Renate Dr. Dillmann

China – ein Lehrstück


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      Renate Dillmann ist freiberufliche Journalistin. Studium der Politikwissenschaft und Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, Promotion (Staatstheorie) an der Fernuniversität Hagen. Seit vielen Jahren außerdem Lehrbeauftragte an der Evangelischen Fachhochschule Bochum, mehrere Forschungsaufenthalte in China.

      Vorwort zur neuen Auflage

      Seit der ersten Auflage dieses Buchs sind mehr als zehn Jahre vergangen. In dieser Zeit hat sich China weiter entwickelt: mit seinen Wachstumsbilanzen und mit der Erschließung weiterer Ressourcen, als Teilnehmer am Weltmarkt, als Konkurrent um Einfluss in der Welt. Das sind die Gesichtspunkte, die in der globalen Staatenkonkurrenz zählen. Kein Wunder also, dass viel über China berichtet und ebenso viel gestritten wird.

      Schön, dass nun eine ergänzte 4. Auflage zustande kommt. Denn dieses Buch hat sich immerhin zum Ziel gesetzt, das heutige China, das sich nach Maos Tod ökonomisch zum Kapitalismus gewendet hat und damit ungemein erfolgreich ist, ökonomisch und politisch in seinen wesentlichen Zügen zu erklären. Trotz aller Veränderungen, die zu konstatieren sind, braucht die prinzipielle Analyse des Landes, wie sie 2009 vorgelegt wurde, nicht korrigiert zu werden.

      Sie enthält unter anderem Antworten auf Fragen, die in aktuellen Diskussionen immer wieder aufkommen:

       Was sind die Gründe für den Aufstieg dieses Landes, der in dieser Form von den westlichen Welt- und Großmächten weder erwartet noch gewollt wurde?

       Wo liegen Unterschiede zur Sowjetunion und deren Niedergang unter und nach Gorbatschow?

       Warum ist der chinesische Sozialismus gescheitert? Oder ist das gegenwärtige China ganz im Gegenteil der erste erfolgreiche Sozialismus der Menschheitsgeschichte?

       Wieso ist China gelungen, was viele Entwicklungsländer angestrebt haben? Wieso ist ausgerechnet China die Entwicklung vom ehemals (halb)kolonialen Land zur industrialisierten und technologischen Großmacht gelungen?

       Ist das moderne China ein besonders „böser“ Fall von kapitalistischer Ausbeutung samt repressivem Staat? Oder steht China für eine neue, friedliche Variante einer kapitalistischen Großmacht?

      Einleitend sollen einige nötige Ergänzungen und Fortschritte festgehalten werden: zur Ökonomie Chinas (Entwicklung der Produktivkräfte, Binnenmarkt, Löhne und Sozialversicherungen, Sozialkreditsystem, Exkurs zur chinesischen Corona-Politik) wie zu seiner Außenpolitik (Neue Seidenstraße, Aufrüstung, Streit um die Inseln im südostasiatischen Meer).

      Es folgen ein paar Überlegungen zur Darstellung Chinas in den deutschen Medien, die in den letzten Jahren immer mehr den Charakter eines Feindbildes angenommen hat.

      Im Übrigen wurden die Teile Teile „1: Der Sozialismus in der Volksrepublik China“ und „2: Der Kapitalismus in der Volksrepublik China“ unverändert übernommen.

      China – Stand 2020

      China verfügt heute – mehr als 40 Jahre nach Beginn seiner Öffnungspolitik, die noch von Mao Zedong eingeleitet und von Deng Xiao Ping mit einer neuen Zielsetzung versehen wurde – über enormen materiellen Reichtum, über Produktionskapazitäten in allen wesentlichen Zweigen, über weit entwickelte Produktivkräfte und über den größten Devisenschatz aller Zeiten.

      Einige seiner Provinzen sind bereits mit weltweit modernster Infrastruktur ausgestattet. 80 % der chinesischen Städte über 200.000 Einwohner sind mit Hochgeschwindigkeitszügen verbunden. Das Land ist inzwischen in der Lage, Großprojekte autonom und schnell durchzuführen. Exemplarisch steht dafür der neue, letztlich für 72 Millionen Passagiere ausgelegte Groß-Flughafen in Beijing Daxing, dessen Planung 2013 begann und der 2019 bereits eröffnet wurde. China treibt seine Energieversorgung mit regenerativen Energien (inzwischen 26,5 % der Stromerzeugung) und 47 Atomkraftwerken (3,5 % der Stromerzeugung) schnell voran. Es ist die größte Schiffsbau-Nation der Welt, verfügt über moderne Chemie-Standorte, eine Raumfahrttechnik, die gerade eine unbemannte Mondlandung zustande gebracht hat.

      Über Jahre hinweg hieß es, dass die Volksrepublik das „beeindruckende Tempo“ ihrer Entwicklung nur mit Hilfe von Industriespionage und der Erpressung von Technologie-Transfer vorantreiben könne. Heute konstatieren zumindest die differenzierteren Stimmen, dass chinesische Wissenschaftler wie Unternehmen bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Patentanmeldungen ganz vorne mitmischen: 2017 kamen der National Science Foundation zufolge aus China mehr wissenschaftliche Veröffentlichungen als aus jedem anderen Land der Welt; der chinesische Konzern Huawei belegte bereits dreimal den Spitzenplatz der globalen Rangliste der Weltorganisation für geistiges Eigentum, und beim Europäischen Patentamt liegt er ebenfalls vorn.1

      A. Ökonomie – Produktivkräfte für den Sozialismus?

      Chinas Kommunistische Partei stellt ihre Wirtschaftspolitik2 angesichts unübersehbarer sozialer Härten und ökologischer Zerstörung gerne als lästigen, aber nötigen „Umweg“ auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft dar. Statt weiter den Irrwegen des maoistischen „Armutskommunismus“ zu folgen, sollen mit „kapitalistischen Methoden“ die Produktivkräfte entwickelt und ausreichend materielle Mittel erzeugt werden3, um dann erstmals eine wirklich sozialistische Gesellschaft starten zu können.

      Nehmen wir für einen Moment an, diese staatliche Selbstdarstellung sei wahr. Dann sähe die Geschichte der letzten vier Jahrzehnte ungefähr so aus: Die ungemein harten Arbeitsbedingungen in den Fabriken und an den Baustellen, die Lebensmittelskandale chinesischer Unternehmen, die offenbar beschleunigt „reich“ werden wollten und dafür die Vergiftung ihrer kleinen und großen Mitbürger in Kauf genommen haben, die gewaltsamen Enteignungen chinesischer Bauern durch lokale Behörden, die Gewerbegebiete ausweisen wollten, die Zerstörung von Luft, Land und Flüssen als Mittel einer profitablen Produktion – all das wäre die etwas „dornige“ Art und Weise, mit der letztlich „Gutes“ erreicht werden soll. Dieses Ziel wäre nun erreicht! Chinesische Arbeiter_innen hätten sich lange genug abgeschuftet im Dienst an der Produktion billiger T-Shirts und teurer I-Phones. Sie hätten ihrem Land damit die erwünschten Mittel und Produktivkräfte verschafft und könnten ab jetzt die Früchte dieser Jahre genießen …

      Weltweit führende Produktionsmacht!

      Ihre eigene Darstellung dementiert allerdings vor allem die chinesische Führung selbst. Gegen das eventuelle Missverständnis, dass sie den Weg zur ersehnten „sozialistischen Gesellschaft“ in etwa so gemeint habe – einige Jahrzehnte harter Arbeit und danach endlich sichere, auskömmliche und behagliche Lebensverhältnisse für alle –, setzt sie regelrecht programmatisch ihre nächste mittel- und langfristige Zielbestimmung: „Der chinesische Staatsrat kündigte im Mai 2015 ,Made in China 2025‘ als nationale Initiative zur Verbesserung der verarbeitenden Industrie an – zunächst bis 2025 und dann bis 2035 und 2049. Das letztendliche Ziel ist die Umwandlung Chinas in eine weltweit führende Produktionsmacht.“4

      Weltweit führende Produktionsmacht zu werden – das ist das Ziel, das Chinas Kommunisten sich selbst setzen. Das nimmt an etwas anderem Maß als an einer guten Versorgung und einem angenehmen Leben der eigenen Bevölkerung. Weniger Arbeit, weniger Stress, mehr Lebenssicherheit und mehr Genuss werden nicht angekündigt. Dauernde Sorgen um den Arbeitsplatz und das nötige Geld, um die Gesundheit angesichts der Belastungen an Arbeitsplätzen und im sonstigen Leben mit Lärm, Luftverschmutzung und schädlichen Lebensmitteln gehören auch im heutigen China einfach dazu – ein qualitativer Unterschied zum Leben in den westlichen kapitalistischen Staaten ist nicht zu erkennen. Die regierungsoffizielle Zielvorgabe in dieser Frage sieht vor, dass das Volk sich an Arbeitsplätzen aller Art, deren Zweck sich daran bemisst, dass an ihnen Geld produziert wird, ein Leben lang um „bescheidenen Wohlstand“ mühen darf (Original-Ton der KP).

      Angesichts dessen, wie es im Rest der Welt aussieht, hat das in der Tat schon fast den Charakter einer Verheißung. Aber eben auch nur angesichts dessen.

      Die staatliche Zielbestimmung zielt im Kern jedenfalls auf anderes: In ihr geht es programmatisch um die internationale Konkurrenz kapitalistischer Staaten. Darin will die Volksrepublik China