Levi Krongold

Viktor


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war ein Gefangener in einem wild gewordenen AuTaX!

      Entschlossen drückte ich den Not-Haltknopf, wieder ohne Ergebnis. Verzweiflung packte mich. Ich versuchte, die Tür mit Gewalt zu öffnen, indem ich mich mit aller Kraft dagegen lehnte. Sie rührte sich keinen Millimeter. Auch der Versuch die Frontscheibe mit den Füßen herauszudrücken, indem ich mich halb liegend dagegen stemmte, fruchtete nicht. Die Straßen, durch die ich fuhr, waren mir völlig unbekannt, die Gebäude in einem immer desolateren Zustand je weiter die Fahrt ging. Schließlich bog das AuTaX in eine finstere Seitenstraße ein, in der ein riesiger Abrissbagger den Weg versperrte. Die gewaltige Maschine, deren Kettenräder allein die Höhe des AuTaX mehr als zweimal überragten, stand drohend dort wie ein in Agonie erstarrtes Monster, das soeben im Begriff war, mit seinem gewaltigen Metallarm ein mehrstöckiges Gebäude in Schutt und Asche zu zerlegen, und versperrte den Weg. Ich schrie vor Schreck auf, den sicheren Aufprall und Tod vor Augen, als das AuTaX plötzlich mit einem so scharfen Ruck zum Stehen kam, dass ich unsanft gegen die Frontscheibe geschleudert wurde. Immerhin schien noch irgendetwas an dem Fahrzeug zu funktionieren! Erleichtert rieb ich mir den gestauchten Ellenbogen und wartete darauf, dass sich mein Herzschlag beruhigte. Die Tür des AuTaX öffnete sich mit dem bekannten kleinen zischenden Geräusch der Hydraulik, dann rührte sich nichts mehr. Kühle Abendluft strömte in die Kabine.Was mir als erstes bewusst wurde, war das völlig Fehlen von Geräuschen. Nichts regte sich!

      Vorsichtig schaute ich durch die geöffnete Tür, wie eine Maus, die jeden Augenblick fürchtet, eine Katze könne auftauchen. Ich war wohl in einem Abrissviertel gestrandet. Derer gab es in den älteren Bezirken viele. Die marode alte Bausubstanz musste dem erhöhten Raumbedarf einer wachsenden Großstadt weichen. Obwohl die Metropole bereits gut ein Zehntel der gesamten Republik umfasste, war Wohnraum immer noch knapp und noch knapper war Büroraum. Ein Hochhaus unter 20 Stockwerken galt als unwirtschaftlich und wurde nach der neuen Agenda von ‚ChemChi‘ zum Sanierungs- oder Abrissobjekt erklärt. Ganze Viertel wurden aus der Architekturgeschichte gestrichen. Die Neubaugebiete erhielten die neue Straßen- und Sicherheitsarchitektur nach den Vorgaben des 86. Planungsbeschlusses. Dieser beinhaltete, dass in den neuen Vierteln ausschließlich das AVS, das Automatisierte Verkehrssystem, erlaubt war und ein Fahrverbot für individuell gesteuerte Fahrzeuge bestehen würde. Das AVS hatte unbestreitbar einige Vorteile, die nicht wegzudiskutieren waren. Da es ausschließlich auf automatisierten, verkehrsgesteuerten Fahrkabinen wie den AuTaX beruht, konnte die jeweils notwendige Fahrzeuggröße dem Transportbedarf angepasst angefordert werden. Der Raumbedarf auf den Straßen verringerte sich seitdem enorm. Die besondere Verkehrsführung, ein System, das den menschlichen Blutkreislauf zum Vorbild hat, beruht auf einem ausgeklügelten Einbahnstraßensystem, bei dem jede Kreuzung vermieden wird. Die Straßen verzweigen sich lediglich, kreuzen sich jedoch nie. Die Automatik lässt daher einen reibungslosen Verkehr zu, der ein Unterbrechen des Verkehrsflusses an Ampeln oder Vorfahrtstraßen vermeidet. Parkplatzraum gibt es nicht mehr, unnötig herumstehende, weil ungenutzte Fahrzeuge ebenfalls nicht, da alle Kabinen in ständiger Nutzung zu neuen Fahrzielen mit anderen Personen sind. Als Neuheit ist lediglich eine Haltespur hinzugekommen, die allerdings auch von Rettungsfahrzeugen benutzt wird. Der einzige Grund, warum dies System nicht bereits überall verwirklicht ist, sind die Eitelkeiten, die auch heute noch mit dem individuell gesteuerten Pkw verbunden sind. Aber auch dies ist nur eine Frage der Zeit. Die neue Regierung ist extrem kompromisslos, was unökonomische Prozessabläufe betrifft. Eine an sich lobenswerte Eigenschaft, die nur in Ämtern und Behörden wenig geschätzt wird, damals wie heute.

      Allein hatte ich in der Situation, in der ich mich unerwartet wiederfand, wenig Sinn für derartige Überlegungen. Mich beschäftigte eher die Frage, wie ich von hier wegkommen konnte!

      Langsam, nachdem ich mich nochmals davon überzeugt hatte, niemanden zu sehen, setzte ich einen Fuß aus dem Fahrzeug und schwang mich auf die Straße. Dies wäre normalerweise völlig unmöglich gewesen, ohne ein größeres Verkehrschaos mit Gefahr für Leib und Leben anzurichten, hier aber endete die Straße und außer meinem war kein weiteres Fahrzeug in Sicht oder hier gestrandet. Meine Schritte hallten an den Gebäudewänden wieder, als ich vorsichtig um das AuTaX herum ging, unentschlossen, wohin ich mich wenden sollte. Das Arm-Pad war eindeutig nutzlos, da es unerklärlicherweise keine Verbindung zum Server aufnehmen konnte. Aber ohne das Pad konnte ich keine Orientierung anfordern. Einfach so drauflos zu gehen hielt ich für zu riskant.

      Ich lehnte mich an das AuTaX und schaute mir die Gebäuderuinen um mich herum an. Eingeworfene oder zersplitterte Fensterscheiben, zu großen Bergen aufgetürmte Trümmerhaufen bereits abgerissener Gebäudeteile, Rollen von Kabeln und Schläuchen.

      Irgend etwas stimmte hier nicht! Es war das völlige Fehlen von Geräuschen, genau das! Dann fiel es mir ein. Wieso eigentlich war der Abrissbagger nicht in Betrieb? Wieso wurde der Schutt nicht abtransportiert? Wieso kamen und fuhren keine Lastwagen auf die Baustelle? Seit der Automatisierung waren Menschen zur Kontrolle der Arbeiten nur noch vereinzelt notwendig. Die Maschinen hätten Tag und Nacht ohne Pause arbeiten müssen. Nichts tat sich jedoch hier! Das war mehr als seltsam! Plötzlich schrak ich zusammen. War da nicht gerade ein Schatten hinter einem der Schuttberge weggehuscht? Ich drehte mich vorsichtig um. Und da, der Schatten einer geduckt laufenden Gestalt verschwand schnell hinter einem Betonhaufen. Ich blinzelte durch meine zusammengekniffenen Augenlider, um besser sehen zu können, denn die Strahler, die die Baustelle beleuchteten, blendeten so sehr, dass es mir schwer fiel, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Aber je länger ich in die Dunkelheit starrte, desto sicherer war ich mir, Schemen versteckter Gestalten erkennen zu können. Vorsichtig tastete ich mich zum AuTaX in der vagen Hoffnung zurück, darin Schutz zu finden. Vielleicht ließ sich die Tür doch wieder schließen. Ich tastete nach dem Türschalter, ohne den Winkel aus den Augen zu lassen, in dem ich die Gestalten zu erkennen glaubte. Die Tür rührte sich nicht. Als ich mich panisch umblickte, sah ich sie! Von allen Seiten lösten sich zerlumpte Gestalten aus der Dunkelheit der Ruineneingänge. Zuerst schienen sie nur unschlüssig dazustehen und zu schauen. Doch dann begannen sie, sich vorsichtig dem AuTaX zu nähern. Es waren vielleicht zehn, nein, zwanzig Gestalten. Einige trugen Metallstangen oder andere Gegenstände in den Händen, die sie aus dem Bauschutt geborgen haben mochten. Verzweifelt versuchte ich, die Tür des AuTaX mit den Händen zuzuziehen, doch sie rührte sich keinen Millimeter. Ich schaute mich nach einem Fluchtweg um. Noch waren die Gestalten weit genug entfernt, so dass eine Chance bestand zu entkommen. Daran, dass sie offensichtlich Gewalt gegen mich anwenden würden, zweifelte ich keinen Moment, obwohl die zusammengekrümmten Gestalten nicht gerade einen wohlgenährten Eindruck machten. Im Gegenteil meinte ich hier und da sogar alte faltige Gesichter erkennen zu können. Vielleicht sollte ich versuchen, sie anzusprechen? Bevor ich jedoch diese Idee in die Tat umsetzen konnte, ertönte plötzlich ein scharfer Pfiff aus der Dunkelheit. Die Gestalten blieben abrupt stehen und schauten in den Himmel. Mit einem Mal war Lärm um mich herum, Motorenlärm!

      Das dumpfe Brummen von Kampfdrohnen war mir aus den Videosimulationen zwar bekannt, doch das durchdringende Dröhnen ihrer Sonotronenwerfer war derartig schmerzhaft, dass ich mir nach kurzer Zeit die Hände an den Kopf presste, weil ich befürchtete, er könne platzen. Die Infraschallwellen, die die zwei Kampfdrohnen aussendeten, die plötzlich über der Baustelle erschienen waren, können sogar Gewebe zerreißen und es sind nicht wenige Todesfälle bekannt, die von platzenden Hirngefäßen herrührten oder der Zerreißung von Lungengewebe. Ich sah noch, wie einige der Gestalten, die nicht schnell genug zurückgewichen waren, um sich hinter Mauern abzuschirmen, sich auf der Straße vor Schmerz zusammenkrümmten. Dann erfolgte eine heftige Explosion, die das AuTaX ein Stück zur Seite riss. Eine der Kampfdrohnen stürzte unweit von mir mit einem Krachen und zerbrochenen Rotoren auf die Straße. Steine spritzten umher, die Frontscheibe des AuTaX ging zu Bruch. Ich wurde hinausgeschleudert und landete unsanft auf dem Schotter. Eine weitere etwas fernere Explosion war zu hören, dann sank ein Teil des halb abgerissenen Hauses gegenüber in sich zusammen. Eine riesige Staubwolke wälzte sich heran und nahm mir den Atem. Das Dröhnen des Sonotrons der übriggebliebenen Drohne, die über mir schwebte, raubte mir nahezu den Verstand vor Schmerz. Ich stöhnte laut auf und versuchte irgendwie den Druck von meinem Kopf fernzuhalten, indem in mich wie ein Embryo zusammen krümmte.

      »Komm, komm schnell!« Eine Hand hatte mich an der Schulter gepackt und zog mir den Arm vom Ohr weg.. »Komm, weg hier!« Irgendwer hatte mich