Levi Krongold

Viktor


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sind Suzanne Montenièr, nicht wahr?«, fragte ich. Erschrocken fuhr sie herum. »Woher wissen Sie das?«

      »Ich habe Sie erkannt, auf dem Foto. Raskovnik hat es mir geschickt.«

      Sie zögerte einen Moment, dann atmete sie offenbar erleichtert aus. »Ja, dann!«

      »Kennen Sie Raskovnik?«

      Sie fuhr erstaunt herum. »Nein, nicht direkt, warum fragen Sie das?«

      »Es schien mir so, dass Sie ihn kennen. Hat er Sie geschickt?«

      »Viktor hat mich geschickt!«, antwortete sie vorsichtig.

      »Viktor?«, fragte ich völlig verdattert.

      »Wer sonst?«, antwortete sie irritiert.

      »Entschuldigen Sie. Es ist alles so verwirrend«, stammelte ich.

      »Lassen Sie mal sehen«, wechselte sie das Thema und betrachtete meine Stirn. Ich fasste an meine Schläfe und besah mir die Blutflecken, die dies an meinen Fingern hinterließ. Das Blut war jedoch schon fast wieder getrocknet.

      Sie begutachtete die Schramme sorgfältig, was mir Gelegenheit gab, ihr Gesicht näher zu betrachten. Wenn man sich den Dreck wegdachte, ein sehr anmutiges Gesicht. Anders als auf dem Bild in der Akte, etwas älter, das Gesicht wies Zeichen vergangener Strapazen auf. Aber die ausdrucksvollen Augen strahlten eine warme Offenheit aus, die mir gut tat. »Sie sollten es besser auswaschen, damit es sich nicht entzündet.«

      Auf meinen fragenden Blick hin wies sie mit dem Daumen hinter sich wortlos auf eine Tür, hinter der ich das Bad vermutete. »Ich kümmere mich erst einmal um Ihre Sicherheit. Haben Sie den Chip noch?«

      »Den Chip, ja, das Arm-Pad ist mir aber verloren gegangen.«

      »Besser so. Geben sie den Chip her, schnell!«

      Ich nahm den Ring mit dem Chip vom Finger und reichte ihn ihr. »Was wollen Sie damit machen?«, wollte ich eigentlich fragen, kam jedoch nicht mehr dazu. Sie ergriff eine Zange, die auf einer klapprigen Kommode lag, legte den Chip zwischen deren Backen und drückte zu. Mit einem hässlichen Geräusch zerbarst das Gerät.

      »Was tun Sie da?«, fragte ich fassungslos.

      »Ihr Leben retten!«, grinste sie. »Nun machen Sie schon, waschen Sie ihre Wunde. Ich kümmere mich um den Rest. Beeilen Sie sich!« Wie in Trance drehte ich mich um und ging durch die angegebene Tür. Ein altes Waschbecken ohne jeglichen Netzanschluss und Komfort ragte halb schräg aus der Wand. Aus einem rostigen Wasserhahn tropfte platschend etwas Wasser in das Becken. In einer Ecke befanden sich die Reste einer alten Duscheinrichtung und einer altmodischen Spültoilette, wie man sie nur noch im Museum findet. Ich schüttelte den Kopf. Dass es so etwas noch real gab, hätte ich nicht gedacht. Vorsichtig fingerte ich an dem Wasserhahn herum, bis ich herausgefunden hatte, dass sich ein Knopf drehen ließ, um gleich darauf einen heftigen Wasserstrahl freizusetzen, dessen Spritzer mich über und über nass machten. Ich sprang fluchend zurück. Sie kam in den Waschraum, sah mich an und lachte lauthals los. »Ungewohnte Technik, was?«

      Schnell drehte sie den Knopf bis das Wasser in einem einigermaßen gemächlichen Strahl in das Becken floss.

      »Ist hier alles so.... wie früher?«, fragte ich verärgert.

      »Ja, fast alles«, antwortete sie lachend. »Wenn Sie sich sehen könnten!«

      Ich fand wenig Gefallen an meiner Situation, aber ich wunderte mich, wann ich zuletzt einen Menschen so herzhaft lachen gehört hatte.

      Eines der auffälligsten Merkmale der heutigen Zeit ist die relative Gleichgültigkeit der Menschen. In unseren psychiatrischen Kreisen nannte man das früher Affektarmut, die Unfähigkeit Gefühle zu erleben. Nicht dass Gefühle wie Freude, Zorn, Begierde nicht vorhanden wären, aber die Intensität der Gefühle hatte mit der Zeit deutlich nachgelassen, oder der Stimulus musste wesentlich stärker sein, um diese Gefühle auszulösen. Eine Erscheinung, die in der Fachliteratur immer wieder beschrieben wurde. Allerdings war dies offenbar auch zu einem Massenphänomen geworden, was eine zeitlang Gegenstand von verschiedenen Forschungsarbeiten gewesen war, bis eines Tages alle Forschungsgelder für diesen Bereich gestrichen wurden. Am auffälligsten war der Mangel an Gefühlen bei der Ausprägung des Sexuallebens. Die Folge war eine rapide Abnahme der Geburtenrate, ein Effekt der durchaus nicht unerwünscht war, angesichts der explodierenden Weltbevölkerung und der Versorgungsengpässe mit Nahrungsmitteln. Andererseits führte dieser Zustand auch zu einer Abnahme an Konflikten im sozialen Bereich, wenngleich noch immer genügend Zwistigkeiten übrig blieben, ohne die die menschliche Natur offenbar nicht auskommen kann. Ein so herzliches offenes Lachen allerdings hatte ich lange nicht mehr vernommen und ich sah sie interessiert an. Es tat gut, einen Menschen so lachen zu hören.

      »Oh, tut mir leid«, kicherte sie. »Jetzt sollten wir uns aber beeilen!«

      Vorsichtig benetzte ich meine Hand mit kaltem Wasser. Auch das war eine neue Erfahrung für mich. Üblicherweise sendet die Firma, die das Wasser in den Sanitärbereich schickt, angenehm temperiertes Wasser durch die Leitung. Trotz des Schmerzes, der mich durchzuckte, als ich die Blutreste von der Stirn wusch, benetzte ich mehrfach die Stirn mit kaltem Wasser. Glücklicherweise stellte ich fest, dass es sich offenbar nur um eine unbedeutende Schramme handelte. Sie beobachtete mich halb belustigt, halb besorgt, auf jeden Fall jedoch ungeduldig.

      »Kommen Sie, wir müssen jetzt den Applikator benutzen, sonst sind wir hier nicht sicher.«

      Ich folgte ihr in den angrenzenden Raum zurück. Er enthielt eine abgenutzte Sitzgarnitur mit einem fadenscheinigen olivgrünen Bezug, einem wackeligen Tisch, der wohl noch aus echtem Holz hergestellt zu sein schien, einen monströsen, aber ebenso baufälligen Schrank an der gegenüber liegenden Wand. Von allen Wänden löste sich der Verputz ab und hinterließ unschöne Löcher, in denen Ziegelmauerwerk zu erkennen war. Das Haus musste über 200 Jahre alt sein, denn heute baut man nur noch aus Carbonfasergeflecht, was wesentlich stabiler ist und eine bessere Energiebilanz erzielt. Eine Beleuchtung fehlte, statt dessen drang Sonnenlicht durch milchglasfarbene zersprungene Scheiben. Sie machte sich an dem Schrank zu schaffen, was mir Zeit ließ, sie zu beobachten.

      Wenn die Montenièr eine Schizophrene war, dann eine recht hübsche. Natürlich muss man bei psychotischen Menschen aufpassen, dass man sie nicht falsch einschätzt. Wie ich aus jahrelanger beruflicher Erfahrung weiß, wirken viele sehr offen im Gespräch, ja geradezu vertraulich. Man durfte nur nicht in den Fehler verfallen, ihre mit viel Enthusiasmus erzählten Geschichten für bare Münze zu nehmen. Meist ist es ein abstruses Sammelsurium aus Wahn, Phantasie und wirklichem Erleben. Andererseits neigen Psychotiker nicht dazu, andere Menschen zu retten oder soziale Verantwortung zu zeigen. Ich wartete also gespannt darauf, welche Regung und welche Geste mir bei der Montenièr Gewissheit in die eine oder andere Richtung geben würde. Immerhin mochte ich sie vom ersten Augenblick an und das wiederum ist eine Seltenheit bei meiner Klientel. Da zeigt mir üblicherweise ein gewisses Unbehagen, welches ich in der hinteren Nackenregion spüre, dass ich es mit einem psychisch kranken Menschen zu tun habe. Allerdings sind die meisten auch durch Medikamente beeinträchtigt, die sie zu. »Therapie« erhalten oder besser gesagt zur Ruhigstellung. Die Montenièr stand mit Sicherheit nicht unter Medikamenteneinfluss. Ihre Mimik war zu lebhaft, die Bewegungen ihrer schlanken Gestalt zu fließend. Allerdings brauchte ich nicht lange zu warten, bis etwas so Ungewöhnliches geschah, dass sich mein berufsbedingtes Misstrauen wieder meldete. Sie entnahm nämlich dem Schrank einen kleinen kopfhörerartigen Gegenstand, auf dem eine Art Metallspirale montiert war.

      »Sind Sie geimpft?«, fragte sie.

      »Natürlich!«, antworte ich entrüstet.

      Sie rümpfte verstimmt die Nase. Dann drehte sie an irgend einem Knopf an der Seite der Vorrichtung, wartete offenbar auf das Signal einer Kontrollleuchte, nickte zufrieden und reichte mir den Gegenstand. Ich schaute sie verständnislos an.

      »Was soll ich damit machen?«, fragte ich sie unsicher.

      »Das sollen Sie sich auf den Kopf setzen, sehen Sie, so!«

      Sie nahm einen zweiten gleichartigen Gegenstand aus dem Schrank und setzte