Reinhold F. Schmid

Tschêl


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des Unterengadins. Kaum auszumachen ist die Sonne im Westen, doch ihre Strahlen finden eine Öffnung in der wattigen Decke, sodass die karbonatreichen Sedimente an den Nordhängen in einem warmen Ocker erstrahlen.

      Stefan nimmt seinen Feldstecher von den Augen und schaut in die Runde. Im Osten das Val d’Uina, dann das Val S-charl und das Val Plavna.

      Das Handy vibriert, schon wieder ein Anruf. Soll es doch. Später, im Tal, ist der Empfang sowieso besser. Oder könnte es Martina sein?

      Morgen werde ich 49 Jahre alt, eine krumme Zahl, kein Grund zum Feiern, ein gewöhnlicher Arbeitstag. Irgendwie mag ich Geburtstage nicht. Es ist mir ein unangenehmes Ritual. Man ist wichtig und trotzdem danach vom Tag enttäuscht.

      Würde Martina anrufen wegen seines Geburtstags, diesen Tag als Vorwand nehmen für einen Neubeginn? Zweiundzwanzig Jahre sind wir zusammen gewesen, zwei Jungen haben wir gemeinsam erzogen, und nun sind wir getrennt.

      Geburtstag als Neubeginn? Wie sehne ich mich nach meiner Frau! Wie konnte es zu einer solchen Trennung kommen? Trennung – dieses Wort macht mich wütend und verzweifelt. Wut wegen einer Nähe, die mir früher als Kind zu viel gewesen ist. So stark und penetrant, als müsse ich daran ersticken.

      Was sagte mir kürzlich ein Freund, als wir über unser Seelenleben sprachen? Dir ist einmal jemand durch deinen Garten getrampelt. Ja, vermutlich wurden vor vielen Jahren meine Grenzen missachtet, bis ich den Kontakt mit meinen eigenen Gefühlen verloren habe.

      Seinen Kollegen im Zentrum hat er von der Trennung erzählt. Nur kurz und ohne Tiefe.

      Ob sie auch vom Geburtstag wissen? Möglich. Stefan ist erst ein knappes Jahr im Nationalpark angestellt und es besteht ein gutes, offenes Verhältnis. Mit einer Ausnahme. Sobald er schon nur an Carlo denkt, wird er wütend. Diese Wut ist immer noch in ihm, wie einst zu Hause. Wie bei Martina.

      Die liebe Martina. Er kennt niemanden, der sie nicht mochte. Wie oft hörte er jemanden über sie sagen: „Sie ist die Ruhe in Person“.

      Abends, wenn er schön längst müde im Bett lag, schrieb sie am Küchentisch noch Geburtstagsbriefe an irgendwelche Leute in der Nachbarschaft. Und er wartete im Doppelbett. Auf sie, auf ihre Nähe. Woche für Woche, Monat für Monat dauerte dieses nicht enden wollende Warten.

      Damals ist diese „Warterei“ für ihn zur größten Herausforderung und zu einer brennenden Sehnsucht geworden. Eine Sehnsucht, die sich mit der Zeit in Wut verwandelte. Fünfundvierzig Minuten, eine Stunde und mehr wartete er auf seine Frau. Oft legte er dann voller Zorn die Bettdecke über die leere Betthälfte, marschierte wütend ins Besucherzimmer und schlief im Gästebett.

      Bevor er talwärts geht, packt er den Feldstecher und das Handy in den Rucksack. Er trinkt einige Schlucke aus der Wasserflasche und wandert nun abwärts über nasse Blumenwiesen. Unterwegs bleibt er nochmals stehen und betrachtet seine Umgebung.

      Heute spottet das Wetter über die übliche Beschreibung dieser Region. Von den Föhrennadeln tropft es unentwegt und leichter Nieselregen breitet sich aus über die Gipfel Richtung Osten. Ein Arvenhäher fliegt von einer Föhre zur anderen. Der Filzhut ist nass, die Brille bedeckt mit Tausend Wassertröpfchen. Regenwasser rinnt vom Hut an der Kordel hinunter zum Hals. Würde er den Hut etwas verschieben, dann bliebe der Hals trocken. Doch solches gilt es auszuhalten, will man unbemerkt bleiben.

      „Der Nationalpark liegt mitten im inneralpinen Trockengebiet der Zentralalpen. Die trockenen Verhältnisse lassen sich nicht nur an den geringen jährlichen Niederschlagsmengen ablesen, sondern auch an den tiefen Werten der relativen Luftfeuchtigkeit.“ Etwa so stellt Stefan den Besuchern die einzigartige Alpenlandschaft in der Einführung vor. Heute allerdings steht er nass und unbeweglich hinter einer Gruppe von Waldkiefern und Föhren und beobachtet den Wanderweg unterhalb seines Standortes.

      Da, ist das nicht wieder diese Frau? Nein, das ist keine Täuschung: dieser geschmeidige Gang, die leichten Wanderstöcke! Ihr Körper und ihr Rucksack sind heute jedoch umhüllt von einer türkisfarbenen Pelerine. Habe ich sie nicht schon zwei-, nein dreimal gesehen? Sie hat einen langen Weg vor sich, weil die Busse im Frühling noch nicht bis hier hinauffahren. Bei diesem Wetter …

      Ich muss sowieso in Scuol einkaufen. Wenn ich jetzt rasch zum Auto gehe, begegne ich ihr unten an der Kreuzung und kann sie mitnehmen. Sie würde gute eineinhalb Stunden schneller im Dorf sein. Falls sie mitfahren will.

      3. Vor 43 Jahren

      „Es ist bald Zeit zum Abendessen, müsst ihr nun wirklich noch raus zum Fischen?“

      „Ja, die Bedingungen sind gut. In zweieinhalb Stunden sind wir wieder zurück“, ruft Rolf seiner Frau zu. „Komm, Stefan!“

      Nachdem der Knabe zögernd vorn im Boot Platz genommen hat, startet Rolf den Motor, und in einem weiten Schlenker verlässt die „Mahagoni“ das Ufer. In den Wellen schaukelnd gleitet das Boot um die Landzunge. Die bekannten Häuser, die Pizzeria, der Kirchturm werden kleiner. Noch erkennt Stefan das Schulhaus, wo er im Pavillon in den Kindergarten geht. Bald nähern sie sich dem bewaldeten Hügel, der steil in den See abfällt. Alles bleibt zurück, was an Zivilisation erinnert. Himmel, Wasser und der Höhenzug bilden im Dämmerlicht eine graugrüne Einheit. Stefan nimmt die rhythmischen Bewegungen des Bootes wahr, ihm wird kühler. Übelkeit kommt hoch, sodass er zum Ausgleich beginnt, die nahen Abhänge am Seerand zu fixieren.

      Nach weniger als einer halben Stunde tummeln sich zwei fette, silbrige Tiere in der mit Wasser gefüllten Kühltasche. Der nächste Fisch an der Angel ist ein kleines Tier. Es windet sich in den Händen von Rolf.

      „Stefan, komm, setz dich vor mich hin!“

      Stefan spürt auf einmal einen festen Griff um seinen Oberkörper. Er bekommt keine Luft mehr. Nicht nur, weil er sich kaum bewegen kann, sondern weil sich das Tier in Rolfs Händen in seinem Munde hin und her bewegt. Je mehr er versucht, sich zu befreien, umso fester wird der Griff und umso wilder werden die Bewegungen.

      „Onkel Rolf, lass mich los, bitte, lass mich los!“, schreit es in ihm.

      Die Zeit setzt aus. Das Boot hebt und senkt sich, Wasser spritzt über die Kleider. An seinen Wangen scheuert ein offener Reißverschluss. Von seinen Lippen tropfen Wasser und Schleim. See und Himmel fließen zusammen und drehen sich. Stefan wird schwarz vor den Augen und er verliert das Bewusstsein.

      Unterdessen ist es kühl geworden und das Boot gleitet über die leichten Wellen dem Hafen zu. Rolf putzt Stefan den Mund. Mit seinem Taschentuch reibt er ihm mit Seewasser das Gesicht ab. Alles stinkt nach Fisch, findet Stefan. Der kleine Fisch ist auf einmal so groß und wild geworden. Warum? Stefan schaudert und grübelt nach: Wenn ich erwachsen bin, möchte ich einen Beruf haben, bei dem ich auf Tiere aufpassen und dafür sorgen kann, dass es ihnen gut geht.

      4. Adrians Heimkehr

      Passkontrolle an der Grenze, das habe ich schon länger nicht mehr erlebt, überlegt Adrian. Er kramt in seiner Ledermappe, die neben ihm auf dem leeren Sitz des ICE-Zuges liegt, und sucht seinen Ausweis. Er konnte eine Bahnverbindung früher als geplant erreichen, somit wird er bald zu Hause sein. Nach einer Woche Abwesenheit freut er sich auf Seraina, auf einen romantischen Abend mit gutem Essen und ihrer Nähe.

      Draußen fliegt die herbstlich bunte Landschaft vorbei. Der Mann in Uniform wirft einen Blick auf den Pass, schaut kurz in sein Gesicht, nickt unmerklich und geht weiter.

      Zwölf Jahre sind sie nun schon verheiratet. Aber sind sie sich wirklich ganz nah gewesen? So nah, wie dies Seelenverwandte beschreiben? Ich bin noch immer verliebt in meine Frau, denkt er. Ist er das? Oder ist es vielmehr ihre Gestalt, die ihn entzückt? Ja, ihr Körper zieht ihn an, doch das lässt sich nicht trennen von ihrer ganzen Persönlichkeit. Ihre Lieblichkeit, diese ausgewählte Andersartigkeit, ihre Direktheit und gleichzeitig diese Distanz zu ihm. Bald wird er sie umarmen, ihre Wangen spüren und ihren Nacken streicheln.

      Nicolina steht auf und streicht die Falten ihrer schicken Hose glatt.