Elke Schwab

Kullmann jagt einen Polizistenmörder


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worden. Dieses schreckliche Ereignis hatte sie alle aus dem Gleichgewicht gebracht, weil ihnen dadurch vor Augen geführt worden war, welchen Gefahren sie wirklich ausgesetzt waren. Das Bild, das Verbrechen geschehe an wildfremden Menschen und die Kollegen seien nur dafür da, es aufzuklären, war damit ins Wanken geraten. Es konnte alle treffen, wie sie hautnah hatten miterleben müssen, auch einen Kollegen der Polizei. Besonders belastend wirkte es sich noch dadurch aus, dass es von dem Täter nicht die geringste Spur gab. Im Laufe der Zeit hatte sich die Verunsicherung in der Abteilung zwar etwas gelegt, aber eine schwelende Angst war zurückgeblieben. Bei ungewöhnlichen Geräuschen drehte Anke sich oft erschrocken um und fürchtete, dass sie die Nächste sein könnte. Die Tatsache, dass auch der Fall immer noch nicht aufgeklärt war, schürte diese Angst. Entmutigend kam hinzu, dass ausgerechnet im Fall des Polizistenmordes, der Anlass zu besonders intensiven Ermittlungen sein sollte, keinerlei Hinweise auf das Motiv, geschweige denn auf einen möglichen Verdächtigen gefunden werden konnten. Sie tappten im Fall Nimmsgern völlig im Dunkeln. Das bedeutete, dass es zwei unaufgeklärte Todesfälle in ihrer Abteilung gab, eine Bilanz, die nicht nur nicht vorzeigbar, sondern auch gerade für Kullmann besonders erschütternd war, weil er ausgerechnet in diesem Herbst in Pension gehen wollte. Mit Sicherheit wollte er seine vierzigjährige Dienstzeit nicht mit zwei unaufgeklärten Mordfällen abschließen. Eine derart unbefriedigende Situation hatte es in seiner langen Dienstzeit noch nicht gegeben.

      Als sie so ihren Gedanken nachhing, erinnerte Anke sich wieder daran, dass Nimmsgern bis zu seinem Tod an dem Fall Luise Spengler gearbeitet hatte und regelrecht davon besessen gewesen war, gute Ergebnisse zu bringen. Es tauchten Bilder von seinen letzten Tag auf, bevor er erschossen worden war. Nimmsgern hatte ihr vor seinem Weggang noch von einer unheimlich wichtigen Spur vorgeschwärmt, die endlich zu Luise Spenglers Mörder führen würde. Es war schon immer seine Art gewesen, in Rätseln zu sprechen. Sie erlebte ständig, dass er seine Kollegen auf Distanz hielt. Nimmsgern wirkte immer unnahbar und abweisend, was wohl mit den ständigen Hänseleien der Kollegen über seinen unersättlichen Hunger zu tun hatte. Wer weiß, vermutlich war er selbst unglücklich darüber, und alle hatten kräftig in dieser Wunde gerührt. Deshalb gab es niemanden, dem er sich anvertraut hätte; so hatte er vermutlich sein Geheimnis mit ins Grab genommen.

      Es war schon spät und rasch begann sie, ihren überfüllten Schreibtisch aufzuräumen. Die Tage wurden wieder länger, es war endlich wieder Frühling geworden. Das war ein Trost für sie, weil die Sonne sogar noch nach Feierabend lachte. Mit dem Kopf voller Pläne, wie sie ihren freien Abend verbringen wollte, bereitete sie sich auf den Heimweg vor, als Hübner ihr Büro betrat.

      »Willst du schon Feierabend machen?«, fragte er ganz vorwurfsvoll.

      »Ja! Mir ist nicht bekannt, dass ich die Pflicht habe, mich bei dir abzumelden«, konterte Anke böse. »Oder hast du dich schon vorsorglich selbst zum Chef ernannt?«

      Hübner überhörte einfach Ankes Ironie und begründete seinen Vorwurf: »Inzwischen ist Nimmsgern schon ein halbes Jahr tot, und wir haben immer noch keine Spur. Wie kannst du da nur an den Feierabend denken?«

      »Ganz einfach, weil ich nicht mit dir an dem Fall arbeite – hast du das schon vergessen? Dann erinnere ich dich daran: Ich arbeite zusammen mit Kullmann an dem Mordfall Luise Spengler.«

      »Ja, und die Ironie daran ist, dass der Fall Luise Spengler noch länger zurückliegt und noch nicht einmal klar ist, ob es wirklich Mord war. Du bringst keine Ergebnisse zustande und denkst nur an dich«, blieb Hübner hartnäckig.

      »Und noch viel ironischer ist, dass dich der Fall Luise Spengler überhaupt nichts angeht. Mach du deine Arbeit und ich meine. Was hältst du davon?«

      »Verdammt, du verstehst überhaupt nichts mehr, seit du nur noch die Pferde im Kopf hast«, sprach Hübner endlich das aus, was ihn bedrückte. »Dieser Mist ist dir schon in den Kopf gestiegen.«

      »Daher weht also der Wind. Mein Privatleben geht dich nichts an. Dass wir beide mal zusammen waren, heißt nicht, dass du dich heute noch in mein Leben einmischen kannst. Wann kapierst du das endlich? Ich lasse mich nicht von dir beleidigen. Da höre ich lieber auf den Rat meines Chefs und genieße mein Privatleben. Ich vernachlässige meine Arbeit nicht, verlass dich drauf.« Anke zog ihre Sporttasche aus dem Schrank.

      Vor einigen Monaten hatte sie sich endlich dazu entschlossen, reiten zu lernen. Davon war sie durch nichts abzuhalten. Die Arbeit mit den Pferden machte ihr unendlich viel Spaß. Zu Hause konnte sie sich kein Haustier halten. Ein Hund oder eine Katze würde viel zu viele Stunden in ihrer kleinen Wohnung alleine verbringen müssen, was sie keinem Tier antun wollte. Aber durch das Reiten erfüllte sie sich ihren Wunsch, ein Tier in ihrer Nähe zu erleben. Der Umgang mit den Schulpferden machte ihr Freude. Diese Tiere waren brav und reagierten auf sie. Niemals hätte sie geahnt, dass Pferde so menschenbezogen und einfühlsam sein könnten. Sie waren ein wundervoller Ausgleich für ihre angespannte Polizeiarbeit und den ständigen Leistungsdruck. Ihr Herz schlug immer höher, wenn ein Pferd wieherte, sobald es ihre Stimme hörte. Seit sie mit ihrer früheren Freundin gelegentlich am Koppelrand gesessen und die Herde wild tobender Pferde beobachtet hatte, deren ungebändigte Lebensgier und deren Schönheit und Eleganz hatte bewundern können, war ihr diese Idee gekommen. Und sie bereute es nicht, obwohl sie schon einige Male heruntergefallen war und sich jede Menge blaue Flecken zugezogen hatte.

      Sie zog sich ihre Reithose und ein T-Shirt an, während Hübner im Nachbarzimmer wartete, bis sie fertig umgezogen war. An diesem Tag würde sie zum ersten Mal, seit sie im Reitverein war, auf dem Außenplatz reiten. Sie spürte, wie aufgeregt sie war. Schnell bürstete sie ihre kurzen, dunklen Haare kräftig durch. Als sie mit dem Reiten angefangen hatte, hatte sie ihre schulterlangen Haare abschneiden lassen, weil ständig der Pferdeduft darin hing, was auf der Dienststelle nicht immer auf Wohlwollen gestoßen war.

      Als Hübner wieder das Zimmer betrat, bewunderte er ihre sportliche Figur, die durch die enge Reithose noch mehr betont wurde. Aber Anke ließ ihm kaum Gelegenheit dazu, weil sie diese Blicke bereits bestens kannte. So sehr er sich auch bemühte, wieder bei ihr zu landen, so deutlich zeigte sie ihm, dass die Trennung endgültig war.

      Mit ihrer Tasche über der Schulter marschierte sie los und steuerte das Zimmer ihres Chefs an, um sich zu verabschieden. Kullmann war nicht allein in seinem Büro, doch als Anke sich wieder zurückziehen wollte, wurde sie von den beiden älteren Herren gebeten, einzutreten. Sie kannte den Besucher nicht, er war ein Kollege der uniformierten Polizei. Kullmann stellte ihn ihr als langjährigen Arbeitskollegen und Freund vor. Die beiden Alten bestaunten sie in ihrem sportlichen Dress und der Kollege meinte: »Schade, dass die Reiterstaffel im Saarland schon seit 1987 nicht mehr existiert. Eine so sympathische junge Frau hätte ich gerne in meiner Einheit gehabt.«

      »Das heißt, Sie waren bei der berittenen Polizei?«, staunte Anke.

      »Oh ja! Bis zum Schluss.«

      »Ich glaube, dort hätte ich Ihnen nicht viel genützt. Ich falle ja ständig herunter«, lachte Anke, doch der Kollege winkte ab und entgegnete: »Das gehört dazu. Ein Reiter ist nur dann gut, wenn er nach einem Sturz wieder auf ein Pferd aufsteigt. Daran erkennt man sein Durchhaltevermögen.«

      »Was wurde aus Ihrem Pferd, nachdem die Reiterstaffel eingestellt worden ist?«

      »Ich habe den Wallach einfach abgekauft und mit nach Hause genommen«, erzählte der ältere Kollege mit schwärmerischem Blick. »Und dort läuft er heute noch auf der Koppel herum und richtet Unheil an.«

      »Ach. Wie alt ist er denn jetzt?«

      »Er ist schon achtundzwanzig Jahre alt und immer noch kerngesund. Nur manchmal glaube ich, dass er senil geworden ist.«

      »Erzählen Sie.«, forderte Anke auf, weil sie vor Neugierde brannte.

      »Wir haben eine kleine Herde von vier Pferden in Dillingen-Diefflen auf der Koppel stehen. Dort ist auch mein betagter früherer Arbeitskollege dabei. Immer wenn ich abends die Pferde rufe, laufen alle zielstrebig zum Stall, weil sie wissen, dass dort Futter auf sie wartet. Nur mein Rentner nicht. Er verläuft sich jedes Mal und dann muss ich den weiten Weg über die Koppel gehen und ihn zum Stall führen.«

      Anke und Kullmann lachten.