als die grosse Kunst, wenigstens soweit es die Plastik anbelangt, in der in Rede stehenden Zeit ohnehin nur eine untergeordnete, von der Architektur vollständig bedingte Rolle spielt. Zum Ausgangspunkt meiner Ausführungen will ich eine aus Bamberg stammende Elfenbeintafel wählen, auf welcher drei Frauen am Grabe und die Himmelfahrt Christi dargestellt sind. Professor Dr. J. A. Messmer, den der Tod leider zu früh seinem Berufe und der Wissenschaft entriss, hat an der- Hand dieser Tafel in der ihm eigenen geistreichen und scharfsinnigen Weise den Beweis erbracht, dass uns in dem Grabgebäude des Reliefs eine direkte Nachbildung der von Constantin dem Grossen erbauten heil. Grabkapelle zu Jerusalem erhalten ist. (Mittheil. der k. k. Centrallcommission in Wien, 1862. Nr. 4. S. 85 – 90).
Manche Gelehrte nun haben die eben genannte Relieftafel für eine byzantinische Arbeit des 4. Jahrhunderts n. Chr. gehalten und selbst der in solchen Dingen so feinfühlige Mess m e r hat sich durch die relative Schönheit der lebensvollen Figu-ren zu dieser Ansicht verleiten lassen. Allein die etwas zu gross gerathenen Hände und das Gedrungene der Gestalten sowie die für die abendländische Kunst so charakteristischen Köpfe in ihrer, man möchte fast sagen, etwas derben Realistik, weisen das betreffende Relief zweifellos dem Abendlande zu; denn diese Merkmale wird man selbst an den frühesten byzantinischen Werken vergeblich suchen. Gerade das Hinneigen zu einer mehr realistischen Art der Darstellung war es eben, was der abendländischen Kunst früher oder später eine Zukunft verhiess, während die byzantinische Kunst den Keim der Schwindsucht schon bei ihrer Geburt in sich trug.
Die in Rede stehende Elfenbeintafel nun stammt nach meiner Ansicht aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. (Dieser Ansicht ist auch Springer, die Psalter-Illustrationen im frühen Mittelalter. (Des VIII. Bandes der Abhandlungen der phil. hist. Classe der Kgl. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften Nr. 11.) Leipzig, S. Hirzel 1880. S. 203.) und steht mit dem damaligen Aufschwung der Elfenbeinschnitzerei in Ravenna und im nördlichen Italien in Zusammenhang. Ravenna ist als ein Mittelpunkt des abendländischen Kunstschaffens noch lange nicht hinlänglich gewürdigt worden. Man nimmt es gewöhnlich als Hauptstadt des byzantinischen Exarchats und die aus dieser Zeit stammenden Werke haben einzelne Forscher zu der Ansicht geführt, dass Alles, was in Ravenna geschaffen würde, einen byzantinischen Charakter trage oder direkt aus den Händen byzantinischer Künstler hervorgegangen sei. Und doch war dies, besonders in der früheren Zeit, durchaus nicht der Fall, namentlich nicht in Bezug auf die Elfen- beinschnitzereien, wie denn in Byzanz überhaupt der Skulptur nur, eine sehr stiefmütterliche Behandlung zu Theil ward. Was sich an ravennatischen Werken aus der Blüthezeit dieser Stadt auf den ersten Blick als byzantinischer Einfluss ansieht, das findet seine tiefere Begründung im damaligem Zeitgeist, welcher in der ravennatischen Kunst ebenso wie in der byzantinischen zum Ausdruck gelangte.
Es ist behauptet worden, dass die abendländischen Consular-Diptychen einen geringeren Kunstwerth hätten, als die byzantinischen. Doch Wilh. Meyer (Zwei antike Elfenbeintafeln der k. Staatsbibliothek in München. (Aus den Abhandlungen der k. b. Akademie d. Wiss. I. Cl. XV. Bd. I. Abth.) München 1879, Akademische Buchdryckerei von F. Straub.) hat gezeigt, dass eine solche Scheidung unmöglich ist, „da wir weströmische Diptychen nur aus dem 5., oströmische Diptychen nur aus dem 6. Jahrhundert haben, mit Ausnahme des weströmischen von 530.“ Dieses letztere ist nun allerdings beinahe eine direkte Nachbildung des oströmischen vom Jahre 513; dieses scheint dem abendländischen Bildschnitzer zufällig in die Hände gekommen und von demselben als Vorlage benützt worden zu sein. Freilich geschah dies erst im 6. Jahrhundert, als der byzantinische Einfluss in Ravenna bereits mächtiger geworden war; vordem aber hatten die ravennatischen und abendländischen Schnitzer noch künstlerisches Geschick genug, ihre Arbeiten selbständig anzufertigen oder höchstens sich an der Antike zu inspiriren. So ist z. B. das weströmische Diptychon des Boethius vom Jahre 487 eine wohlgelungene abendländische Arbeit, welche manche byzantinische Werke hinter sich zurücklässt. Es ist ferner bezeichnend genug, dass der Meister des berühmtesten Werkes byzantinischer Plastik, der gewöhnlich Augustio genannten Reiterstatue Justinian's, ein geborener Römer war. Kurz der byzantinische Einfluss war, was die Plastik anbelangt, im Abendlande besonders im 5. Jahrhundert, von kaum nennenswerther Bedeutung.
Es wäre auch sonderbar genug, wenn nur in Byzanz, seitdem es durch Constantin den Grossen zur Hauptstadt des östlichen Reiches geworden war (330), Kunst und Wissenschaft einen neuen Aufschwung genommen hätten, wenn nicht auch in Ravenna, seitdem es Kaiser Honorius zur Residenz des Westens erhoben (404), sich eine ähnliche Renaissance angebahnt hätte. Die Kunstschätze, welche zum Schmucke der neuen Hauptstadt aus Rom und anderen Städten dahingeschafft wurden, übten auf die einfachen Bewohner naturgemäss einen tieferen und nachhaltigeren Eindruck aus als auf die durch stetiges Anschauen abgestumpften Sinne der Römer; sie wurden wie den Byzantinern, so auch den Ravennaten Vorbilder, an denen sie ihren Geschmack läutern, ihr technisches Können erproben und sich zur Nachahmung begeistern konnten. Die neuen Aufträge, an denen es nicht fehlte, kamen dieser Anregung rechtzeitig zu Hilfe und so entstand gegen die dreissiger Jahre des 5. Jahrhunderts in Ravenna unter ganz ähnlichen Bedingungen, wie in Constantinopel schon um ungefähr ein halbes Jahrhundert früher, eine ganz eigenartige Kunstschule, welcher wir namentlich eine Reihe ausgezeichneter Elfenbeinskulpturen verdanken.
Es fehlt zwar nicht an gewichtigen Stimmen, welche diese Diptychen durchweg auf byzantinischen Ursprung zurückzuführen suchen, ja Labarte, der verdienstvolle Verfasser der „Histoire des arts industriels“ sieht fast in jedem Werke der bildenden Kunst vom 5. bis zum 12. Jahrhundert byzantinische Künstlerhände. Ihm genügt schon die orientalische Kopfbedeckung der Placidia auf dem Diptychon Valentinian's III. vom Jahre 430, um dieses Relief der abendländischen Kunst abzusprechen, als ob nicht auch ein Künstler des Westens eine sich griechisch kleidende Kaiserin naturgetreu zu porträtiren vermocht hätte! Kurz, die Gründe, welche Labarte und andere Gelehrte für ihre Ansicht ins Treffen führen, vermögen nicht gegen die naheliegende Thatsache aufzukommen, dass ein abendländischer Consul die Tafeln, welche er beim Antritt seines Amtes an die Behörden, Freunde und Gönner zu verschenken hatte, sicher auch im Abendlande und zwar zunächst in der Hauptstadt des Reiches, in der er sich eben am häufigsten aufhielt, herstellen liess.
Daher muss das herrliche, im Domschatz zu Monza aufbewahrte Diptychon Kaiser Valentinian's III. vom Jahre 430, welches ich als Consulardiptychon des Genannten in einem Aufsätze der „Wartburg“ endgiltig nachgewiesen zu haben glaube, (Die Wartburg, Organ des Münchener Alterthumsvereins. 1882. Nr. 1-4.) als die Arbeit eines ravennatischen Künstlers betrachtet werden, da Valentinian und seine Mutter Placidia vorzugsweise in Savenna ihren Aufenthalt hatten. Die Schönheit des Diptychons veranlasst mich, auf eine merkwürdige Erscheinung hinzuweisen, welche die bisherigen Ausführungen zu stützen geeignet ist.
Diejenigen, welche die Geschichte der Elfenbeinschnitzerei näher verfolgt haben, werden zu der Beobachtung gelangt sein, dass in Bezug auf Komposition und technische Ausführung jene Elfenbeinskulpturen die besten sind, welche noch dem 2. und 3. Jahrhundert n. Ch. angehören. Obgleich damals die grosse Kunst schon gänzlich darniederlag, lieferten die kleinen Künste, namentlich die Schnitzerei, doch noch eine Reihe vortrefflicher Werke, wie z. B. das ausgezeichnete Diptychon mit der Inschrift „Symmachorum – Nicomachorum“, dessen eine Tafel sich im South Kensington Museum zu London befindet, während die andere im Hotel Cluny zu Paris aufbewahrt wird Die Literatur darüber bei Wilh. Meyer a. a. O. S. 80. Nr. 53.), ferner das schöne Diptychon des Stadtvicars von Rom, Rufius Probianus, in der k. Bibliothek in Berlin (W. Meyer, a. a. O. S. 78. Nr. 44.) und viele ähnliche Relieftafeln.
Steigen wir dagegen um ein Jahrhundert herab und durchmustern die Elfenbeinreliefs des 4. Jahrhunderts n. Chr., so werden wir nicht ein einziges entdecken, das in künstlerischer Beziehung irgendwelches Interesse böte. Der Verfall ist nachgerade auch über die Kleinkunst hereingebrochen. Hingegen tritt uns seit dem Beginn des 5. Jahrhunderts wieder eine Reihe trefflicher Elfenbeinskulpturen entgegen, welche, wenn sie auch hinter der Schönheit jener aus dem 3. Jahrhundert stammenden zurückstehen, immerhin eine gewisse Grossartigkeit in Form und Haltung der Figuren zur Schau tragen und den Einfluss der Blütheepochen der Kunst auf einmal wieder wirksam zeigen.
Ich erinnere blos an das bereits genannte. Diptychon Valentinian's III. und an das berühmte Diptychon im Zither des Doms zu Halberstadt (Wilh. Meyer, a. a. U.), welches wahrscheinlich zum vierten Consulate des Feldherrn Aetius, des glorreichen Besiegers der Hunnen