichts dergleichen geschieht. Statt dessen sind Gefühle in mir erwacht, die ich von früher kannte, als das hier alles noch nicht so war, wie es jetzt ist. Angenehme Gefühle, unerwünschte Gefühle, sozial geächtete Gefühle.

      Sie schaut mich erwartungsvoll an, ein Blick den ich nicht deuten kann. Denkt sie über meine Worte doch nach, hat sie die Botschaft empfangen? Sie öffnet den Mund und muss wohl etwas gesagt haben, was ich nicht verstehe. Ich lehne mich zu ihr hinüber, um sie besser hören zu können, dabei rutscht de. »Applikator« von meinem Kopf. Erschrocken springt sie auf und bekommt ihn zu fassen, bevor er zu Boden rutscht und Gefahr läuft, beschädigt zu werden. Schnell setzt sie ihn mir wieder auf die Stirn. Dabei kommt mir ihr Gesicht so nah, dass ich meine, ihre Lippen auf meinen Wangen zu spüren. Einen kleinen Moment halten wir beide erschrocken inne.

      »Kommen Sie, schnell, wir müssen jetzt hier weg!«, sagt sie entschieden und zieht mich am Ärmel hinter sich her.

      Die Wohnung, die wir wenig später im soundsovielten Stockwerk eines verlassenen Bürogebäudes betreten, ist nahezu unmöbliert. Kabel mit blanken, kupferglänzenden Enden hängen wie in den Raum greifende Fangarme nutzlos aus den Wänden und der Decke. Eine große Fensterfront nüchterner staubiger Bürofenster ohne jeglichen Zierrat erhellt mit diffusem Licht den Raum und neutralisiert nahezu jeden Schatten.

      In einer Zimmerecke entdecke ich eine abgenutzte Kunstledercouch, über die sie einige abgelegte Kleidungsstücke geworfen hat, direkt daneben Kartons mit zusammengewürfeltem Hausrat und weiteren Kleidungsstücken. Den Blick fesselt jedoch eine große Spule, eine fast armbreite Metallschlinge von über einem Meter Durchmesser, die aus einem unförmigen metallisch schwarzen Kasten ragt, von dem ein Kabel zu einer der am Boden befindlichen Steckdosen führt. Eine kleine rotblinkende LED weist darauf hin, dass dieser offenbar in Betrieb ist. Daneben steht eine alte Autobatterie, an die noch die großen roten und schwarzen Metallklemmen eines Starthilfekabels angeschlossen sind, das nun nutzlos auf dem zerschrammten und an einigen Stellen aufgerissenen Linolium des Fußbodens endet.

      »Sie können jetzt die Spule abnehmen«, fordert sie mich auf, während sie die ihre bereits vorsichtig auf das freie Ende des Sofas ablegt.

      »Hier wohnen Sie?«, frage ich erstaunt.

      »Vorerst.«

      »Allein?«

      Statt auf meine Frage zu antworten, entledigt sie sich schweigend ihrer graugrünen Armeejacke, die sie achtlos über eine der Kisten wirft.

      Ich verbiete mir den Gedanken, dass ich ihren schlanken, fast kindlich wirkenden Körper und ihre fließenden Bewegungen anregend finde und frage. »Gibt es noch Strom hier?«

      »Glücklicherweise, wer weiß wie lange noch...«

      »Und dann?«, forsche ich weiter.

      Sie zuckt mit den Schultern und schaut mich prüfend an.

      Verlegen und allein mit meinen unterdrückten Fantasien versuche ich mir einen Eindruck von der Perspektive zu machen, die sich von hier oben bietet.

      »Gehen sie nicht zu nah ans Fenster. Sie könnten gesehen werden.«

      »Ich dürfte gar nicht hier sein«, bemerke ich lakonisch.. »Nein«, antwortet sie knapp.

      »Sie auch nicht!«, ergänze ich, ohne in ihre Richtung zu schauen.

      »Doch, ich muss hier sein«, entgegnet sie leise. Draußen, soweit man etwas durch die schmierigen Fenster erkennen kann, verschwimmen mattgraue Wohntürme mit schemenhaften Silhouetten entfernter Hochhäuser. Ganz unten, wir sind mindestens im 20. Stockwerk, fließt nur durch schalldichte Fenster von seinem Lärm befreiter endloser Straßenverkehr dahin.

      Ich nicke, gedankenverloren, während ich unbeweglich aus dem Fenster auf eine stumm gewordene Welt blicke, die zu einem mysteriösen Trugbild zu entarten scheint, bis mir etwas schwindelt.

      Abrupt drehe ich mich zu ihr um. Sie steht noch immer neben dem Sofa und blickt mich ausdruckslos an.

      »Und«, fragt sie nach einer ganzen Weile. »glauben Sie mir jetzt?«

      Unwillkürlich muss ich einen tiefen Atemzug nehmen. Ich will mich um eine Antwort drücken, weil ich sie nicht verletzen will... oder mich selbst.

      »Hmm«, murmel ich etwas unschlüssig und beginne die merkwürdige Apparatur in der Mitte des Raumes zu taxieren. Irgendetwas stört mich an diesem Gerät. Es ist zu groß, zu mächtig, es passt nicht hierher und es passt nicht zu ihr.

      »Meinen Sie, es hilft?«

      »Sicher!«

      »Wodurch?«

      »Es gibt ein Störsignal ab, so dass sie mich nicht orten können, soweit ich weiß«, erklärt sie. »Sie können nicht durchdringen zu mir, nicht bis in mich hinein vordringen!«

      »Sie?«, frage ich etwas zu spitz.

      Sie wendet sich abrupt ab und ballt zornig die Hände. »Sie haben überhaupt nichts verstanden, gehen Sie, gehen Sie jetzt!«

      Erschrocken fahre ich zurück. »Oh, Verzeihung, ich wollte Sie ganz bestimmt nicht verärgern!«

      Mir ist klar, dass ich sie jetzt nicht allein lassen möchte. Ich schelte mich selbst wegen meiner Überheblichkeit und meiner dummen Bemerkung. Wenn sie bloß nicht darauf besteht, dass ich gehen soll.

      »Entschuldigen Sie bitte, wirklich, ich versuche doch, Sie zu verstehen.«

      »Nein, Sie lügen! Sie wollten nur sich selbst bestätigen! Sie sind ein eitler Fatzke. Gehen Sie!«

      »Bitte, es war nicht böse gemeint, wirklich«, versuche ich es nochmals, doch sie hat sich zornig umgedreht und die Arme über der Brust verschränkt. Unentschlossen nehme ich meine Jacke auf, die ich abgelegt hatte, werfe sie mir über die Schulter und nähere mich ihr einige Schritte, doch als sie immer noch nicht reagiert, gehe ich langsam auf den Ausgang zu.

      Ich höre ihr leises Schluchzen, ihr Kopf ist, mir noch immer abgewandt, etwas auf ihre Brust gesunken.

      Etwas in mir fasst neuen Mut, ich lasse die Jacke einfach fallen, nähere mich ihr behutsam und lege ihr die Hand sachte auf die Schulter. Sie dreht sich plötzlich zu mir um und verbirgt ihr Gesicht an meiner Schulter, während ihr Körper von Weinkrämpfen geschüttelt wird. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihr vorsichtig über das Haar streichele, sie wie ein kleines Kind leicht wiege und dazu »okay, okay« brumme.

      Sie hat so einen zierlichen, fast zerbrechlich wirkenden Körper. Sie tut mir unendlich leid und ich fühle mich schuldig, verlogen und verkommen. Sie hat ja recht, sie hat ja recht!